Perspektive

Kriegsverbrecherprozess gegen Hashim Thaçi: Die EU und die USA vor Gericht

Vom 24. März bis zum 9. Juni 1999 bombardierte die Nato 77 Tage lang Serbien. Es war der erste große Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg – auch wenn dies heute angesichts des Ukrainekriegs verdrängt und geleugnet wird.

Die Kriegspropaganda lief damals auf Hochtouren: Die Nato lege serbische Städte in Schutt und Asche, um „Menschenrechte“ zu verteidigen und „ethnische Säuberungen“ zu stoppen, die Serbien im Kosovo verübe. Grüne, Liberale und Pseudolinke, die noch wenige Wochen zuvor den Pazifismus beschworen hatten, griffen diese Propaganda begierig auf und wechselten mit fliegenden Fahnen ins Kriegslager. In Deutschland organisierten die Grünen und Sozialdemokraten den ersten militärischen Kampfeinsatz seit Hitlers Niederlage 1945.

Hashim Thaçi im Februar 2020 mit US-Außenminster Michael R. Pompeo [Photo: US State Department / Freddie Everett]

Nun steht der Mann, der der Nato damals als Kronzeuge, Freiheitsheld und Waffenbruder diente, als Kriegsverbrecher vor einem Sondergericht. Am Montag begann in Den Haag der Prozess gegen Hashim Thaçi, den Mitbegründer und Sprecher der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) und späteren kosovarischen Außenminister, Regierungschef und Präsidenten.

Die 70-seitige Anklageschrift beschuldigt Thaçi und drei weitere hochrangige Mitglieder der UÇK – Kadri Veseli, Rexhep Selimi und Jakup Krasniqi –, in den Jahren 1998 und 1999 für mehr als hundert Morde sowie zahlreiche weitere Kriegsverbrechen verantwortlich zu sein. Alle vier Angeklagten hätten persönlich an der Bedrohung oder Misshandlung Gefangener teilgenommen. Die Anklage hat Thaçis Verteidigern 56.000 Dokumente übergeben, die diese Vorwürfe belegen.

Die Anklageschrift schildert detailliert, mit welcher Brutalität die UÇK gegen Serben, Roma und andere Nicht-Albaner vorging. Auch Kosovoalbaner, die ihre Politik ablehnten und Thaçis Rivalen Ibrahim Rugova unterstützten, der für eine friedliche Lösung des Konflikts mit Serbien eintrat, wurden gnadenlos verfolgt. Die UÇK betrieb zahlreiche Gefangenenlager, in denen mehrere hundert Insassen festgehalten und laut Zeugenaussagen mit Folter, Scheinexekutionen und Todesdrohungen misshandelt wurden.

Die Opfer wurden mit Gewehren, Baseballschlägern, Metallwerkzeugen und Holzstöcken geschlagen, durch Elektroschocks oder vorgetäuschtes Ertrinken gequält. Andere Häftlinge und Familienangehörige mussten die Folter mit ansehen oder wurden gezwungen, sich gegenseitig zu misshandeln. Andere wurden reihenweise erschossen.

Das Morden ging auch dann noch weiter, als die Nato die Abspaltung des Kosovo von Serbien erzwungen und ihre 50.000 Mann starke Kfor-Truppe dort stationiert hatte. Die UÇK rächte sich an Serben, Roma und Rugova-Anhängern, von denen Dutzende ermordet wurden. Thaçi, Kriegsname „die Schlange“, galt als ihr starker Mann.

Der Thaçi-Prozess ist ein Lehrstück über imperialistische Kriegspropaganda, die vor keiner Lüge zurückschreckt, um ihre räuberischen und verbrecherischen Ziele zu bemänteln. Das gilt nicht nur für den damaligen Jugoslawienkrieg, sondern auch für den heutigen Krieg in der Ukraine.

Auch hier werden Verbrecher als Freiheitshelden gefeiert, die, wie die Mitglieder des Asow-Bataillons, Nazi-Insignien tragen und in der Ostukraine acht Jahre lang alles verfolgten, was russisch sprach oder Sympathien für Russland hegte. Auch hier werden Politiker, die an den Fäden von Oligarchen und westlichen Marionettenspielern hängen oder – wie Präsident Selenskyj – zehntausende junger Soldaten skrupellos für die Ziele der Nato verheizen, als Demokraten und Freiheitshelden verherrlicht.

