Ukrainisches Militär startet Einmarsch in Russland

Am frühen Dienstagmorgen haben ukrainische Streitkräfte in der Grenzregion Kursk ihren bislang wohl größten Überfall auf russisches Territorium durchgeführt. Nach Angaben der russischen Militärbehörden war an dem Angriff eine Einheit der ukrainischen Streitkräfte mit 1.000 Mann und 50 gepanzerten Fahrzeugen, darunter sieben Panzern, beteiligt. Medienberichten zufolge beteiligten sich auch deutsche Marder-Schützenpanzer an der Invasion.

Zerstörtes Haus in der Stadt Sudzha (Region Kursk) nach Beschuss durch die ukrainische Seite, Foto vom amtierenden Gouverneur der Region Kursk, Alexej Smirnow, über Telegramm verbreitet, Dienstag, 6. August 2024 [AP Photo]

Am Mittwoch bezeichnete der russische Präsident Wladimir Putin den Angriff als „große Provokation“ und sagte, die ukrainischen Truppen hätten „wahllos mit verschiedenen Waffentypen, einschließlich Raketen, auf zivile Gebäude, Wohnhäuser und Krankenwagen geschossen“. Aufzeichnungen vom 6. August, die das Institute for the Study of War ausgewertet hat, zeigen, dass bis zu 7 Kilometer nördlich der Grenze Zusammenstöße zwischen russischen und ukrainischen Truppen stattgefunden haben.

Unbestätigten Berichten russischer Blogger zufolge nahmen ukrainische Truppen eine Gasmessstation in der Stadt Sudzha ins Visier. Über diese Station wird russisches Gas nach Europa geliefert.

Die russische Regierung erklärte am Mittwochabend, der Angriff sei abgewehrt worden. In der Region Kursk gilt jedoch weiterhin der Ausnahmezustand. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag schoss die russische Luftabwehr mindestens sieben Raketen der ukrainischen Streitkräfte ab, die auf die Region zielten.

Bis zum Redaktionsschluss haben die russischen Behörden bestätigt, dass 31 Zivilisten, darunter sechs Kinder, verwundet worden sind. Eine offizielle Zahl der Toten wurde noch nicht bekannt gegeben, aber russische Medien berichteten, dass mehrere Sanitäter getötet worden seien. Die Menschen in der Region wurden aufgerufen, Blut zu spenden, was darauf schließen lässt, dass die tatsächliche Zahl der Verwundeten höher sein könnte. Viele Einwohner haben sich über Probleme bei der Evakuierung beschwert, und andere berichteten, dass sie sich in Kirchen verstecken mussten, um dem Beschuss zu entgehen.

Das Ausmaß des Angriffs und die Tatsache, dass das ukrainische Militär, das von der Nato bewaffnet und ausgebildet ist, daran beteiligt war, stellen eine erhebliche Eskalation des Konflikts dar. Die Ukraine hat schon früher Drohnenangriffe auf russische Städte und Infrastruktur sowie Einfälle in russisches Territorium durchgeführt. Die früheren Angriffe wurden jedoch von paramilitärischen Neonazi-Einheiten unter der Leitung des ukrainischen Militärgeheimdienstes und nicht von der Armee durchgeführt.

Wie nicht anders zu erwarten, haben sich das Weiße Haus und Vertreter der EU hinter den Einmarsch der Ukraine gestellt und ihn als legitimen Akt der Selbstverteidigung bezeichnet. Der Kommunikationsberater des Weißen Hauses, John Kirby, erklärte in Washington, der Angriff habe nicht gegen die US-Politik verstoßen, und die USA würden der Ukraine auch weiterhin erlauben, Waffen aus amerikanischer Lieferung einzusetzen, um „unmittelbare Bedrohungen jenseits der Grenze zu bekämpfen“.

Man sei „der Meinung, dass die Ukraine einen rechtmäßigen Verteidigungskrieg gegen eine illegale Aggression führt“, sagte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Brüssel.

Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marcus Faber (FDP), rechtfertigte den Einsatz deutscher Panzer in Russland. „Mit der Übergabe an die Ukraine sind es ukrainische Waffen“, erklärte er gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Das gelte „für jegliches Material“, d.h. auch für deutsche Kampfpanzer.

