WHO warnt: Kinder im Gazastreifen von Polio bedroht

Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Tedros Adhanom Ghebreyesus gab am Mittwoch bekannt, dass im Gazastreifen Erreger von Polio (Kinderlähmung) entdeckt wurden. Er mahnte sofortige Vorsichtsmaßnahmen an, um Kinder vor einer Infektion zu schützen. Die Krankheit kann zum Tod oder zu bleibender Lähmung führen.

Ein Junge in den Trümmern des Sportstadions Yarmouk in Gaza am 5. Juli 2024 [AP Photo/AP Photo]

Der Leiter der WHO schrieb auf X mit Blick auf den israelischen Angriff auf die palästinensische Enklave: „Die Entdeckung von Polio im Gazastreifen ist ein weiterer Hinweis auf die schrecklichen Bedingungen, unter denen die dortige Bevölkerung lebt … Die Dauer des Konflikts beeinträchtigt die Bestrebungen, vermeidbare Todesursachen wie Polio zu identifizieren und darauf zu reagieren.“

Die WHO hat eine Million Dosen Polioimpfstoff in das von Israel besetzte Gebiet geschickt; allerdings ist angesichts der anhaltenden militärischen Gewalt unklar, wie sie an die Bevölkerung, besonders an die Kinder, verteilt werden sollen.

Das Gesundheitsministerium von Gaza rief am Montag aufgrund der Ergebnisse von Abwasseruntersuchungen eine Polio-Epidemie aus. Es wurden zwar noch keine Fälle gemeldet, doch angesichts der chaotischen Bedingungen im Gazastreifen durch ständige Luftangriffe und Artilleriebeschuss sowie die Zwangsevakuierung von Teilen der Bevölkerung ist eine systematische Überwachung der Krankheit unmöglich.

In einer Erklärung auf Telegram warnte das Ministerium, Polio stelle „eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung des Gazastreifens und der Nachbarstaaten“ dar. Damit meinte es Israel und Ägypten, die beide an den Gazastreifen angrenzen, sowie den gesamten Nahen Osten.

Im Gazastreifen hat es aufgrund wirksamer Massenimpfaktionen seit einem Vierteljahrhundert keine Polio-Ausbrüche mehr gegeben. Doch genau wie allen sozialen Errungenschaften der Palästinenser droht auch dieser gesundheitspolitischen Leistung die völlige Vernichtung durch israelische Bomben, Raketen und Panzer.

An den Stränden und auf leeren Grundstücken und Feldern stehen kilometerlange Reihen von Zelten, in denen Menschen in seit Monaten nicht mehr gewaschener Kleidung zusammengepfercht sind. Kinder spielen in Pfützen, die mit Abwasser kontaminiert sind, und trinken daraus.

Polio breitet sich vor allem über fäkal-orale Kontamination aus. Die Angriffe der Israelischen Verteidigungskräfte auf Wasser- und Sanitäreinrichtungen zielen bewusst darauf ab, unter der palästinensischen Bevölkerung die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu fördern.

Die Gesundheitsbehörden haben während des anhaltenden Völkermords wiederholt gewarnt, die Zerstörung kritischer Infrastruktur werde eine Krise des öffentlichen Gesundheitswesens auslösen. Und letzte Woche wurde das Virus in sechs von sieben der regelmäßig entnommenen Abwasserproben entdeckt.

Die UN wiesen darauf hin, dass neben Polio auch immer mehr Fälle von Krankheiten wie Hepatitis A, Dysenterie (Ruhr) und Magen-Darm-Krankheiten auftreten. Mehr als eine Million Atemwegserkrankungen wurden dokumentiert. Krätze und Läuse sind unter der Bevölkerung weit verbreitet. Wie bereits häufig erwähnt wurde, ist dies erst der Beginn der umfangreicheren Krise des öffentlichen Gesundheitswesens, die das historische Leid der erschöpften und misshandelten Bevölkerung noch verschlimmern wird.

