Der Kampf für den Trotzkismus und die politischen Grundlagen der »World Socialist Web Site«

Bericht an das Zentralkomitee und die Mitgliedschaft der Socialist Equality Party (SEP/US) am 1. Februar 1997

Die Grundlage der politischen Arbeit der Partei ist die Perspektive, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) nach der Spaltung mit der Workers Revolutionary Party (WRP) entwickelt hat. Das vierte Plenum des IKVI im Juli 1987 stellte für die Entwicklung dieser Perspektive einen Meilenstein dar. Es leitete eine Erneuerung der theoretischen Arbeit an den internationalen Perspektiven ein, die durch die WRP so viele Jahre unterbrochen worden war. Im letzten Jahrzehnt vor der Spaltung Ende 1985 hatte die WRP die Arbeit des Internationalen Komitees der nationalistischen Orientierung und dem Opportunismus der britischen Sektion untergeordnet. Besonders extrem drückte sich diese systematische Desorientierung des Internationalen Komitees in der Perspektivresolution aus, die der 10. Kongress des Internationalen Komitees im Januar 1985 angenommen hatte, der letzte Kongress unter der Regie von Gerry Healy, Michael Banda und Cliff Slaughter.

Lasst uns die Positionen in Erinnerung rufen, die Slaughter in diesem Dokument des 10. Weltkongresses vorgebracht hatte. Er schrieb zum Beispiel: »Die objektiven Gesetze des kapitalistischen Niedergangs wirken jetzt ungehindert.« Das war absurd. In der wirklichen Welt können die objektiven Gesetze niemals »ungehindert« wirken. Die Wirkung dieser Gesetze wird immer durch einen sehr dichten und komplexen Überbau gebrochen. Die widersprüchliche Entwicklung dieses Überbaus, die letztlich durch ökonomische Triebkräfte bestimmt wird, widerspiegelt sich in der Politik. Aber Slaughter zufolge hatte die Welt im Januar 1985 das nie dagewesene Stadium erreicht, in dem die »objektiven Gesetze« der kapitalistischen Wirtschaft auf keinerlei Widerstände mehr stoßen. Er schrieb alle Elemente der sozialen und politischen Realität ab, die auf diese objektiven Gesetze einwirken oder durch die diese objektiven Gesetze notwendigerweise gebrochen werden.

Diese absurde Feststellung kennzeichnet das ganze Dokument Slaughters. In einem Absatz schrieb Slaughter: »Die Kapitalistenklasse sieht sich jetzt – und das ist einmalig in der Geschichte – einer Arbeiterklasse gegenüber, die trotz wachsender Massenarbeitslosigkeit revolutionäre Massenerfahrungen als unbesiegte Klasse macht.« Dieser Satz war schon ein Widerspruch in sich. Wenn die Arbeiterklasse »unbesiegt« war, wie erklärt Slaughter dann die »wachsende Massenarbeitslosigkeit«? Als Slaughter diese Zeilen schrieb, befand sich der britische Bergarbeiterstreik am Rand des Zusammenbruchs.

Das Dokument beinhaltete eine Serie von demagogischen Behauptungen wie:

1) »Die Wirklichkeit ist, dass die entscheidenden revolutionären Schlachten bereits im Gange sind. Jeder einzelne Tag ist eine Bewegung des revolutionären Flusses der Ereignisse – es ist nicht die Frage, dass sich etwas für die Zukunft ›entwickelt‹.«

2) »Die politischen Kämpfe – in denen sich die Arbeiterklasse und die Sektionen des Internationalen Komitees jetzt befinden – sind Kämpfe, in denen die Frage der Staatsmacht bereits direkt gestellt ist und beantwortet werden muss.«

3) »Die unbesiegte Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten tritt gleichzeitig mit der Arbeiterklasse der übrigen Welt in Kämpfe revolutionären Charakters ein.«

Und 4) »Die revolutionäre Klassenkonfrontation, der Kampf um die Macht, die Entwicklung einer ganzen Reihe zusammenhängender, ungleich entwickelter aber vereinter Kämpfe um die Staatsmacht haben jetzt begonnen und stehen nicht einfach bevor.«

Slaughters Dokument war eine völlige Entstellung der objektiven Situation. Im selben Moment, als er die »unbesiegte Stärke der Arbeiterklasse« beschwor, hatte die weltweite Degeneration der alten Arbeitermassenparteien und Gewerkschaften ein fortgeschrittenes Stadium erreicht. Das Ergebnis dieser Degeneration wurde bald in einer Serie von politischen Katastrophen und Niederlagen der Arbeiterklasse sichtbar, wie es sie seit den 1930er Jahren nicht mehr gegeben hatte.

