Perspektive

Nato-Gipfel in Vilnius: Kriegsverschwörung am Schauplatz eines historischen Verbrechens

Am 11.-12. Juli treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedsstaaten in der litauischen Hauptstadt Vilnius, nur wenige hundert Kilometer vom Schlachtfeld des Krieges in der Ukraine entfernt, der bereits Hunderttausende von Menschenleben gefordert hat.

An Anklagen gegen die russische Brutalität wird es nicht mangeln. Zweifellos wird man insbesondere der litauischen Regierung für ihre Bemühungen danken, sich an die Spitze des Nato-Kriegs zu stellen oder, wie es vielmehr in den Leitmeiden heißt, den Kampf zur Verteidigung der „Demokratie“ anzuführen.

US-Präsident Joe Biden, der gerade die Lieferung von Streubomben an die Ukraine genehmigt hat, eine der brutalsten und kriminellsten Waffen der modernen Kriegsführung, wird die Unmenschlichkeit von Wladimir Putin anprangern. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz wird für den Krieg werben. Seine Regierung betreibt derzeit die größte Aufrüstung seit Hitler und stationiert demnächst 4.000 deutsche Soldaten in Litauen – damit kehrt das deutsche Militär an den Schauplatz einiger der schlimmsten Verbrechen des deutschen Imperialismus zurück.

Worüber nicht gesprochen wird, ist die Geschichte der Stadt, in der sie sich treffen: Vilnius, einst bekannt als „Jerusalem Europas“, war Schauplatz einiger der größten und barbarischsten Massaker in der von den Nazis betriebenen Vernichtung des europäischen Judentums. Mit der Ermordung von 95 Prozent der rund 210.000 Menschen zählenden jüdischen Bevölkerung in der Vorkriegszeit verzeichnete Litauen eine höhere Todesrate als fast jedes andere Land in Europa. Litauische Nationalisten gehören zu den Hauptverantwortlichen für dieses historische Verbrechen.

Mitglieder der litauischen Sicherheitspolizei beim Brand einer litauischen Synagoge im Jahr 1941

Ähnlich wie die ukrainische Bourgeoisie verband die litauische Bourgeoisie historisch eine Tradition des erbitterten Antikommunismus mit einem widerwärtigen Antisemitismus. Nach der sowjetischen Besetzung Litauens im Jahr 1940 flohen rechtsextreme Nationalisten und Generäle nach Deutschland, wo sie in direkter Zusammenarbeit mit dem NS-Regime die Litauische Aktivistenfront (LAF) gründeten.

Fast zeitgleich mit den Pogromen, die damals von den Nazis und der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) in der Westukraine initiiert wurden, begannen die LAF und die deutschen Besatzer in Litauen eine Orgie des Massenmordes. Innerhalb von knapp drei Jahren wurde eine 800 Jahre alte Gemeinschaft, die eine zentrale Rolle in der Entwicklung der jüdischen Kultur und der Weltkultur spielte, fast vollständig ausgelöscht.

Von den rund 210.000 Juden, die vor dem Einmarsch der Nazis am 22. Juni 1941 in Litauen lebten, wurden bis Kriegsende 1945 insgesamt 195.000 ermordet. Die überwiegende Mehrheit war bereits Ende 1941 tot.

Das schrecklichste Merkmal des Holocaust in Litauen war die offene und schamlose Beteiligung erheblicher Teile der Bevölkerung an der Verfolgung, Folterung und Ermordung der Juden. Die Historikerin Masha Greenbaum hat einen erschütternden Bericht über die mörderische Raserei vorgelegt, die in den Tagen vor und unmittelbar nach dem Einmarsch der Nazis über das Land hereinbrach.

Der Einmarsch der Nazis in Litauen, das 1940 von der Sowjetunion annektiert worden war, wurde von den nationalistischen, antikommunistischen und heftig antisemitischen Kräften begeistert begrüßt. Zu den führenden Persönlichkeiten gehörte der litauische Botschafter in Berlin, Oberst Kazys Škirpa, der als glühender Verehrer Adolf Hitlers bekannt war. Im Vorfeld des deutschen Einmarsches leitete Škirpa ein umfangreiches Netzwerk litauischer Faschisten. Greenbaum schreibt in The Jews of Lithuania: A History of a Remarkable Community 1316-1945:

Diese Zellen von litauischen Faschisten, Nazi-Sympathisanten und litauischen Nationalisten waren wichtige Bestandteile der Lietuvos Aktyvistu Frontas (LAF), der größten und am besten organisierten der nationalistischen Gruppen. Aber es gab noch viele andere Gruppierungen, wie die Eisernen Wölfe, die Litauische Freiheitsarmee, die Falken und die Litauische Restaurationsfront. Sie drangen in die Universitäten, den öffentlichen Dienst, die Zünfte und sogar in die Gymnasien ein. Litauischen Quellen zufolge erreichte die Zahl der Mitglieder dieser klandestinen Gruppen und antisowjetischen Einheiten 100.000.