Die Ukraine hat ihren bisher größten Vorstoß auf russisches Territorium unternommen, da die Lage an der Front für die ukrainische Armee immer verzweifelter wird. Nach zweieinhalb Jahren Krieg, der bereits schätzungsweise eine halbe Million Menschenleben gefordert hat, verliert die Ukraine immer mehr Gebiete an die russischen Streitkräfte. Am 16. Juli trat ein neues Gesetz in Kraft, das Millionen von ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren - einschließlich derer, die aus dem Land geflohen sind - dazu zwingt, ihre Registrierungsdaten zu aktualisieren, damit sie zur Armee eingezogen werden können.

Das neue Gesetz hat die sozialen und politischen Spannungen im Lande drastisch verschärft. Schon vor Inkrafttreten des Gesetzes berichteten ukrainische Journalisten der WSWS, dass sich die Zivilbevölkerung gegen die Versuche der Rekrutierungspatrouillen, Männer gewaltsam von der Straße zu entführen, immer häufiger zur Wehr setzt. Diese Journalisten haben jetzt über mehrere Vorfälle in letzter Zeit berichtet, bei denen verzweifelte Soldaten ihre Waffen gegen ihre Befehlshaber richteten. Die Zahl der Desertionen von Frontsoldaten nimmt zu.

Nur wenige Tage vor dem Angriff fand ein Gefangenenaustausch zwischen den USA und Deutschland einerseits und Russland andererseits statt. Unter anderen wurde Evan Gershkovich vom Wall Street Journal und der ehemalige US-Marinesoldat Paul Whelan freigelassen. Das Putin-Regime, das Washington und den offen Nato-freundlichen Teilen der Oligarchie seine Kompromissbereitschaft damit signalisierte, hat auch mehrere bekannte Führer der russischen Opposition freigelassen. Sie werden innerhalb der russischen Oligarchie von der Nato unterstützt.

Unter den Freigelassenen sind Wladimir Kara-Murza, der über weitreichende Verbindungen nach Washington verfügt, und mehrere Mitglieder des Teams des verstorbenen Oppositionellen Alexej Nawalny. Dieser war lange Zeit der bekannteste Vertreter der US- und Deutschland-freundlichen Fraktion in der russischen Oligarchie und im Staatsapparat. Russland ließ auch Andrej Piwowarow frei, den ehemaligen Leiter der Organisation Offenes Russland, die der prominente Putin-Gegner und Oligarch Michail Chodorkowski gegründet hat. Im Gegenzug ließen die USA und Deutschland mehrere Kriminelle und Spione frei.

Während die bürgerlichen US-Medien den Gefangenenaustausch als Rückkehr zur Diplomatie darstellen, unterstreichen die Angriffe auf die Region Kursk einmal mehr, dass das wachsende Debakel der Nato-Kriegsanstrengungen in der Ukraine und die Annäherungsversuche des Kremls die Aggressivität der Imperialisten und ihrer Stellvertreter in Kiew eher noch steigern. Vor allem die militärischen Niederlagen an der Front veranlassen die Nato und die Ukraine dazu, ihre Bemühungen um die Eröffnung einer „zweiten Front“ innerhalb Russlands selbst zu verstärken.

Nach zahlreichen politischen Attentaten, Drohnenangriffen, auch auf den Kreml, und Einfällen faschistischer paramilitärischer Truppen in den Jahren 2022-2023 sind in diesem Jahr vor allem die Terroranschläge auf das Moskauer Krokus-Rathaus im März zu nennen, die über 140 Menschenleben gefordert haben. Diese Anschläge stehen im Einklang mit dem grundlegenden Ziel der imperialistischen Mächte in diesem Krieg: die Zerstückelung der gesamten Region, um ihre riesigen Rohstoffressourcen unter die direkte Kontrolle des Imperialismus zu stellen.

Im Rahmen dieser Strategie dienen Überfälle wie der in der Region Kursk nicht nur dazu, militärische Ressourcen von der Front abzulenken. Sie sollen auch die politische Lage in Russland destabilisieren und die wütenden Machtkämpfe zwischen verschiedenen Teilen der russischen Oligarchie und des Staatsapparats anheizen, um die Voraussetzungen für einen Regimewechsel in Moskau zu schaffen.

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