Wall Street Journal–Bericht:

Laut US-Geheimdiensten hat Putin den Mord an Nawalny „nicht angeordnet“

US-Geheimdienste glauben nicht, dass Wladimir Putin den Mord an dem russischen Oppositionellen Alexei Nawalny angeordnet habe. Das geht aus einem Wall-Street-Journal-Bericht von Ende April hervor.

Der Bericht des WSJ stützt sich auf Enthüllungen, die von anonymen Quellen innerhalb der CIA, dem Büro des Direktors der Nationalen Geheimdienste und dem US-Außenministerium stammen. Diese Quellen halten die Berichte über Nawalnys Tod am 16. Februar in einem Gefängnis in der Arktis offenbar für glaubhaft.

Alexei Nawalny bei einer Pressekonferenz in Moskau am 27. August 2013. Am 16. Februar 2023 gaben die russischen Behörden bekannt, dass Nawalny mit 47 Jahren im Gefängnis gestorben war [AP Photo/Alexander Zemlianichenko]

Das WSJ schreibt: „Die Einschätzung der USA basiert auf einer Reihe von Informationen, darunter vertraulichen Geheimdienstdaten, und einer Analyse öffentlich bekannter Tatsachen wie das Timing von Nawalnys Tod und wie er Putins Wiederwahl überschattet hat.“

Tatsächlich hat bisher nicht der Kreml am meisten vom Tod des Oppositionellen profitiert, sondern seine rechten Kritiker, das Weiße Haus und die Nato. Sie alle gaben sofort Moskau die Schuld an Nawalnys Tod und nutzten ihn, um Stimmung gegen Russland zu schüren. Inzwischen hatte der Krieg gegen Russland in der Ukraine nur zu gescheiterten „Gegenoffensiven“, massiven Opferzahlen und wachsender Abscheu gegenüber Gewalt in der Bevölkerung auf beiden Seiten des Atlantiks geführt. Deshalb nutzten die US-Regierung und ihre Verbündeten Nawalnys Tod im Winter, um ihrem Kampf für „Demokratie“ in Russland neues Leben einzuhauchen.

Seither konzentrieren sie sich darauf, Nawalnys Witwe Julia Nawalnaja zu seiner politischen Erbin hochzustilisieren. Das Magazin Time nahm sie in seine erst vor kurzem veröffentlichte Liste der 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2024 auf. Der Werbetext zu ihrer Person stammte von US-Vizepräsidentin Kamala Harris. In Deutschland zeichneten die Deutsche Welle und der renommierte Ludwig-Erhard-Gipfel Nawalnaja kürzlich mit ihrem jährlichen „Freiheits“-Preis aus.

Weder das Weiße Haus noch die vom Wall Street Journal zitierten Behörden haben sich zu den Enthüllungen geäußert. Die New York Times und die Washington Post, die beide für die anti-russische Propaganda der Massenmedien eine führende Rolle spielen, unterschlugen die Nachricht und berichteten nicht darüber. Politische Kommentatoren in Europa taten sie ab. Slawomir Debski, Direktor des staatlich finanzierten polnischen Instituts für Internationale Angelegenheiten, erklärte: „Putin war persönlich an seinem [Nawalnys] Schicksal beteiligt, also ist die Wahrscheinlichkeit für einen derart unbeabsichtigten Tod sehr gering.“

Nawalnys Unterstützer innerhalb der russischen Opposition haben den Artikel des WSJ scharf kritisiert. Leonid Wolkow, eine zentrale Figur in der von Nawalny gegründeten Anti-Korruptions-Stiftung (FBK), erklärte, wer zu dieser Schlussfolgerung gelange, „versteht eindeutig nichts davon, wie es im modernen Russland zugeht. ... Die Vorstellung, dass Putin nicht informiert war und Nawalnys Ermordung nicht gebilligt hat, ist lächerlich.“ Allerdings behauptete er nicht, dass der Bericht der Zeitung über die Aussagen der US-Geheimdienstagenten falsch sei.

Von dem Moment an, als bekannt wurde, dass der russische Oppositionelle in einem Gefängnishof in Westsibirien zusammengebrochen war, hat die FBK darauf beharrt, dass der Kreml-Chef Nawalnys Tod geplant habe. Diese Behauptung ist ein wesentliches Element in der falschen Darstellung sowohl der Person Nawalnys und was er repräsentierte, als auch der politischen Bewegung, um deren Kontrolle die FBK jetzt ringt. Ihrer Meinung nach hatte der russische Oppositionelle angeblich in der Bevölkerung großen Rückhalt, wurde von Millionen geliebt und war die Verkörperung demokratischer Werte. Weil er all das verkörperte, musste Putin ihn töten und hat ihn getötet - so ihre Darstellung.

Doch dies alles ist ein ebenso großer Unsinn wie ihre angeblichen „Beweise“ für Putins Beteiligung an Nawalnys Tod. Nawalny war ein rechtsextremer, pro-kapitalistischer russischer Nationalist. Er hatte sich mit Faschisten gemein gemacht und die Bedeutung dieser Zusammenarbeit öffentlich gefeiert. Außerhalb der begüterten Schichten in den Großstädten genoß Nawalny keinen Rückhalt in der Bevölkerung.