All diese Formulierungen dienten nur dazu, die Anpassung der WRP an die Labour- und Gewerkschaftsbürokratie und die Unterordnung der Sektionen des Internationalen Komitees unter die unmittelbaren praktischen Bedürfnisse der britischen Organisation zu rechtfertigen. Dies gründete sich auf die Annahme, dass der Einfluss des Internationalen Komitees sozusagen als Nebenprodukt der praktischen Erfolge und Errungenschaften der WRP in Großbritannien wachsen würde. Healy sagte einmal zu mir: »Wenn unser Stern aufsteigt, steigt auch eurer.«

Nun, das war eine vereinfachende Konzeption, die das Problem einer vereinten Entwicklung des Internationalen Komitees als der Weltpartei der sozialistischen Revolution ignorierte. Die Entwicklung des Internationalen Komitees wurde hauptsächlich in nationalistischen Bahnen aufgefasst. Die Entwicklung der Weltpartei wurde als Ergebnis von im Wesentlichen nicht miteinander verbundenen Erfolgen der Sektionen in ihren Heimatländern gesehen.

Wir haben gegen diese Auffassungen gekämpft, um die politische Autorität des Internationalen Komitees wiederherzustellen. In dieser Frage brach die WRP mit uns. Im Herbst 1985 fragten wir Slaughter und Banda: »Hat die Workers Revolutionary Party die politische Autorität des Internationalen Komitees anerkannt? Gab es eine Weltpartei, die höher als die nationalen Sektionen stand?« Indem wir diese Frage stellten, forderten wir die WRP auf, ihre Verpflichtung auf die grundlegenden programmatischen Traditionen der trotzkistischen Bewegung, die bis zur Gründung der Linken Opposition 1923 zurückreichen, zu erneuern.

Die Führung der WRP lehnte das ab. Im Dezember 1985 stimmten bei einem Treffen des Internationalen Komitees Cliff Slaughter, Simon Pirani und der mittlerweile verstorbene Tom Kemp gegen eine Resolution, die die WRP aufrief, die Verteidigung des politischen Programms und der Traditionen des Internationalen Komitees zu bekräftigen. Diese Abstimmung bedeutete, dass die WRP entschieden hatte, mit dem Trotzkismus zu brechen. Die formale Trennung erfolgte weniger als zwei Monate später.

Nach der Spaltung konzentrierte das IKVI seine theoretische Arbeit darauf, die politischen und historischen Fragen zu analysieren, die durch die Degeneration der WRP und ihren Bruch mit dem Internationalen Komitee aufgeworfen worden waren. Danach widmete das IKVI seine Aufmerksamkeit der Entwicklung seiner internationalen Perspektive. Im Juli 1987 begann das IKVI auf seinem vierten Plenum eine Diskussion über die Veränderungen in den grundlegenden Strukturen des Weltkapitalismus und die Auswirkungen auf die internationale Arbeiterklasse. Ich erinnere mich, wie ich die folgenden Fragen aufwarf: »Wie können wir die Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution vorhersehen? Welche Prozesse und Widersprüche werden die Grundlage für einen neuen Aufschwung der Arbeiterklasse und eine Erneuerung des revolutionären Klassenkampfs schaffen?«

Vielleicht erinnern sich die Genossen an die Sommerschulung der Workers League im September 1987. Mein Bericht damals stützte sich auf die Diskussion des vierten Plenums. Ich will einige Abschnitte dieses Berichts zitieren. Zum ersten Mal lenkten wir die Aufmerksamkeit auf zwei miteinander verbundene und sehr wichtige Phänomene: die Globalisierung der Produktion und die transnationalen Konzerne.

