Türkei: Bürgerliche Opposition ernennt Kılıçdaroğlu mitten in der Erdbebenkatastrophe zum Präsidentschaftskandidaten

Zu den türkischen Präsidentschaftswahlen, die mitten in der Erdbebenkatastrophe stattfinden, hat das bürgerliche Oppositionsbündnis „Bündnis der Nation“ (Tisch der Sechs) den Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, zum Kandidaten und Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ernannt.

Kemal Kılıçdaroğlu (Foto: Cumhuriyet Halk Partisi / CC BY 3.0) [Photo by Cumhuriyet Halk Partisi / CC BY 3.0]

Erdoğan erklärte nach einer Kabinettssitzung am Montag, man werde „am Freitag, den 10. März, auf der Grundlage der von der Verfassung gewährten Befugnis über das Datum“ der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen entscheiden. Vorgeschlagen ist bisher der 14. Mai. Erdoğan hat seine Kandidatur bereits angekündigt, obwohl ihm die Verfassung eine dritte Amtszeit untersagt.

Während die bürgerlichen und pseudolinken Parteien versuchen, sich auf den Wahlkampf zu konzentrieren, kämpfen Millionen noch immer mit den katastrophalen Folgen des Erdbebens und den Verwüstungen infolge der Untätigkeit der Regierung. Diese hatte trotz der Warnungen von Wissenschaftlern nichts unternommen, um Sicherheitsvorschriften durchzusetzen.

Seit den verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien am 6. Februar, deren Zentrum die Provinz Kahramanmaras war, ist die offizielle Zahl der Toten in beiden Ländern insgesamt auf 55.000 gestiegen. Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich über 150.000. Diese historische Katastrophe, von der Dutzende Millionen Menschen direkt betroffen sind, verschärft die ausufernde Krise der Lebenshaltungskosten und die zunehmenden Klassenkämpfe in der Türkei und der Welt.

In der Türkei, wo die reale jährliche Inflation schon lange über 100 Prozent liegt und fast 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, haben sich die Klassenspannungen nach der jüngsten Erdbebenkatastrophe verschärft. Alle Fraktionen der herrschenden Klasse sind sich einig, dass eine soziale Explosion um jeden Preis verhindert oder unterdrückt werden muss.

Kılıçdaroğlus Kandidatur erfolgt in diesem Kontext. Zuvor hatte eine politische Krise sein „Bündnis der Nation“ an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Letzte Woche hatten sich die Mitglieder des Sechs-Parteien-Bündnisses, mit Ausnahme der rechtsextremen Guten Partei, darauf geeinigt, den Vorsitzenden der CHP, der größten Partei des Bündnisses, zum Präsidentschaftskandidaten zu ernennen.

Die Vorsitzende der Guten Partei, Meral Akşener, zog sich aus den Verhandlungen zurück und forderte, Ekrem İmamoğlu oder Mansur Yavaş zum Kandidaten zu ernennen. Die beiden hatten sich 2019 bei den Kommunalwahlen in Istanbul bzw. Ankara gegen Kandidaten von Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) durchgesetzt. Damals wurden beide von den wichtigsten pseudolinken Parteien unterstützt. Der CHP-Bürgermeister von Istanbul, İmamoğlu, und der Bürgermeister von Ankara, Yavaş, lehnten den Aufruf von Akşener jedoch ab und unterstützten die Kandidatur von Kılıçdaroğlu.

Nach Verhandlungen hinter verschlossenen Türen wurde eine „Zwischenlösung“ ausgehandelt: İmamoğlu und Yavaş wurden Vizepräsidenten, und die sechs Parteien trafen sich am Montag erneut, wobei auch die Gute Partei anwesend war. Am Montagabend gaben die Parteichefs vor der Zentrale der islamistischen Glückseligkeitspartei in Ankara die Kandidatur von Kılıçdaroğlu und den 12-Punkte-„Fahrplan für den Übergang zu einem gestärkten parlamentarischen System“ bekannt.

Geleakte Berichte deuten darauf hin, dass die Krise um die Kandidatur auf Teile der herrschenden Elite wie die Oligarchen der Baubranche zurückgeht, die sich unter Erdoğans Regierung massiv bereichert haben. Diese verlangten von Akşener als Teil einer möglichen neuen Regierung Zusicherungen.

Letztlich ist die Parteinahme für das „Bündnis der Nation“ ein Ausdruck des Wunschs der USA und der europäischen imperialistischen Mächte sowie mächtiger Teile der türkischen Bourgeoisie, angesichts des Nato-Kriegs gegen Russland und der zunehmenden Klassenkämpfe, Erdoğan durch eine loyalere und leichter zu kontrollierende Regierung zu ersetzen. Die Gute Partei hatte sich nach dem von der Nato unterstützten Putschversuch gegen Erdoğan am 15. Juli 2016 von Erdoğans Verbündetem, der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), abgespalten und sich später mit der CHP verbündet.

In der Vergangenheit hat es immer wieder erhebliche Konflikte zwischen der Erdoğan-Regierung und ihren Verbündeten, der Nato und den USA, gegeben. Während des gescheiterten Putschversuchs von 2016 entluden sich Spannungen, die auf schwerwiegende geopolitische Unstimmigkeiten zurückgingen. Dabei ging es vor allem um Ankaras Bestrebungen, während der letzten zehn Jahre, inmitten der US-Kriegsvorbereitungen gegen Russland, die Beziehungen zu Moskau zu verbessern.