Maria Pevchikh, die Vorsitzende der FBK (einer Organisation, die sich weigert, Informationen über ihre Finanzquellen zu veröffentlichen), publizierte im Februar ein professionell gemachtes siebenminütiges YouTube-Video, in dem sie erklärte: „Nawalny war alles, was Putin niemals sein könnte... dafür hasste er ihn.“ Als Antwort auf die rhetorische Frage, warum der Kreml ihn gerade jetzt töten musste, erklärt sie dort, sie kenne „die Antwort“ und habe „keinerlei Grund oder Verlangen, sie zu verheimlichen“.

Laut Pevchikh, die durchgestylt auftrat, wurde Putin aktiv, um einen Gefangenenaustausch zu verhindern, der von ihrer Organisation in die Wege geleitet worden war, indem sie Einfluss auf westliche Politiker ausübte. Um den Zuschauer zu beeindrucken, erklärt sie, sie habe dafür die Hilfe der „reichsten Menschen auf dem Planeten“ mobilisiert. Im Austausch für Nawalny sollte der Kreml Wadim Krasnikow erhalten, der in Berlin unter dem Vorwurf inhaftiert ist, auf Geheiß Moskaus einen Mord begangen zu haben. Stattdessen soll Putin (laut Pevchikh) beschlossen haben, „dieses Druckmittel loszuwerden“, worauf er Nawalny habe ermorden lassen. Auf diese Weise löste er das Problem, den Gefangenenaustausch nicht durchzuführen.

Abgesehen von der aufgeblasenen Selbstdarstellung der FBK als einer einflussreichen Organisation, die den westlichen Regierungen sagen kann, was sie zu tun haben (tatsächlich ist es genau umgekehrt), ergibt die ganze Story keinen Sinn. Jeder Gefangenenaustausch, dem die russische Regierung zugestimmt hat, hätte nur mit vorheriger Erlaubnis des Präsidenten vonstatten gehen können. Hätte Putin Nawalny nicht freilassen wollen, dann hätte er dem Austausch einfach die Zustimmung verweigert. Außerdem tötet man nicht seine eigenen „Druckmittel“, man nimmt sie vom Tisch und behält sie in der Hinterhand.

Da Pevchikh offenbar bewusst ist, wie wenig überzeugend ihre Logik ist, behauptet sie, Putins Handeln sei „absolut irrational“. Dabei belässt sie es jedoch, und das ist dann auch schon der ganze Beweis dafür, dass der russische Präsident Nawalny getötet haben soll.

Zeitgleich mit der Enthüllung des WSJ, dass mehrere US-Geheimdienste zu dem Schluss gekommen seien, Putin habe die Ermordung seines Kritikers nicht angeordnet, gibt es Berichte darüber, dass die russische Opposition wegen mehrerer Meinungsverschiedenheiten gespalten sei. Momentan unterstützen einflussreiche Schichten der herrschenden Klasse der USA öffentlich Nawalnys Witwe, aber für den Posten eines Handlangers der USA in Moskau gibt es auch noch andere Anwärter.

Das Wall Street Journal und die New York Times haben beide vor kurzem Artikel über die Spannungen innerhalb dieser Schichten veröffentlicht, ein Thema, das die Financial Times im letzten Jahr aufgegriffen hatte. Der ehemalige russische Milliardär Michail Chodorkowski, der rechte ehemalige Schachmeister Garri Kasparow, der in Kiew lebende Ilja Ponomarjow, der israelische Social-Media-Prominente Maxim Katz, Julia Nawalnaja, Leonid Wolkow und Maria Pevchikh von der FBK - sie alle und noch weitere Personen innerhalb und außerhalb Russlands wetteifern um die Rolle des Oppositionsführers.

Die New York Times beklagte am 19. März in einem Artikel die „Engstirnigkeit“ der um die FBK gruppierten Oppositionellen, ihre ewigen Streitereien mit anderen Kreml-Kritikern und die Tatsache, dass die Organisation bloß ein paar Dutzend Menschen zu einer Demonstration vor der russischen Botschaft in Vilnius mobilisieren konnte, um Nawalnys nach seinem Tod zu gedenken.

Allerdings machen diese jüngsten Medienberichte deutlich, dass die Putin-Gegner trotz der Differenzen zwischen den verschiedenen Schichten einige Gemeinsamkeiten haben: Sie stehen auf dem Boden der Marktwirtschaft, hegen denselben Hass auf die russische Arbeiterklasse und bekennen sich zu den Bestrebungen der USA und der Nato, Russland zu zerschlagen und zu dominieren. Keiner von ihnen genießt nennenswerte Unterstützung unter den russischen Massen.

Am 17. April veröffentlichte das Wall Street Journal einen Artikel mit dem Titel „Fraktionskämpfe spalten die russische Opposition im Exil“, in dem es hieß: „Die meisten Oppositionellen stimmen mit einer zweifachen Strategie überein: Erstens wollen sie schrittweise Unzufriedenheit in Russland sähen und sich die Unterstützung der 10 bis 20 Prozent der Russen sichern, die ihrer Einschätzung nach vom russischen Präsidenten desillusioniert sind. Zweitens wollen sie jede Unruhe in Russland ausnutzen und zu einer Straßenbewegung umwandeln oder um denjenigen Protestführer gruppieren, der in den Vordergrund tritt.“

Der Zeitung zufolge brachte der Ölmagnat Michail Chodorkowski die Sache auf den Punkt: „Ich bin bereit, den Teufel zu unterstützen, wenn es dabei hilft, dieses Regime zu destabilisieren.“ Er prognostizierte eine Spaltung in den Eliten des Putin-Regimes und erklärte: „Man muss eine Gruppe von Bösewichten gegen eine andere unterstützen.“ So sehen also Russlands große Kämpfer für „Demokratie“ aus.

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