Die größte Schwäche des von Slaughter eingebrachten Dokuments zum 10. Weltkongress, sagte ich damals, sei die Tatsache, dass es nichts aussagte »… über die neuen ökonomischen Formen der wachsenden Produktivkräfte in der imperialistischen Epoche: das heißt, über die Internationalisierung der Produktion in einem in der Geschichte beispiellosen Ausmaß und die Entwicklung einer wirklich globalen Produktion, in der die Herstellung einer einzigen Ware das Ergebnis integrierter transnationaler Produktion ist. Der transnationale oder multinationale Konzern ist eine ökonomische Realität, die tiefgehende Auswirkungen auf den Klassenkampf in jedem Land und auf die Entwicklung der Revolution hat.«[1]

Wir zogen zwei wesentliche Schlussfolgerungen aus der Analyse dieser neuen Phänomene: Erstens betonten wir, dass die Gewerkschaften unfähig sind, wirksam auf die globalisierte Produktion zu reagieren. Und wir betonten die objektive Notwendigkeit, dass die Arbeiterklasse ihren politischen Kampf gegen den Kapitalismus auf einer internationalen Grundlage organisiert. »Die Gewerkschaften«, sagte ich, »sind für diese neue Situation nicht gewappnet. Sie können die Arbeiterklasse nicht verteidigen, solange sie den Klassenkampf auf die nationalen Grenzen beschränken. Die Entwicklung transnationaler Gesellschaften erfordert die internationale Organisierung der Arbeiterklasse. Für amerikanische, japanische, koreanische oder deutsche Arbeiter wird es zunehmend unmöglich, national isolierte Kämpfe zu führen. Und genauso wie die Bourgeoisie die Produktion im Weltmaßstab organisiert, wird die Arbeiterklasse gezwungen sein, ihre Kämpfe im Weltmaßstab zu organisieren und deshalb neue und fortgeschrittenere Organisationsformen zu entwickeln.«[2]

Die bestehenden Gewerkschaften könnten diese Rolle nicht spielen:

Arbeiter werden ihre eigene internationale Strategie entwickeln müssen, ihre eigenen internationalen Organisationsformen. Aber diese Formen können nicht spontan geschaffen werden. Und sie können nicht von den bestehenden Führungen geschaffen werden. Es gibt ein organisches und historisch begründetes Bedürfnis für die Schaffung einer internationalen proletarischen Partei. Die Arbeiterklasse muss in das 21. Jahrhundert eintreten. Sie kann sich nicht auf Organisationsformen stützen, die im 19. Jahrhundert entwickelt worden sind. Die internationale Partei ist keine Phrase. Sie ist eine Realität, die in diesen Entwicklungen begründet ist. Das muss das Zentrum unserer Perspektiven sein.[3]

Diese Konzeptionen wurden in den Perspektiven des Internationalen Komitees von 1988 weiterentwickelt. Wir schrieben:

Es ist schon immer eine Grundaussage des Marxismus gewesen, dass der Klassenkampf nur der Form nach national, seinem Wesen nach aber international ist. Unter den gegebenen neuen Merkmalen der kapitalistischen Entwicklung muss jedoch auch die Form des Klassenkampfs einen internationalen Charakter annehmen. Selbst die elementarsten Kämpfe der Arbeiterklasse verlangen die Koordinierung ihrer Aktionen in internationalem Maßstab … Durch die beispiellose internationale Mobilität des Kapitals sind so alle nationalen Programme für die Arbeiterbewegungen der verschiedenen Länder hinfällig und durch und durch reaktionär geworden. Solche nationalen Programme beruhen unweigerlich auf der freiwilligen Zusammenarbeit der Arbeiterbürokratien mit »ihrer« herrschenden Klasse bei der systematischen Senkung des Lebensstandards der Arbeiter, um die Position »ihres« kapitalistischen Landes auf dem Weltmarkt zu stärken.[4]

Das IKVI bestand darauf, dass ein revolutionäres Programm nur auf der Grundlage einer internationalen Perspektive entwickelt werden kann und dass diese Konzeption unsere Bewegung von allen Schattierungen des Opportunismus unterscheidet. Wir erklärten weiter:

Der Opportunismus in seinen verschiedenen Formen ist eine Anpassung an die sogenannten Realitäten des politischen Lebens in einer bestimmten nationalen Umgebung. In seiner ständigen Suche nach Abkürzungen erhebt der Opportunismus diese oder jene nationale Taktik über das grundlegende Programm der sozialistischen Weltrevolution. Der Opportunist hält das Programm der »sozialistischen Weltrevolution« für zu abstrakt und sehnt sich nach angeblich konkreteren taktischen Initiativen. Dabei »vergisst« der Opportunist nicht nur den internationalen Charakter der Arbeiterklasse. Er »übersieht« auch die Tatsache, dass die Krise in jedem Land letztlich aus weltweiten Widersprüchen herrührt und daher nur auf der Grundlage eines internationalistischen Programms gelöst werden kann. Keine nationale Taktik, wie wichtig sie im politischen Arsenal der Partei auch sein mag …, kann ihren revolutionären Inhalt bewahren, wenn sie über die Weltstrategie des Internationalen Komitees erhoben oder, was auf dasselbe hinausläuft, von ihr getrennt wird. Der zentrale historische Beitrag der Sektionen des Internationalen Komitees zur Arbeiterbewegung in den Ländern, wo sie tätig sind, ist daher der kollektive und vereinte Kampf für die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution.[5]

Ray Athow von der Workers Revolutionary Party attackierte unsere Position. Wie man sieht, hat die Torrance-Gruppe jede entscheidende Initiative des Internationalen Komitees sofort angegriffen. Nach einem Jahrzehnt Erfahrung kann man sagen, dass solche Angriffe als Zeichen einer richtigen Einschätzung des Internationalen Komitees gewertet werden können.

Athow schrieb, dass der »beinahe religiöse Charakter dieses [Wahl-]Programms durch Aussagen entlarvt wird wie: ›Die Workers League bringt die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution in die Arbeiterbewegung der Vereinigten Staaten.‹« 

Ich antwortete darauf in meinem Bericht zum 13. Kongress der Workers League im August 1988:

Unsere wissenschaftliche Analyse der Epoche und der Charakter der gegenwärtigen Weltkrise überzeugen uns nicht nur davon, dass diese [internationale] Vereinigung des Proletariats möglich ist, sondern auch davon, dass nur eine Partei, deren tagtägliche Arbeit auf dieser strategischen Orientierung beruht, sich in der Arbeiterklasse verankern kann. Wir gehen davon aus, dass sich das nächste Stadium der proletarischen Kämpfe unter dem gemeinsamen Druck der objektiven ökonomischen Tendenzen und des subjektiven Einflusses der Marxisten unvermeidlich in einer internationalistischen Richtung entwickeln wird. Das Proletariat wird mehr und mehr dahin tendieren, sich selbst in der Praxis als internationale Klasse zu definieren, und die marxistischen Internationalisten, deren Politik der Ausdruck dieser organischen Tendenz ist, werden diesen Prozess fördern und ihm eine bewusste Form geben.[6]

Die ganze Arbeit des Internationalen Komitees war darauf ausgerichtet, diese Aussage zu verwirklichen und durch sein Programm und seine Praxis das bewusste internationalistische Selbstverständnis und die internationalen Kämpfe der Arbeiterklasse zu fördern.

Wie Genossen wissen, hat dies eine Reihe politischer Auseinandersetzungen innerhalb der Partei erfordert, insbesondere über unsere veränderte Haltung gegenüber der Forderung einer Labor Party gestützt auf die Gewerkschaften. Später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, stellten wir fest, dass der Prozess der objektiven Verwandlung der Arbeiterbürokratien in offene und direkte Instrumente des Imperialismus abgeschlossen ist. Wir betonten, dass die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse nicht durch allmähliche Radikalisierung der alten bürokratischen Organisationen stattfinden werde, indem wir Forderungen an die Führer richten, sondern teilweise durch die Rebellion der Arbeiterklasse gegen diese alten Organisationen und teilweise dadurch, dass die große Mehrheit von unorganisierten und politisch nicht festgelegten Arbeitern diese Organisationen links liegen lässt.