Dr. Tanya Haj-Hassan, eine Intensivärztin für Kinder, erklärte gegenüber Al-Jazeera, die Entdeckung von Polio sei eine „tickende Zeitbombe … Normalerweise werden Poliofälle isoliert; man passt auf, dass die Infizierten eine andere Toilette benutzen als alle anderen, dass sie sich nicht in der Nähe anderer Leute aufhalten, aber das ist unmöglich. Seit neun Monaten sind alle in Flüchtlingslagern zusammengepfercht, ohne Impfstoffe, auch Kinder, die ansonsten gegen Polio geimpft würden, sowie Erwachsene, die mit Beginn eines Ausbruchs eine Auffrischungsimpfung erhalten sollten, auch medizinisches Personal.“

Der Generaldirektor des Al Shifa-Krankenhauskomplexes Dr. Medhat Abbas erklärte vor der Presse, die Straßen seien mit Abwasser überzogen: „Persönliche Hygiene fehlt völlig, man kann sich nicht die Hände waschen, nicht einmal, nachdem man auf der Toilette war. Daher breiten sich Krankheiten aus, die durch Fäkalien und Verschmutzung übertragen werden.“

Im Mai hatte die Nahost-Direktorin von Oxfam Sally Abi Khalil, geklagt:

Die Situation ist verzweifelt. So viele Menschen im Gazastreifen leben in Angst und werden gezwungen, aufgrund der anhaltenden israelischen Luftangriffe unmenschliche und unhygienische Bedingungen zu ertragen. Ein Kollege erzählte mir, es liege so viel menschliche Ausscheidung in den Straßen, dass es buchstäblich nach Krankheit riecht.

Israels Angriff auf Rafah könnte nicht nur wegen der Gefahr massiver ziviler Opferzahlen verheerend sein, sondern auch wegen der Folgen, wenn große Menschenmengen zur Flucht gezwungen werden. Da die Infrastruktur bereits überlastet, keine Gesundheitsversorgung vorhanden, und Unterernährung weit verbreitet ist, könnte das schnell zu einer schweren Epidemie eskalieren.

Diese Woche erklärte Dr. Ayadil Saparbekow, der das Gesundheitsnotstandsteam der WHO für Gaza und das Westjordanland leitet, gegenüber NPR: „Es ist eine sehr gefährliche Krankheit. Und bei der Lage im Gazastreifen ist sie noch viel gefährlicher.“ Die begrenzten Untersuchungen deuten darauf hin, dass das Virus im September vor Beginn der Kampfhandlungen aus Ägypten eingeschleppt wurde.

Ein weiteres wichtiges Element in der Politik der Ausrottung der Bevölkerung durch Krankheit ist die Hungersnot in Folge der Blockade. Dadurch sind schon einige Opfer verhungert und viele leiden unter geschwächter Abwehrfähigkeit gegenüber Infektionen.

Dazu kommen die Angriffe auf Krankenhäuser, Kliniken und Gesundheitspersonal, in deren Rahmen 500 Ärzte getötet wurden, darunter 50 Fachärzte. Mehr als 200 medizinische Beschäftigte wurden in Haftlagern im Süden Israels interniert, wo sie Opfer brutaler Verhöre werden. Zwanzig der 36 Krankenhäuser im Gazastreifen wurden vollständig zerstört, im Rest herrschen barbarische Bedingungen. Kranke und Verwundete können ihre akuten und lebensbedrohlichen Verletzungen und Krankheiten nirgendwo behandeln lassen.

Israel erklärte als Reaktion auf die Berichte über Polio, es biete im Gazastreifen eingesetzten Soldaten eine Polioimpfung im Rahmen des regelmäßigen Truppenaustauschs an, allerdings sei dies freiwillig. Das israelische Militär deutete außerdem an, es werde internationalen Organisationen erlauben, Polioimpfstoffe nach Gaza zu bringen. Laut der WHO sollen in den kommenden Wochen mehr als eine Million Impfdosen dorthin gebracht und verabreicht werden.

Schon vor dem Angriff auf die wehrlose Enklave, im März 2023, riefen israelische Ärzte die Regierung und die medizinische Gemeinschaft auf, auf einen Polio-Ausbruch zu reagieren und vorrangig die 176.000 israelischen Kinder zu impfen, die noch nie eine Dosis erhalten haben. Damals wurde bei vier Kindern Polio diagnostiziert, eines hatte gelähmte Gliedmaßen. Vor diesem Ausbruch hatte es von 1988 bis 2022 keine klinischen Polio-Fälle mehr gegeben.

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