Perspektive

Politische Lehren aus den türkischen Präsidentschaftswahlen 2023

Die Wiederwahl des islamistischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in einer Stichwahl gegen Kemal Kılıçdaroğlu ist für die Arbeiterklasse eine politische Erfahrung von internationaler Bedeutung. Es ist eine verheerende Entlarvung all jener pseudolinken politischen Organisationen, die Kılıçdaroğlu als vermeintlich 'linken' oder 'demokratischen' Kandidaten gegen Erdoğan unterstützt haben.

Das Wahlergebnis bestätigt die Analyse der Sosyalist Eşitlik Grubu (SEG), der türkischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI). Nur eine Bewegung der Arbeiterklasse, die sowohl von Erdoğan als auch von Kılıçdaroğlu und ihren kleinbürgerlichen Unterstützern unabhängig ist, kann die Angriffe auf die sozialen Bedingungen und die demokratischen Rechte der Arbeiter stoppen und sich dem Krieg der Nato und Russlands in der Ukraine entgegenstellen.

Erdoğan, der unter Verletzung der Verfassung für eine dritte Amtszeit kandidierte, griff auf Medienzensur, polizeistaatliche Repressionen und den illegalen Einsatz staatlicher Mittel zurück, um die Wahl zu gewinnen. Diese Fakten allein erklären jedoch das Wahlergebnis nicht.

Erdoğan trat zu den Wahlen unter sehr ungünstigen politischen Bedingungen an. Die Reaktion seiner Regierung auf die Pandemie führte zu fast 300.000 überzähligen Todesfällen. Er überwachte einen massiven Vermögenstransfer von den Arbeitern hin zur herrschenden Klasse und sorgte für Rekordgewinne im türkischen Bankensektor. Die Krise der steigenden Lebenshaltungskosten löste in der Türkei ab 2022 eine Welle nicht gewerkschaftlich organisierter Streiks aus, die mit einem Aufschwung des Klassenkampfes in ganz Europa und international einherging.

Die historische Erdbebenkatastrophe im Februar entlarvte ihn noch mehr. Sie verursachte mindestens 50.000 vermeidbare Todesfälle in der Türkei aufgrund baufälliger Infrastruktur. Einige haben davor gewarnt, dass die tatsächliche Zahl der Opfer bis zu 150.000 betragen könnte.

Dass Erdoğan die Wahlen dennoch gewinnen konnte, ist dem politischen Bankrott der bürgerlichen Opposition unter Führung von Kılıçdaroğlu und vor allem der kurdisch-nationalistischen HDP sowie den pseudolinken Parteien zu verdanken, die sich hinter ihn gestellt haben.

In der Türkei, wo die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den US-Nato-Krieg in der Ukraine ablehnt, trat Kılıçdaroğlu als Kandidat an, der ausdrücklich die Nato unterstützt. In Interviews mit westlichen Medien versprach er, Ankara stärker in den Krieg der Nato gegen Russland einzubeziehen, und beschuldigte dann – ohne dafür irgendwelche Beweise vorzulegen – die russische Regierung, sich in die türkischen Wahlen einzumischen.

Kılıçdaroğlu stand der entstehenden Bewegung in der Arbeiterklasse gegen Erdoğan feindlich gegenüber. Er versprach engere Beziehungen zu den internationalen Finanzmärkten und den türkischen Wirtschaftsverbänden und bot der Arbeiterklasse nichts als Sparpolitik an.

Vor allem vor der zweiten Runde appellierte Kılıçdaroğlu zudem an faschistische Kräfte. Unter anderem veröffentlichte er Videos, in denen er Flüchtlinge offen als potenzielle Vergewaltiger und Kriminelle denunzierte. Er schloss ein Wahlbündnis mit einer rechtsextremen Partei, die versprochen hatte, Millionen von syrischen, afghanischen und irakischen Flüchtlingen abzuschieben, die vor den imperialistischen Kriegen in ihren Heimatländern fliehen. Er versprach auch, die Angriffe auf Kurden und ihre gewählten Politiker zu verstärken, angeblich um „den Terrorismus zu bekämpfen“.