Auf unserer nationalen Mitgliederversammlung im Juni 1995, bei der wir den Vorschlag für die Umwandlung der Workers League in die Socialist Equality Party diskutierten, fassten wir die Lehren der Erfahrungen des vergangenen Jahrzehnts zusammen:

Wenn es in der Arbeiterklasse eine Führung geben soll, dann muss sie von unserer Partei kommen. Wenn ein neuer Weg für die arbeitenden Massen eröffnet werden soll, dann muss er von unserer Organisation eröffnet werden. Das Problem der Führung kann nicht auf der Grundlage einer cleveren Taktik gelöst werden. Wir können die Krise der Führung der Arbeiterklasse nicht dadurch lösen, dass wir »fordern«, dass andere diese Führung geben sollen. Wenn es eine neue Partei geben muss, dann müssen wir sie aufbauen.[7]

Das war die Grundlage, auf der wir und andere Sektionen des Internationalen Komitees die Verwandlung von Bünden in Parteien initiierten.

Unser unerschütterlicher Internationalismus und unsere unnachgiebige Opposition gegen die reaktionären Arbeiterbürokratien haben die Socialist Equality Party von jeder Schattierung des kleinbürgerlichen Radikalismus scharf abgegrenzt. All diese kleinbürgerlichen Gruppen haben zumindest eines gemeinsam: In ihren Augen ist es gänzlich illegitim, die Kontrolle der bürokratisierten Gewerkschaften über die Arbeiterklasse infrage zu stellen, geschweige denn herauszufordern.

Das Dokument, das Slaughter geschrieben hat, liefert die theoretische Rechtfertigung für die Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Gewerkschaftsbürokratie. Indem er die grundlegenden theoretischen Auffassungen von Lenins »Was tun?« zurückweist, definiert Slaughter die Bürokratie als »eigene Vorhut der Arbeiterklasse« und weist alle Versuche zurück, eine marxistische Politik gegen diese »Vorhut« zu entwickeln. In der einen oder anderen Form kann man in der radikalen Presse Dutzende solcher Zitate finden, die ein Echo auf Slaughters Argumente bilden.

Die programmatische Klärung der Frage der Labor Party und der Rolle der Gewerkschaften war von entscheidender Bedeutung, aber sie muss im Zusammenhang mit unserer grundlegenden strategischen Orientierung verstanden werden, dem Aufbau des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution. Ich möchte noch einmal einen grundlegenden Punkt betonen, den wir 1987 erklärt haben: Historische Parteien der Arbeiterklasse können nur als politischer Ausdruck internationaler sozialer Prozesse und Veränderungen entstehen, die durch objektiv revolutionäre Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsweise eingeleitet werden.

Die Zweite Internationale war das Produkt eines kolossalen Wachstums der Produktivkräfte, in Gang gesetzt durch die Elektrifizierung, die ein neues Massenproletariat schuf. Die Dritte Internationale entstand als Produkt des Zusammenbruchs dieser Parteien unter dem Druck des Imperialismus und der Verwandlung der Weltwirtschaft auf imperialistischer Grundlage. Die Vierte Internationale wurde als Antwort auf den Verrat der Dritten gegründet, aber das Wachstum als Weltpartei verzögerte sich letztlich durch den Nachkriegsboom, der die ökonomische Unterstützung für die alten opportunistischen Organisationen fortsetzte. Aber diese ökonomische Grundlage begann während der 1970er und insbesondere während der 1980er Jahre auseinanderzubrechen. In seiner Analyse der Veränderungen der Weltwirtschaft hat das IKVI ständig betont, dass die Globalisierung der Produktion, beschleunigt durch die immensen technologischen Fortschritte, die wesentlichen objektiven Triebkräfte für eine wirkliche Internationalisierung des Klassenkampfs und das Wachstum der Vierten Internationale schaffen werde. Diese Analyse ist klar bestätigt worden.

