Führender ukrainischer Kriminologe bezeichnet Vorwurf des „Staatsverrats“ gegen Bogdan Syrotjuk als haltlos

Bogdan Syrotjuk Mitte April 2024

Am 4. Dezember prüfte ein ukrainisches Gericht in Perwomajsk das linguistische Gutachten, das die Anwälte des inhaftierten Trotzkisten Bogdan Syrotjuk in Auftrag gegeben hatten. Der mittlerweile 26-jährige Syrotjuk wurde im April 2024 verhaftet und wegen „Staatsverrats unter Kriegsrecht“ angeklagt, wofür ihm eine Haftstrafe von mindestens 15 Jahren bis lebenslang droht. Entgegen der Behauptung der Anklage handelte Syrotjuk nicht im Auftrag des Putin-Regimes, sondern war Gründer und Anführer der trotzkistischen Jugendgruppe „Junge Garde der Bolschewiki-Leninisten“, die gegen den Krieg in der Ukraine und für die Einheit der russischen und ukrainischen Arbeiterklasse kämpft. 

Seine Anwälte beauftragten Juri Borisowitsch Irchin, einen der führenden Kriminologen der Ukraine mit einer „linguistischen Untersuchung“ der Erklärungen und Artikel, die Bogdan geschrieben und veröffentlicht hat und die als die wichtigste Grundlage für seine Anklage dienten. Irchin kam zu dem Ergebnis, dass sie keinerlei Grundlage für eine Anklage als „Verräter“ und Unterstützer des Putin-Regimes liefern.

Um die Bedeutung dieser Untersuchung zu verstehen, muss erwähnt werden, dass sich die Staatsanwaltschaft in Fällen von angeblichem „Staatsverrat unter Kriegsrecht“ in hohem Maße auf „linguistische Gutachten“ oder „Untersuchungen“ stützt. Der ukrainische Sozialist Maxim Goldarb, der wegen der gleichen Vorwürfe angeklagt wurde, erklärte in einem Artikel auf der World Socialist Web Site, dass die Durchsetzung dieses Gesetzes hauptsächlich auf diesen „Gutachten“ beruht. Um ihre Anschuldigung zu beweisen, beauftragt die Staatsanwaltschaft einen „Experten“, der schriftliche oder andere Äußerungen des Angeklagten untersucht, um Beweise für „Staatsverrat“ und die Zusammenarbeit mit dem Aggressor, d.h. mit Russland, sucht. Die von der Staatsanwaltschaft beauftragten Experten finden in den Äußerungen des Angeklagten stets das, was die Staatsanwaltschaft finden will. Getreu diesem Drehbuch befand das „Expertengutachten“ der Staatsanwaltschaft Bogdan schuldig, mit seinen Äußerungen den Tatbestand des Staatsverrats erfüllt zu haben. 

Das linguistische Expertengutachten, das seine Anwälte in Auftrag gegeben haben, widerlegt jedoch die Argumentation der Staatsanwaltschaft und ihres „linguistischen Experten“ vollständig. Der Verfasser Irchin ist einer der renommiertesten Kriminologen der Ukraine, Verfasser von über 150 wissenschaftlichen Publikationen und ehemaliger stellvertretender Leiter des psychologischen Dienstes des ukrainischen Innenministeriums. In seiner mehr als 20-jährigen Laufbahn war er an vielen hochkarätigen Fällen beteiligt und wird von ukrainischen Zeitungen und Fernsehsendungen regelmäßig als Experte für linguistische Forensik und andere Aspekte des Strafrechts zitiert.

In seinem 65-seitigen Bericht untersuchte Irchin mehr als ein Dutzend Publikationen der World Socialist Web Site, die in der Anklageschrift erwähnt wurden, um die WSWS als „russische Propaganda- und Informationsagentur“ darzustellen. Darunter befinden sich mehrere Erklärungen der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten, wie die Erklärung gegen den Krieg vom November 2022, Artikel von Bogdan Syrotjuk über den ukrainischen Faschismus, Berichte über die Stimmung unter ukrainischen Jugendlichen, WSWS-Artikel über die Rolle der Nato in dem Krieg sowie ein Vortrag von David North vom Oktober 2023 über den Völkermord in Gaza. Irchin unterzog all diese Veröffentlichungen einer gründlichen semantischen Analyse und hob dabei Begriffe hervor, die die Ablehnung der Invasion der Ukraine durch das Putin-Regime und des Putin-Regimes selbst zum Ausdruck bringen.