Kılıçdaroğlu musste eine demütigende Niederlage einstecken. Erdoğan lag in den Umfragen stets in Führung und wurde schließlich mit 52 Prozent der Stimmen wiedergewählt - sein bisher knappster Sieg.

Dieses Ergebnis der türkischen Präsidentschaftswahlen bestätigt erneut – im negativen Sinne – Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Diese Theorie besagt, dass die Bourgeoisie in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung wie der Türkei nicht in der Lage ist, ein demokratisches Regime zu errichten, die Bevölkerung über ethnische Grenzen hinweg zu vereinen oder den Einfluss des Imperialismus zurückzudrängen. Diese demokratischen Aufgaben obliegen der Arbeiterklasse, die auf der Grundlage eines sozialistischen und internationalistischen Programms für die Machtübernahme kämpfen muss.

Nicht nur die kurdisch-nationalistische HDP, sondern auch die zahlreichen stalinistischen und pablistischen Strömungen unter den türkischen Pseudolinken lehnten dieses strategische Verständnis ab, das der Oktoberrevolution 1917 in Russland unter Führung von Wladimir Lenin und Leo Trotzki zugrunde lag. Die HDP und die pseudolinken Gruppen reagierten auf die zunehmende Radikalisierung und Aktivität der Arbeiterklasse und der Jugend mit einem scharfen Rechtsruck.

Diese Parteien, darunter die stalinistische Arbeiterpartei der Türkei (TİP), die 1 Million Stimmen und vier Parlamentssitze gewann, entlarvten sich selbst, indem sie Kılıçdaroğlus schmutzige Kampagne voll unterstützten. In ihren Slogans wurde Kılıçdaroğlu als 'Gegner des Faschismus' und 'Verteidiger der Demokratie' gegen Erdoğan gefeiert. Bei dieser Kampagne erhielten sie die begeisterte Unterstützung ähnlicher pseudolinker Parteien auf internationaler Ebene, wie der Democratic Socialists of America (DSA), der Linkspartei und auch den Grünen in Deutschland.

In Wirklichkeit warben jedoch alle diese Parteien für einen rechten, pro-imperialistischen Kandidaten, der offen mit faschistischen Kräften verbündet war. Diese Organisationen, die keine linken Parteien der Arbeiterklasse sind, sondern pseudolinke Parteien der wohlhabenden Mittelschicht, die mit dem Imperialismus verbündet sind, wurden in historischem Umfang entlarvt.

Sie dienen nicht dem Aufbau, sondern der Blockierung einer echten revolutionären und sozialistischen, d.h. trotzkistischen Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse, die sich gegen die Bourgeoisie und das kapitalistische System richtet. Sie riefen Arbeiter und Jugendliche dazu auf, trotz des wachsenden Widerstands in der Arbeiterklasse einen der beiden pro-imperialistischen, rechten Kandidaten zu unterstützen.

Im Jahr 2015 hat David North, der Vorsitzende der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, die folgende Arbeitsdefinition der Pseudolinken als internationales Phänomen vorgelegt:

Der Begriff „Pseudolinke“ bezeichnet politische Parteien, Organisationen und theoretische/ideologische Tendenzen, die populistische Parolen und demokratische Phrasen benutzen, um die sozioökonomischen Interessen privilegierter und wohlhabender Schichten der Mittelklasse zu fördern. […] Die Pseudolinke ist antimarxistisch. Sie lehnt den historischen Materialismus ab […] Die Pseudolinke ist antisozialistisch. Sie lehnt den Klassenkampf ab und leugnet die zentrale Rolle der Arbeiterklasse ebenso wie die Notwendigkeit einer Revolution für die fortschrittliche Umgestaltung der Gesellschaft. Sie stellt der unabhängigen politischen Organisation und Massenmobilisierung der Arbeiterklasse gegen das kapitalistische System einen klassenneutralen Populismus entgegen. Das Wirtschaftsprogramm der Pseudolinken ist im Wesentlichen prokapitalistisch und nationalistisch.