Wie vorherzusehen, wird diese Einschätzung deshalb von der Spartacist League attackiert. Sie greift uns an, weil das Internationale Komitee die Globalisierung der Produktion betont und erklärt, dass die Degeneration der Gewerkschaften ein objektiver und unvermeidlicher Ausdruck dieses Prozesses ist. Die Spartakisten haben in ihrer letzten Ausgabe von »Workers Vanguard« einen langen Artikel veröffentlicht mit dem Titel: »Die globale Ökonomie und Labor-Reformismus: Wie David North Karl Kautsky umarmt.«

»Heute ist es für Intellektuelle modern«, argumentieren sie, »die rapide Verschlechterung des Lebensstandards der amerikanischen arbeitenden Bevölkerung der letzten Generation als Ergebnis der ›Globalisierung‹ zu erklären, und besonders der Verlagerung der Produktion durch große amerikanische Konzerne (›multinationale‹ oder ›transnationale‹) in die Billiglohnländer Ostasiens und Lateinamerikas.« Die Spartakisten gleichen den religiösen Dogmatikern des Mittelalters, die an der Theorie der Erde als Scheibe festhielten und stolz erklären, sie werden unbestrittene Fakten nicht anerkennen.

Als Beispiel meiner völligen Desorientierung zitiert »Workers Vanguard« einen Abschnitt aus einem Bericht, den ich 1992 gegeben hatte: 

Der Zusammenbruch der alten Organisationen der Arbeiterklasse ist im Grunde das Ergebnis besonderer historischer und ökonomischer Umstände. Diese Umstände zu verstehen bedeutet nicht, dass wir die Führer dieser Organisationen von der Verantwortung für das Geschehene freisprechen. Es ermöglicht uns aber zu erkennen, dass die Niedertracht der Führer selbst nur der subjektive Ausdruck eines objektiven Prozesses ist … 

Die globale Integration der kapitalistischen Produktion unter der Regie riesiger transnationaler Konzerne und die Todeskrise des Nationalstaatensystems haben das geo-ökonomische Fundament zerschlagen, auf das die alten Organisationen der Arbeiterklasse ihre Tätigkeit begründeten. Auf Nationalstaaten bezogene Arbeiterorganisationen sind einfach unfähig, international organisierte Konzerne ernsthaft herauszufordern.[8]

Spartacist antwortet, es sei falsch, die Politik der Gewerkschaftsbürokratie und die Niederlagen der Arbeiterklasse auf objektive Ursachen zurückzuführen. Sie geben drei Gründe dafür an. Erstens, sie weisen unsere Betonung der Globalisierung der Produktion zurück und leugnen, dass es irgendeine wesentliche Veränderung des Charakters der kapitalistischen Weltwirtschaft und des Produktionsprozesses in den letzten 80 Jahren gegeben habe, d. h. seit Lenin seine Broschüre »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« schrieb. Zweitens behaupten sie, es würde die Arbeiterklasse entmutigen, wenn man den Niedergang der Gewerkschaften auf objektive Ursachen zurückführt, weil dies ihr Vertrauen in die Wirksamkeit gewerkschaftlicher Aktionen erschüttern werde. Drittens bestehen sie darauf, dass militantes Gewerkschaftertum die Kapitalistenklasse überzeugen könnte, ihre Politik zu ändern und größere Zugeständnisse an die Arbeiterklasse zu machen.

Um ihre Behauptung zu unterstreichen, dass die Globalisierung der Produktion nichts mit dem Niedergang der Gewerkschaften zu tun habe, schreibt »Workers Vanguard«: »In keinem der größeren Streiks, die den Niedergang und die Niederlage der amerikanischen Arbeiterbewegung in den 1980er Jahren ausmachten – die Streiks der PATCO Fluglotsen[9], Greyhound-Busfahrer, Phelps-Dodge Kupferbergarbeiter, Eastern-Airlines-Mechaniker, Hormel-Fleischpacker –, hat ausländische Konkurrenz oder die Verlagerung von Multinationalen in andere Länder irgendeine wesentliche Rolle gespielt.«

Was für eine Nabelschau von Ignoranz und intellektuellem Bankrott! Zuallererst scheint es der »Workers Vanguard« noch nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass die Zerstörung der PATCO 1981 direkt durch die Regierung der Vereinigten Staaten durchgeführt worden ist, die die politische Führung des Weltkapitalismus darstellt. Aber lassen wir einmal dieses kleine Detail beiseite. Eines kann man mit Sicherheit sagen: Die Anhänger des politischen Gurus der Spartacist League, James Robertson, haben keinerlei Vorstellung vom Charakter des modernen Kapitalismus. Sie glauben, man könne die Beziehung zwischen der Globalisierung und der Krise der Gewerkschaften dadurch vom Tisch wischen, dass man behauptet, einige Streiks seien durch rein amerikanische Konzerne gebrochen worden.