Seither haben sich diese Spannungen nur noch weiter verschärft. Die Erdoğan-Regierung repräsentiert eine Fraktion der türkischen Bourgeoisie, die zwar eng mit dem Imperialismus verbunden ist, aber die Eskalation des Nato-Kriegs gegen Russland nicht vollständig unterstützt. Sie befindet sich in einer anhaltenden Auseinandersetzung mit der Nato, da sie die Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato ablehnt. Beide Länder haben angedeutet, kurdischen Nationalisten begrenzte Unterstützung zukommen zu lassen, während Ankara eine weitere Großoffensive gegen die von den USA unterstützten kurdisch-nationalistischen YPG-Milizen in Syrien vorbereitet.

Bezeichnenderweise erklärte der damalige US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden vor der Wahl 2020 in einem Interview mit der New York Times offen seine Unterstützung für das bürgerliche Oppositionsbündnis gegen Erdoğan. Es ist kein Zufall, dass Kılıçdaroğlu, der offizielle Kandidat des Bündnisses der Nation, in den letzten Monaten in die wichtigsten Nato-Staaten wie die USA, Großbritannien und Deutschland gereist ist und sich dort mit führenden Mitgliedern der politischen Elite und der Finanzelite getroffen hat.

Der „Fahrplan“, den das Bündnis der Nation angekündigt hat, gibt nicht einmal vor, eine Lösung für die fundamentalen demokratischen und sozialen Probleme von Millionen von Arbeitern zu präsentieren. Er konzentriert sich nur darauf, wie die Positionen des bürgerlichen herrschenden Apparats, wie die Vizepräsidentschaft und die Ministerien, aufgeteilt werden können. Und obwohl diese Allianz behauptet, die „Demokratie zu verteidigen“, erhebt sie nicht einmal Einspruch gegen Erdoğans verfassungswidrige dritte Kandidatur.

Das Bündnis der Nation spricht in erster Linie für eine Fraktion der herrschenden Klasse, die sich auf die Nato und die Europäische Union orientiert. Zudem gehören ihr offen rechte Parteien an, so wie bei der rivalisierenden „Volksallianz“ aus AKP und MHP unter der Führung von Erdoğan.

Neben der CHP umfasst die Nationalallianz die rechtsextreme Gute Partei, die sich von der MHP abgespalten hat, die islamistische Glückseligkeitspartei, aus der die AKP hervorgegangen ist, die Zukunftspartei des ehemaligen Premierministers Ahmet Davutoğlu und die DEVA-Partei des ehemaligen Wirtschafts- und Außenministers Ali Babacan, die sich von der AKP abgespalten hat. Das sechste Mitglied des Bündnisses ist die ebenfalls rechte Demokratische Partei.

Die Geschichte der Parteien in diesem Bündnis zeigt sehr deutlich, dass es keine Alternative zu Erdoğans Volksallianz ist, sondern ein Konkurrent, welcher der Arbeiterklasse und den demokratischen Grundrechten genauso feindselig gegenübersteht.

Die pseudolinken Tendenzen in der Türkei spielen eine destruktive Rolle, indem sie dieses rechte, pro-imperialistische Bündnis als progressive Alternative zu Erdoğans reaktionärer Regierung darstellen.

Die kurdisch-nationalistische Demokratische Partei der Völker (HDP), deren sechs Millionen Wähler das Wahlergebnis durchaus beeinflussen könnten, begrüßte die Kandidatur von Kılıçdaroğlu und lud ihn zu einem privaten Treffen ein.

Erkan Baş, der Vorsitzende der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), die dem von der HDP angeführten Wahlbündnis Allianz für Arbeit und Fortschritt angehört und über vier Sitze im Parlament verfügt, postete auf seinem Social-Media-Account: „Ich gratuliere dem Präsidentschaftskandidaten des Bündnisses der Nation, dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, und wünsche ihm viel Erfolg.“ Die Linkspartei, die dem pseudolinken Bündnis Sozialistische Stärke angehört, verhielt sich genauso.

Die türkische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die Sozialistische Gleichheitsgruppe (Sosyalist Eşitlik Grubu), weist den heuchlerischen und reaktionären Betrug zurück, an dem sich die pseudolinken Parteien begeistert beteiligen. Dieses bürgerliche Bündnis, dem neben der CHP, der traditionellen Partei der türkischen Bourgeoisie, offen rechtsextreme und islamistische Parteien angehören, steht den grundlegenden demokratischen und sozialen Bestrebungen der Arbeiterklasse und der Jugend mit der gleichen Feindseligkeit gegenüber wie die Erdoğan-Regierung.

Die Wahlpolitik der Pseudolinken, sich ausschließlich auf die Niederlage Erdoğans zu konzentrieren, dient dazu, die Massen hinter eine andere rechte Fraktion der Bourgeoisie zu lenken und sie vom revolutionären Kampf abzulenken, während gleichzeitig die steigenden Lebenshaltungskosten und die unerträglichen Lebensbedingungen angesichts der Corona-Pandemie und des Nato-Kriegs gegen Russland die Arbeiterklasse weltweit in wachsende Kämpfe treiben.

Die Erdbebenkatastrophe, ein Ereignis von globaler und historischer Bedeutung, hat erneut deutlich gemacht, dass die grundlegenden Probleme der Arbeiterklasse eine dringende, international koordinierte soziale Antwort erfordern. Das bedeutet, dass die Arbeiterklasse einen Frontalangriff auf den Reichtum und die Macht der herrschenden Klasse vorbereiten muss.

Während sich alle pseudolinken Tendenzen in der einen oder anderen Weise an die Bourgeoisie anpassen, orientiert sich die Sozialistische Gleichheitsgruppe auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms auf die Arbeiterklasse. Der Weg vorwärts führt nicht über die Unterstützung der einen oder der anderen rechten Fraktion der Bourgeoisie, sondern in der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von allen Parteien der kapitalistischen Ordnung auf der Grundlage eines antiimperialistischen, gegen den Krieg gerichteten, sozialistischen Programms.

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