North erklärte auch, dass die Pseudolinke, die für verschiedene Formen der „Identitätspolitik“ eintritt und eine günstigere Aufteilung des Wohlstands unter den reichsten 10 Prozent der Bevölkerung anstrebt, im Allgemeinen pro-imperialistisch ist.

Die türkischen pseudolinken Gruppen reagieren nun auf die Wahl von Erdoğan mit einem weiteren Rechtsruck. Die politischen Strömungen, die hinter Kılıçdaroğlu stehen, haben erklärt, dass die Arbeiter, die für Erdoğan gestimmt haben, „unverbesserlich“ seien, und versprochen, sich an die „48 Prozent“ zu wenden, die für Kılıçdaroğlu gestimmt haben.

Die SEG weist diese Charakterisierung entschieden zurück. Die Darstellung leugnet den objektiv revolutionären Charakter der Arbeiterklasse und denunziert die Arbeiter als reaktionär, nachdem sie sich geweigert haben, für einen Kandidaten zu stimmen, der in faschistischer Manier an Fremdenfeindlichkeit und antikurdischen Hass appellierte.

Die Wahlen 2023 in der Türkei haben die politische Perspektive der SEG bestätigt. Die SEG lehnte sowohl Erdoğan als auch Kılıçdaroğlu vom Standpunkt der internationalen Arbeiterklasse und des Kampfs für den Sozialismus und gegen den imperialistischen Krieg ab. Sie wies die nationalistische Propaganda der beiden bürgerlichen Kandidaten gegen Flüchtlinge und die kurdische Minderheit in der Türkei zurück und stellte sich unversöhnlich gegen die verschiedenen kleinbürgerlichen nationalistischen, stalinistischen und pablistischen Tendenzen, die zur Unterstützung von Kılıçdaroğlu aufriefen. In ihrem Wahlstatement erklärte die SEG:

Sie [die SEG] interveniert jedoch auf der Grundlage der immensen historischen Erfahrung der internationalen trotzkistischen Bewegung in diesen Wahlen, um den bewusstesten Arbeitern und Jugendlichen die politischen Fragen zu erläutern. Sie kämpft für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von allen Parteien der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums, stellt ein internationales, sozialistisches Programm vor und erklärt, was nicht nur am Wahltag, sondern auch danach zu tun sei.

In ihrem Programm, das auch Übergangsforderungen zur Verteidigung grundlegender demokratischer und sozialer Rechte enthielt, erklärte die SEG, dass der Konflikt, der die Arbeiter überall in wachsendem Maße gegen den kapitalistischen Staat aufbringt, nicht durch eine „Reform“ der Staatsmacht gelöst werden kann, sondern nur durch die Übergang der Macht auf die Arbeiterklasse durch eine sozialistische Revolution.

Aus dieser strategischen Erfahrung müssen Lehren gezogen werden. Die Wahl hat keine der entscheidenden Fragen gelöst, mit denen die Arbeiterklasse bei dieser Wahl konfrontiert war. Der Krieg der Nato gegen Russland eskaliert immer weiter und die Regierung bereitet sich darauf vor, im Interesse der Unternehmens- und Finanzelite inmitten einer sich verschärfenden internationalen Finanzkrise eine brutale soziale Sparpolitik durchzusetzen. Eher früher als später wird Erdoğan mit einer explosiven Oppositionsbewegung in der Arbeiterklasse konfrontiert werden.

Die wichtigste Lehre aus den Wahlen 2023 in der Türkei besteht darin, dass die Arbeiterklasse ihre eigene revolutionäre Führung braucht, um gegen Kapitalismus, Polizeistaat, Austerität und Krieg zu kämpfen. Der Verlauf der Wahl hat gezeigt, dass die SEG die einzige politische Tendenz ist, die in der Lage ist, eine solche Führung in der Türkei aufzubauen. Arbeiter und Jugendliche, die die Sackgasse der Pseudolinken ablehnen und für den internationalen Sozialismus kämpfen wollen, müssen sich am Aufbau der Sosyalist Eşitlik Partisi als türkische Sektion des IKVI beteiligen.

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