Drei Tage vor dem Einmarsch gab Škirpa, der in ständigem Kontakt mit der NS-Gestapo und der Wehrmacht stand, das Flugblatt Nr. 37 zur Massenverteilung in ganz Litauen heraus. Es war ein unverhohlener Aufruf zur vollständigen Vernichtung des litauischen Judentums. Darin heißt es:

Der entscheidende Tag der Abrechnung ist für die Juden endlich gekommen. Litauen muss nicht nur von der asiatisch-bolschewistischen Sklaverei befreit werden, sondern auch von dem seit langem bestehenden jüdischen Joch.

Im Namen des litauischen Volkes erklären wir feierlich, dass das alte Recht auf Zuflucht, das den Juden in Litauen von Vytautas dem Großen gewährt wurde, für immer und ohne Vorbehalt abgeschafft ist.

Juden, die sich der Verfolgung von Litauern schuldig gemacht haben, werden vor Gericht gestellt. Diejenigen, denen die Flucht gelingt, werden gefunden. Es ist die Pflicht aller ehrlichen Litauer, von sich aus Maßnahmen zu ergreifen, um solche Juden zu stoppen und sie gegebenenfalls zu bestrafen. Der neue litauische Staat wird nur von Litauern wieder aufgebaut werden. Alle Juden werden für immer aus Litauen ausgeschlossen. ... Die Juden sollen das unwiderrufliche Urteil kennen, das über sie verhängt wurde: Kein einziger Jude soll das Bürgerrecht haben. Die Irrtümer der Vergangenheit und die von den Juden begangenen Übel werden berichtigt, und es wird ein festes Fundament für eine glückliche Zukunft und das schöpferische Werk unserer arischen Nation gelegt. Bereiten wir uns auf die Befreiung Litauens und die Läuterung der Nation vor.

Diese Hetzrede löste ein Fanal mörderischer Gewalt aus. Wir warnen unsere Leser: Es ist schwierig, Greenbaums Bericht über die ungeheuerlichen Verbrechen zu lesen, die der von den nationalistischen Antisemiten und Antikommunisten aufgepeitschte litauische Mob an den Juden verübte. Greenbaum schreibt:

Am 25. Juni begannen litauische Partisanen, die sich selbst als Freiheitskämpfer bezeichneten, einen dreitägigen Amoklauf gegen Juden in kleineren Städten und Dörfern, bei dem die gesamte Bevölkerung von über 150 jüdischen Gemeinden ums Leben kam. Einige Juden wurden aus ihren Häusern vertrieben und bei lebendigem Leib verbrannt, nachdem sie brutal zusammengeschlagen und in Synagogen, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen getrieben worden waren, die dann in Brand gesteckt wurden. In anderen Fällen wurden ganze jüdische Familien in nahe gelegene Wälder oder Flussbette getrieben, wo Gruben oder Schützengräben vorbereitet worden waren, und dann erschossen. In mehreren Orten wie Reiniai und Geruliai in der Region Telsiai, in Meretz (Merkine), Plungian (Plunge), Sakiai (Shaki) und Kelm (Kelme) wurden die Juden gezwungen, ihre eigenen Gräber auszuheben. Praktisch alle Juden in Ukmerge wurden in die Synagoge getrieben und bei lebendigem Leib verbrannt. In Seirijai wurden die Juden nackt durch die Straßen geschleift und dann vor den Augen einer jubelnden Menge brutal ermordet. In Panevezys wurden Juden, darunter mehrere junge Frauen, die vergewaltigt worden waren, in brennenden Kalk geworfen.

Allein in Kowno ermordeten litauische Partisanen in den zwei Tagen zwischen dem Einmarsch und der Ankunft der deutschen Truppen in der Stadt fast 4.000 Juden. Eine besonders brutale Gräueltat fand später in der Garage der Genossenschaft Lietukis in der Innenstadt von Kowno statt. Etwa 60 jüdische Männer, die von den Partisanen willkürlich auf der Straße ausgewählt worden waren, wurden in die Garage gebracht und unter den Augen einer großen Menschenmenge brutal geschlagen und gefoltert. Während die Juden verwundet und stöhnend auf dem Boden lagen, schlugen ihre Peiniger zur Belustigung der Menge so lange gnadenlos auf sie ein, bis sie starben. Eine weitere Gruppe von Juden wurde hinzugezogen, um die Garage zu säubern und die Opfer zur Beerdigung abzutransportieren.