Die Spartacist League scheint zu glauben, dass die Unternehmen ihre Politik nur nach nationalen Gesichtspunkten bestimmen. Mit Sicherheit hat das Management der Streikbrecherfirmen, die von »Workers Vanguard« zitiert werden, mehr Verständnis über die Dynamik und die Erfordernisse des Weltmarkts als die Robertson-Anhänger. Jedes größere Unternehmen ist untrennbar verbunden mit dem Weltmarkt, unabhängig davon, wie viel sein Umsatz auf dem Binnenmarkt prozentual ausmacht. Die Effizienz, Arbeitsproduktivität und Profitrate wird nach globalen und nicht einfach nach nationalen Standards gemessen. Das Kapital kreist um den Globus auf der Suche nach der höchsten Rendite.

Spartacist fährt fort: »Der Niedergang der amerikanischen Arbeiterbewegung wurde nicht grundlegend durch die objektiven Auswirkungen der ›Globalisierung‹ hervorgerufen, sondern durch die feige und verräterische Politik der AFL-CIO-Führer.«

Das ist eine völlig subjektive Erklärung der Krise der Gewerkschaften. Alle Niederlagen der Arbeiterklasse, sagt man uns, können einfach durch die persönliche Korruptheit der Topfunktionäre der AFL-CIO erklärt werden. Diese Erklärung wirft allerdings folgende Frage auf: Wenn alle Niederlagen seit 1980 nur Produkte der Handlungen schlechter Leute in der AFL-CIO waren, müssen wir dann nicht zugeben, dass frühere Erfolge der Gewerkschaften, in der Blütezeit der AFL-CIO, deshalb erreicht wurden, weil sie von guten Leuten geführt wurden? Dazu müssten wir natürlich dann auch jene Säule des Kalten Kriegs und der Kommunistenhatz namens George Meany zählen. Ist es nicht schließlich so, dass die Niederlagen der AFL-CIO erst nach seiner Pensionierung und seinem Tod 1980 stattfanden?

Es gibt viele Fragen, die Spartacist nicht beantwortet. Warum sind den guten Leuten schlechte Leute gefolgt? Oder warum sind Leute, die früher »gut« waren, plötzlich »schlecht« geworden? Alles wird auf die Intentionen dieses oder jenes individuellen Bürokraten reduziert. Eine solche Herangehensweise steht im direkten Gegensatz zur marxistischen Methode. Spartacist behauptet, Lenins »Imperialismus« stelle das letzte Wort in der Analyse des Kapitalismus dar, aber anscheinend haben sie weder diese Broschüre noch seine anderen Werke über den Imperialismus besonders sorgfältig gelesen. Als eine seiner zentralen Aussagen erklärte Lenin darin, dass der wachsende Opportunismus in der Zweiten Internationale objektiv in der Entwicklung des Imperialismus wurzelte. 

In seiner Pionierarbeit »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus« stellte Lenin folgende Frage: »Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Imperialismus und jenem ungeheuerlich widerwärtigen Sieg, den der Opportunismus (in Gestalt des Sozialchauvinismus) über die Arbeiterbewegung in Europa davongetragen hat? Das ist die Grundfrage des heutigen Sozialismus.«[10] Lenin geißelte die Opportunisten als »jenen Teil der Kleinbourgeoisie und gewisser Schichten der Arbeiterklasse …, der mittels der imperialistischen Extraprofite bestochen wird und in Kettenhunde des Kapitalismus, in Verderber der Arbeiterbewegung verwandelt worden ist«.[11]