Oder die Vorzeichen werden einfach umgedreht. So vergeht seit neun Jahren kein Tag, an dem die Medien nicht verkünden, die Annexion der Krim durch Russland sei ein Eingriff in die territoriale Integrität der Ukraine, der völkerrechtlich inakzeptabel und historisch ohne Beispiel sei. Doch das unmittelbare Ziel des Nato-Kriegs von 1999 bestand darin, das Kosovo abzuspalten, das völkerrechtlich unbestreitbar Bestandteil des serbischen Staatsgebiets war. Es wurde nach dem Krieg unter internationale Verwaltung gestellt und verkündete 2008 gegen den erklärten Willen Serbiens seine staatliche Unabhängigkeit, die von den USA und den meisten europäischen Staaten umgehend anerkannt wurde.

Mit der Abtrennung des Kosovo, einer bettelarmen Provinz mit 1,8 Millionen Einwohnern, vollendeten die imperialistischen Mächte die Aufspaltung Jugoslawiens in sieben ohnmächtige Kleinstaaten, die vollständig von ihnen abhängig sind. Vor allem Serbien, das politisch und kulturell traditionell mit Russland verbunden ist, sollte damit isoliert und geschwächt werden.

Hashim Thaçi spielte in diesem kriminellen Unterfangen eine Schlüsselrolle. 1999 luden Madeleine Albright und Joschka Fischer, die Außenminister der USA und Deutschlands, den Sprecher der UÇK zur Konferenz von Rambouillet ein, wo er der Nato das Alibi für die Bombardierung Jugoslawiens lieferte.

Dabei war schon damals bekannt, dass Thaçis UÇK Terroranschläge gegen serbische Ziele und politische Gegner verübte und sich durch kriminelle Geschäfte wie Drogen-, Frauen- und Organhandel finanzierte. Der US-Geheimdienst CIA hatte die UÇK sogar als Terrororganisation eingestuft, bevor die Nato ihre Dienste in Anspruch nahm und sie zur „Befreiungsbewegung“ umdeklarierte.

Nachdem die Nato die Abtrennung des Kosovo erzwungen hatte, stützte sie sich auf Thaçi und die UÇK, um dort für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Nach der Unabhängigkeit wurde Thaçi Außenminister, Premier und schließlich Präsident des neuen Landes und errichtete ein korruptes und kriminelles Oligarchenregime. Trotzdem wurde er von seinen europäischen und amerikanischen Betreuern als Demokrat verherrlicht. Joe Biden, damals noch Vizepräsident der USA, bezeichnete ihn sogar als „George Washington des Kosovo“.

Während viele serbische Politiker verhaftet und vor das Haager Kriegsverbrechertribunal geschleppt wurden, standen Thaçi und die UÇK-Führer unter amerikanischem und europäischem Schutz. Im Kosovo selbst verbreiteten sie ein Klima der Angst.

„Fast niemand wagte es, gegen UÇK-Veteranen auszusagen,“ beschrieb die Frankfurter Allgemeine die Lage im Kosovo nach dem Jugoslawienkrieg. „Und wer das Risiko doch einging, dem konnte das schlecht bekommen: Unerklärliche Autounfälle mit tödlichem Ausgang, ‚Selbstmorde‘ und Heckenschützenüberfälle konnten die Folge sein.“

Auch die Chefanklägerin des Haager Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawen, Carla Del Ponte, berichtet in ihren 2009 erschienenen Memoiren von Einschüchterung und Terror: „Zeugen waren so ängstlich und eingeschüchtert, dass sie sich sogar davor fürchteten, auch nur über die Präsenz der UÇK in einigen Gegenden zu sprechen, ganz zu schweigen von tatsächlichen Verbrechen.“

Wer trotzdem sprach, begab sich in Lebensgefahr und musste samt Familie in andere Länder gebracht werden, berichtet Del Ponte. Selbst Mitglieder der Kfor-Truppe und einige Richter des Haager Tribunals hätten Angst vor Anschlägen gehabt.