In Slobodka (Wilijampole) gingen die Partisanen von Haus zu Haus und suchten nach Juden. Ihre Opfer wurden in den Fluss Vilija geworfen: Diejenigen, die nicht ertranken, wurden beim Schwimmen erschossen. Jüdische Häuser wurden in Brand gesteckt und ihre Bewohner bei lebendigem Leib verbrannt, während Partisanen den anrückenden Feuerwehrleuten den Weg versperrten. Schlägerbanden, die sich als Freiheitskämpfer bezeichneten, schlachteten wahllos Juden ab. In vielen Fällen wurden Gliedmaßen von den Körpern abgerissen und in alle Richtungen verstreut.

Am 25. Juni enthaupteten Partisanen den Oberrabbiner von Slobodka, Zalman Ossovsky, und hängten den abgetrennten Kopf in das Fenster seines Hauses. Sein kopfloser Körper wurde in einem anderen Raum entdeckt, neben einem aufgeschlagenen Talmud, den er studiert hatte.

Die meisten dieser 150 Orte wurden 24 Stunden vor dem Eintreffen der deutschen Besatzungstruppen als „judenrein“ erklärt. Dies gab der lokalen Bevölkerung eine kurze Gelegenheit, sich auf die Häuser und Geschäfte ihrer ehemaligen jüdischen Nachbarn zu stürzen und diese zu plündern und auszurauben. Viele der Morde und Plünderungen fanden am helllichten Tag statt und wurden von zustimmenden, oft jubelnden Zeugen beobachtet. Wenn sie die Messe in der Kirche besuchten, lobten die Priester diese „Freiheitskämpfer“ für ihren Mut und Patriotismus.

Die Gräueltaten der letzten Juniwoche 1941 dauerten bis zum Ende des Krieges an. Die Juden waren die ersten, aber nicht die einzigen Opfer. Der berüchtigtste Ort für Massenmorde in Litauen war der Ponary-Wald in den Außenbezirken von Vilnius. Schätzungen zufolge wurden hier zwischen 1941 und 1944 bis zu 100.000 Menschen, darunter etwa 70.000 Juden, 20.000 Polen und 8.000 sowjetische Kriegsgefangene, von deutschen SS-Einsatzgruppen und ihren litauischen Kollaborateuren ermordet. Die meisten Morde wurden von einer 80 Mann starken Einheit der Ypatingasis būrys, in der SS organisierten litauischen Freiwilligen, begangen. Das Gemetzel wurde erst durch den Vormarsch der sowjetischen Roten Armee beendet.

Nach dem Krieg setzten viele der schlimmsten Nazi-Kollaborateure und Komplizen des Massenmords ihr Leben unbehelligt fort. Kazys Škirpa, der Gründer des LAF, arbeitete am Trinity College in Dublin und an der US Library of Congress. Er starb in Washington D.C. am 18. August 1979 im Alter von 84 Jahren.

Aleksandras Lileikis, der Leiter der litauischen Sicherheitspolizei in Vilnius, einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung der jüdischen Gemeinde von Vilnius, fand eine Anstellung bei der CIA und erhielt die Erlaubnis, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Er ließ sich in Massachusetts nieder und erwarb die amerikanische Staatsbürgerschaft. Erst 1994 führten die lange verzögerten Ermittlungen über seine Verbrechen zu seiner Ausbürgerung. Er kehrte nach Litauen zurück und das Land konnte sich den Forderungen nach einer Anklage wegen Völkermordes nicht entziehen. Doch Lileikis starb im September 2000 im Alter von 93 Jahren, bevor ein Urteil gefällt war.

Nach der Auflösung der Sowjetunion förderte die neue litauische Bourgeoisie die Rehabilitierung ihrer Vorfahren, die mit den Nazis kollaboriert hatten. Während die Regierung und die großen Parteien aus Gründen der politischen Opportunität gelegentlich formelle und nüchterne offizielle Erklärungen des Bedauerns über die Ausrottung des litauischen Judentums abgaben, verharmlosten und vertuschten sie das Ausmaß der zwischen 1941 und 1945 begangenen Verbrechen.