Seine Schlussfolgerung ist eindeutig:

1. „(…) es gibt keine Aussagen, Formulierungen, Sätze oder Wortkombinationen, die Aufrufe an die Öffentlichkeit beinhalten, die darauf abzielen, die nationale Sicherheit der Ukraine oder ihre nationalen Interessen zu untergraben, den ukrainischen Staat zu beseitigen und die ukrainische Identität zu zerstören. Auch beinhalten sie KEINE Aufrufe zu subversiven Aktivitäten gegen die Ukraine in der Informationssphäre zum Schaden der ukrainischen Informationssicherheit.

2. (...) es gibt KEINE Aussagen, Formulierungen, Sätze oder Wortkombinationen, die auf Propaganda hinweisen, die das Ziel hat, die bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine zu unterstützen.“ (Hervorhebung im Original)

Angesichts von Irchins Autorität und der Gründlichkeit seiner Analyse konnte selbst das ukrainische Gericht sie nicht ignorieren, obwohl es bisher routinemäßig zu Gunsten der Staatsanwaltschaft geurteilt hat. Angesichts des eklatanten Widerspruchs zwischen den Ergebnissen der Untersuchungen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung sah sich das Gericht am 4. Dezember gezwungen, die Einholung eines weiteren Gutachtens durch einen dritten Sachverständigen anzuordnen. Diese Entscheidung stellt einen bedeutenden Rückschlag für die Staatsanwaltschaft dar. Unabhängig von der Tatsache, dass es sich dabei um eine wichtige juristische Entwicklung in der Kampagne für Bogdans Freilassung handelt, geht die Bedeutung von Irchins Gutachten jedoch weit über ihre Folgen vor Gericht hinaus. 

Der Prozess gegen Bogdan war von Anfang nicht nur als Prozess gegen ihn geplant, sondern gegen die gesamte trotzkistische Bewegung. Die Staatsanwaltschaft stützte sich bewusst fast ausschließlich auf Artikel der World Socialist Web Site, um ihre Anklage zu beweisen. Doch genau diese Tatsache ist jetzt zu ihrer Achillesferse geworden. Als linguistische Untersuchung dieser Dokumente ist Irchins Bericht eine nachdrückliche Bestätigung nicht nur des Kampfs für Bogdan Syrotjuks Freiheit, sondern allgemeiner der prinzipientreuen und marxistischeb Haltung der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine. Daher verdient es das Dokument, ausführlich zitiert zu werden.

Bei seiner Analyse einer Erklärung der YGBL vom November 2022, in der zur Gründung einer globalen Antikriegsbewegung aufgerufen wurde, betonte Irchin, dass immer wieder Begriffe wie „Putins Regime“ und „Putins abenteuerlicher Einmarsch in die Ukraine“ fallen. Er kam zu dem Schluss, dass die Verwendung solcher Formulierungen „eindeutig das Fehlen jeder Unterstützung für die bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine und anderer Beglückwünschungen für den Krieg zeigen, den Russland unter Putins Führung gegen die Ukraine entfesselt hat“. Weiter schrieb er:

Der objektive Inhalt dieses Texts stellt die soziopolitische Position des Verfassers durch das Prisma der Aktivitäten der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten (YGBL) dar. Der Text drückt eine antiimperialistische, antikapitalistische und trotzkistische Position aus und verurteilt die Politik der USA und der Nato ebenso wie diejenige Russlands unter Führung des „Putin-Regimes“. Hinsichtlich des Inhalts hat der Text eine eindeutige Antikriegsbotschaft und äußert Solidarität mit der Antikriegs- und revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse und Jugend (...) Der untersuchte Text formuliert eine Position des Widerstands gegen Krieg, wobei die Schlüsselphrasen „gegen Krieg“ und „Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung der Jugend“ als Antikriegsmarker dienen und eindeutig eine den Krieg ablehnende Position äußern.