Die Lage änderte sich erst, als der Schweizer Jurist Dick Marty 2011 einen umfangreichen Bericht über Verbrechen der UÇK vorlegte. Marty tat dies im Auftrag des Europarats, dem 47 Staaten angehören und der unabhängig von der Europäischen Union ist.

Die EU setzte daraufhin einen eigenen Sonderermittler ein. Sie wählte den US-Juristen John Clint Williamson, der als „glaubwürdig“ galt, weil er die Anklageschrift gegen den Serben-Führer Slobodan Milošević mitverfasst hatte. Williamson gelangte nach über zwei Jahren zum Schluss, dass Martys Anschuldigungen solide belegt seien.

Nun sah sich die EU gezwungen, ein Sondergericht in Den Haag einzurichten, das zwar formal Teil des kosovarischen Justizsystems, aber mit ausländischen Richtern und Anklägern besetzt ist und aus europäischen Mitteln finanziert wird.

Das Sondergericht ermittelte über fünf Jahre lang, ohne dass es zu einer Anklage kam. Vermutlich wäre die ganze Sache im Sand verlaufen, wenn es nicht zu Konflikten zwischen den USA und der EU gekommen wäre.

Richard Grenell, der 2019 von US-Präsident Donald Trump zum Sondergesandten für die Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo ernannt wurde, arbeitete eng mit Präsident Thaçi zusammen, während sich die EU auf dessen Rivalen, Regierungschef Albin Kurti, stützte. Als Thaçi im Juni 2020 zu einem Gipfeltreffen mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić im Weißen Haus in Washington aufbrechen wollte, veröffentlichte das Sondergericht die Anklageschrift. Thaçi musste die Reise absagen und zurücktreten.

Dass der Prozess zweieinhalb Jahre nach der Veröffentlichung der Anklageschrift schließlich eröffnet wurde, bedeutet keineswegs, dass Thaçi schließlich auch verurteilt wird. Laut Aussage des Vorsitzenden Richters soll der Prozess mehrere Jahre dauern, die Angeklagten werden von hochkarätigen US-Kanzleien verteidigt und mehrere Prominente – darunter der Nato-Oberbefehlshaber im Jugoslawienkrieg Wesley Clark und der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner – sollen zugunsten Thaçis als Zeugen aussagen.

Doch selbst Thaçis Anwälte bestreiten nicht, dass die in der Anklageschrift geschilderten Verbrechen stattgefunden haben. Sie verfolgen eine Verteidigungsstrategie, die man aus den Nürnberger Prozessen gegen die Nazi-Kriegsverbrecher kennt: Einheiten der UÇK hätten zwar Verbrechen begangen, aber Thaçi – Gründungsmitglied, Kommandeur und offizieller Sprecher der UÇK – habe davon nichts gewusst!

Auf jeden Fall hat der Prozess gegen Thaçi schon jetzt die Lügen zertrümmert, mit denen der Jugoslawienkrieg gerechtfertigt wurde. Die WSWS hatte diese „plumpe und zynische Propagandakampagne“ schon damals kategorisch zurückgewiesen, die wirklichen Gründe für den Krieg aufgezeigt und für den Aufbau einer Antikriegsbewegung der internationalen Arbeiterklasse geworben, die sich auf ein sozialistisches Programm stützt.

So schrieb die Redaktion der WSWS am 26. Mai 1999 im Artikel „Weltmacht, Öl und Gold“[1], der die Ursachen und Hintergründe des Kriegs einer ausführlichen Analyse unterzog:

Was bleibt übrig, wenn man die verlogenen Behauptungen der NATO und die Fälschungen der Medien durchschaut hat? Ein nackter Angriffskrieg gegen eine kleine Föderation durch mächtige imperialistische Länder, deren offizielle Rechtfertigungen nur der Täuschung dienen.

Der Artikel stellte den Jugoslawienkrieg in Zusammenhang mit den Plänen der USA, die eurasische Landmasse zu beherrschen, und warnte: „Die Möglichkeit eines Konflikts mit Russland, soviel ist klar, hat in den vergangenen zehn Jahren zugenommen.“ Eine Warnung, die sich seither dramatisch bewahrheitet hat.

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