Als eine seiner ersten Amtshandlungen rehabilitierte das neue litauische Parlament Litauer, die von der sowjetischen Regierung wegen Kollaboration mit den Nazis verurteilt worden waren. Straßen wurden nach LAF-Führern wie Škirpa benannt. Die staatliche Militärakademie Litauens, die mit anderen Nato-Militärakademien verbunden ist, wurde nach Jonas Žemaitis, einem weiteren berüchtigten Nazi-Kollaborateur, benannt. Gleichzeitig wurden Überlebende des Holocaust, die mit den sowjetischen Partisanen gegen die Nazis und ihre litauischen Verbündeten gekämpft hatten, vor Gericht gestellt wegen „Kollaboration“ und „Kriegsverbrechen“.

Der Fall des litauischen Faschisten Jonas Noreika hat internationale Berühmtheit erlangt. Nach dem Krieg in der Sowjetunion hingerichtet, wurde er vom litauischen Regime nach 1991 posthum als Kämpfer gegen die „kommunistische Tyrannei“ gefeiert. Straßen wurden ihm zu Ehren umbenannt, und Noreika wurde mit dem Vytis-Kreuz ausgezeichnet, der höchsten Auszeichnung, die Litauen einem Verstorbenen verleiht. Doch im Jahr 2000 stieß Noreikas Enkelin auf lang verborgene Familiendokumente, aus denen hervorging, dass er „angeordnet hatte, alle Juden in seiner Region in Litauen zusammenzutreiben und in ein Ghetto zu schicken, wo sie geschlagen, ausgehungert, gefoltert, vergewaltigt und dann ermordet wurden“. [Am 27. Januar 2021 erschien in der New York Times ein Meinungsbeitrag mit dem Titel „Schluss mit den Lügen. Mein Großvater war ein Nazi“, von Silvia Foti]

Trotz dieser Enthüllungen wird Noreika in Litauen immer noch als Nationalheld verehrt. An der Litauischen Akademie der Wissenschaften befindet sich eine Gedenktafel zu seinen Ehren. Ein Dokumentarfilm mit dem Titel J'Accuse, der diese Travestie der historischen Wahrheit anprangert, wurde kürzlich fertiggestellt und war im Dezember 2022 auf dem Miami Jewish Film Festival zu sehen.

J'ACCUSE Trailer | Jüdisches Filmfestival Miami 2023

Die litauische Premierministerin Ingrida Šimonytė und Außenminister Gabrielius Landsbergis, mit denen Biden, Scholz, der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Rishi Sunak über die Zweckmäßigkeit eines Nato-Beitritts der Ukraine und die direkte Entsendung von Truppen diskutieren, sind Mitglieder der regierenden Partei „Heimatunion“, deren Abgeordnete eine unrühmliche Bilanz antisemitischer Äußerungen aufweisen.

Im Jahr 2019 musste die einzige verbliebene jüdische Synagoge des Landes in Vilnius wegen anhaltender Drohungen von Rechtsextremisten auf unbestimmte Zeit geschlossen werden. Laut einer Erklärung der jüdischen Gemeinde Litauens weigerte sich die Partei Heimatunion nicht nur zu intervenieren, sondern ermutigte auch rechtsextreme Kräfte, indem sie „den kontinuierlichen, eskalierenden, öffentlich geäußerten Wunsch ... nach Anerkennung der Täter des Massenmordes an den Juden Litauens als Nationalhelden und die Forderung, diese Menschen mit Gedenktafeln und auf andere Weise zu ehren“, zum Ausdruck brachte

Biden, Scholz, Macron und Sunak sind sich dieser Geschichte durchaus bewusst. Aber sie betrachten jede Aufdeckung der Verbrechen der Nazis und ihrer Kollaborateure als Enthüllung unbequemer Wahrheiten, die ihre geopolitische Agenda durchkreuzen und deshalb beschönigt und unterdrückt werden müssen.

Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine wird mit Lügen geführt und gerechtfertigt. Die Verfälschung und Rehabilitierung der Nazis und ihrer Kollaborateure in der Ukraine, Polen, Litauen und Deutschland sind wesentliche Bestandteile der Nato-Agenda.

Bei der Versammlung der Nato-Verschwörer in Vilnius ist eine groteske historische Logik am Werk. Die Führer des heutigen Weltimperialismus planen ihre neuen Verbrechen gegen die Menschheit im Schatten der Verbrechen, die vor 80 Jahren begangen wurden.

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