Zu den gleichen Ergebnissen kam Irchin hinsichtlich aller Erklärung, die die Position der YGBL und der WSWS zum Krieg darlegten. So erklärte er nach einer Analyse der Reden von Andrei Ritzki und Bogdan Syrotjuk auf der Internationalen Maikundgebung 2023:

Die Reden drücken die Position der trotzkistischen Bewegung aus, die sowohl die Politik der USA und der Nato als auch das Vorgehen von Putins Regime verurteilt und den Krieg als Folge der globalen Krise des Kapitalismus und der imperialistischen Rivalität betrachtet. Der Text enthält Kritik am historischen ukrainischen Nationalismus und dem Kult um die OUN-UPA sowie eine Verurteilung des Putin-Regimes und der russischen Oligarchie als Erben des Stalinismus. Beide Reden beinhalten einen Aufruf zur Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse auf der Grundlage der Antikriegsbewegung und des revolutionären Internationalismus. Der Text ist in seinem objektiven Inhalt Ausdruck der subjektiven Antikriegshaltung des Autors insgesamt sowie eine klare Verurteilung der russischen Invasion, die insbesondere als „abenteuerlich“ und „reaktionär“ beschrieben wird (siehe dazu die Erklärung „Diese Position kommt in dem abenteuerlichen Schritt des Einmarsches in die Ukraine am 24. Februar 2022 perfekt zum Ausdruck (...) dieser Schritt zeigt zunehmend seinen reaktionären und beschränkten Charakter“ (...) „Zu behaupten, dass bürgerliche Apologeten wie Putin Frieden bringen können, bedeutet zu glauben, man könne Unkraut ausreißen, ohne seine Wurzeln zu berühren“ etc.). 

Gleichzeitig fehlt in den Erklärungen eindeutig jede Form von Unterstützung oder Rechtfertigung für die bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine sowie jedes Wohlwollen hinsichtlich der Aggression der Russischen Föderation gegenüber der Ukraine. In den Erklärungen „Wir, die orthodoxen Trotzkisten der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten, unterstützen diesen Krieg nicht“, „Die Arbeiterklasse wünscht zunehmend ein schnelles Ende des Kriegs in der Ukraine, bringt ihre Antikriegshaltung zum Ausdruck und sympathisiert mit der Lage der ukrainischen Arbeiter“ wird die Anteilnahme für die ukrainischen Arbeitern betont und das Verlangen nach einem schnellstmöglichen Ende des Krieges geäußert. (Alle Hervorhebungen im Original)

Auffallend ist, dass die Staatsanwaltschaft gleich drei Erklärungen beilegte, die die YGBL zur Verteidigung von Veranstaltungen der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) im Rahmen einer internationalen Reihe von Antikriegsversammlungen im Frühjahr 2023 herausgegeben hatte. In Folge wurden die Erklärungen der YGBL zur Unterstützung der Veranstaltungen in São Paulo (Brasilien), Toronto und Bochum einer linguistischen Untersuchung unterzogen. Man sollte daran erinnern, dass insbesondere die Veranstaltungen in Kanada und Deutschland Ziel einer aggressiven, staatlich unterstützten Kampagne ukrainischer Nationalisten mit dem Ziel waren, diese Anti-Kriegs-Veranstaltungen zu verhindern.

Irchin kam zu dem Schluss, dass alle Erklärungen der YGBL eine konsequente trotzkistische Ablehnung des Kriegs zum Ausdruck brachten und keine Beweise zur Unterstützung der Vorwürfe des „Staatsverrats“ lieferten. So heißt es hinsichtlich der Erklärung der YGBL zur Unterstützung der Veranstaltung in Bochum:

Der Text verurteilt diese Entscheidung (die IYSSE an der Uni Bochum zu verbieten) als Manifestation einer ultrarechten Kampagne gegen demokratische Rechte und der Vorwürfe eines „pro-russischen Narrativs“. Die Verfasser betonen, dass die IYSSE die Nachfolgeorganisation der internationalen trotzkistischen Bewegung ist, die immer gegen Stalinismus, Jelzinismus und das Putin-Regime Stellung bezogen hat. Der Text kritisiert die imperialistische Politik Deutschlands, welche die Verfasser als Manifestation des Wiederauflebens von nationalem Chauvinismus und militärischem Imperialismus betrachten. Abschließend ruft er zur Vereinigung von Jugend und Arbeiterklasse im internationalen Kampf gegen den Kapitalismus und für eine sozialistische Zukunft auf. Er reflektiert auch eindeutig die subjektive Antikriegshaltung der Verfasser, die durch Äußerungen wie „eine Veranstaltung zum Krieg in der Ukraine und dessen wahrscheinlich katastrophalen Folgen“ vermittelt wird. Damit wird der Kontext für eine Antikriegsdiskussion geschaffen, in der Krieg als Tragödie von globalem Ausmaß mit potenziell verheerenden Konsequenzen dargestellt wird. Die Verwendung des Ausdrucks „katastrophale Folgen“ betont das Ausmaß der Sorge des Verfassers und schafft eine emotional aufgeladene Atmosphäre, wie sie für die Rhetorik zur Verurteilung von Krieg typisch ist. Der Satz „Der Haupterbe des Abgleitens in die Barbarei in der UdSSR in den 1990ern ist das derzeitige Putin-Regime, das seine Vorherrschaft aufgebaut hat“ zeigt Kritik an der aktuellen russischen Regierung, die der Autor als Fortsetzung negativer Trends nach dem Zusammenbruch der UdSSR darstellt. Die Metapher „Abgleiten in die Barbarei“ vermittelt die subjektive Ansicht des Verfassers zum moralischen Verfall, welche die Antikriegsbotschaft bekräftigt, indem sie Krieg mit einem diktatorischen, unmenschlichen Regime assoziiert.“ (Alle Hervorhebungen im Original)

Irchin untersuchte außerdem zwei wichtige Artikel von Bogdan Syrotjuk über die Geschichte und die heutige Verherrlichung der ukrainischen Nationalisten. Zu Bogdans Artikel „Die Verbrechen der Bandera-Anhänger gegen das ukrainische Volk“ weist Irchin darauf hin, dass der Text keinerlei Bezug zum aktuellen Krieg enthält. Stattdessen schlussfolgert er:  

Der oben genannte Text ist von seinem objektiven Inhalt her eine journalistische Arbeit, in welcher der Verfasser eine äußerst kritische subjektive Einschätzung der Aktivitäten der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) abgibt. Der Autor charakterisiert diese Kräfte als Komplizen bei den Verbrechen der Nazis und wirft ihnen Massenmord an Zivilisten, sowjetischen Soldaten, Juden und Polen vor. Der Text enthält außerdem Auszüge, die der Autor als Augenzeugenberichte über die „Bandera-Anhängern“ zugeschriebenen Gewalttaten anführt, und deren gegenwärtige Verehrung als Nationalhelden er verurteilt. Der Autor kritisiert zwar auch den Stalinismus, distanziert sich aber aus trotzkistischer Perspektive davon und betont, betont, dass die Verbrechen ukrainischer Nationalisten nicht durch den Kampf gegen Stalin gerechtfertigt werden können. Mit anderen Worten, objektiv gesprochen repräsentiert dieser Text die persönliche subjektive Haltung des Autors zu historischen Ereignissen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er verurteilt vor allem die Verbrechen, die mit den Aktivitäten der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) während des Zweiten Weltkriegs assoziiert werden. Diese interpretiert er durch das Prisma der sowjetischen Ideologie und verurteilt die aktuelle Haltung gegenüber diesen Ereignissen im öffentlichen Diskurs der Ukraine.

Der linguistische Bericht stellt eine wichtige Entwicklung in der Kampagne für Bogdan Syrotjuks Freilassung dar. Er wird ein wichtiges Werkzeug vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sein, der seinen Fall Anfang dieses Jahres akzeptiert hat. Vor allem sollte er jedoch als nachdrückliche Bestätigung des Kampfs für Bogdan Syrotjuks Freiheit und die Prinzipien des marxistischen Internationalismus gesehen werden, für die Bogdan eingesperrt wurde. Wir rufen alle Leser auf, auf diese Entwicklung mit einer Ausweitung ihrer Bemühungen um seine Freiheit zu reagieren!

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