Auf dieser objektiven Grundlage rief Lenin zur Gründung der Dritten Internationale auf. Lenins Herangehensweise, die marxistische Herangehensweise, ist der subjektiven Methode diametral entgegengesetzt. Auf der Grundlage einer subjektiven Interpretation der Krise, in der die Arbeiterklasse steckt, kann niemals eine revolutionäre Politik ausgearbeitet werden. Denn wenn die Probleme, vor denen die Arbeiterklasse steht, lediglich auf die Böswilligkeit einzelner Übeltäter zurückgingen, dann wäre die Lösung recht einfach. Die AFL-CIO könnte dann leicht geändert werden, indem man einfach die schlechten Leute durch gute Leute ersetzt. Und weshalb sollte man hier einhalten? Wenn die Ersetzung der Bösen durch Gute die AFL-CIO in eine Organisation verwandeln kann, die der Arbeiterklasse dient, weshalb sollten dann ähnliche Wunder nicht auch in Bezug auf andere Institutionen möglich sein, wie etwa die Demokratische Partei oder sogar die amerikanische Regierung?

Das ist natürlich kindischer Unfug. Die Marxisten prangern die AFL-CIO nicht deshalb an, weil sie von schlechten Leuten geführt wird, sondern weil sie objektiv ein Werkzeug der kapitalistischen Vorherrschaft über die Arbeiterklasse ist. Außerdem vertritt die AFL-CIO direkt die Interessen einer bestimmten Gesellschaftsschicht der oberen Mittelklasse, die der Arbeiterklasse unversöhnlich feindlich gegenübersteht. Ihr entstammen auch die Funktionäre. Die Politik dieser reaktionären Schichten wird letztlich von den objektiven Bedingungen bestimmt, die die weltweit integrierte kapitalistische Produktion hervorbringt. Letztendlich ist dies das Entscheidende. Von ihrem ganzen Charakter her sind die Gewerkschaften unfähig, der Globalisierung der kapitalistischen Produktion und damit auch des Arbeitsmarkts wirkungsvoll zu begegnen.

Spartacist weist diese Analyse zurück. Sie versuchen aufzuzeigen, was man alles erreichen könnte, wenn sich nur die subjektive Orientierung der gegenwärtigen Gewerkschaftsführer änderte. Als Beispiel führen sie den Bauarbeiterstreik in New York City an, bei dem die Arbeiter durch 15 000 Streikbrecher ersetzt wurden, so dass die Arbeiten mehr oder weniger ungehindert weitergingen. »Workers Vanguard« will uns weismachen, dass dieser Kampf ein gutes Ende hätte finden können, wenn sich nur die Gewerkschaftsführer dazu durchgerungen hätten, das Richtige zu tun.

Offensichtlich im Geiste von John Lennons berühmtem Song »Imagine« schreibt »Workers Vanguard«:

Nun wollen wir uns aber einmal vorstellen, was hätte passieren können, wenn die organisierte Arbeiterbewegung sich bemüht hätte, die arbeitende Bevölkerung von New York City zu organisieren, und an die verarmte Bevölkerung der Ghettos von New York appelliert hätte, die Bauarbeiter zu unterstützen, die selbst größtenteils aus Angehörigen von Minderheiten und Einwanderern bestehen.

Dann geht ihre Fantasie mit ihnen durch. »Dutzende und Hunderte von Streikenden und anderen Arbeitern, Gewerkschaftern und Nicht-Gewerkschaftern hätten – gemeinsam mit schwarzen und hispanischen Jugendlichen – jedes größere Bürogebäude in New York umstellen und verhindern können, dass irgendjemand hineingeht.«

Das Kapital wäre in die Knie gezwungen worden! »David North zum Trotz hätten die Vorstände der amerikanischen Multis nicht reagiert, indem sie ihre Hauptsitze in New York geschlossen und fortan von Neu-Delhi oder Mexico City aus agiert hätten. Nein, die Bullen hätten angegriffen und versucht, die Streikposten zu durchbrechen, indem sie militante Arbeiter und deren Anhänger festgenommen hätten. Der Ausgang wäre dann davon abhängig, inwieweit es der Arbeiterbewegung von New York City gelänge, effektive Aktionen mit Unterstützung der Bevölkerung besonders in den schwarzen und hispanischen Schichten zu organisieren.«

Dann kommen sie zum Höhepunkt: »Ein eintägiger Streik im öffentlichen Nahverkehr, zum Beispiel, könnte vielleicht die Herrschenden in der Finanzhauptstadt der Welt dazu bewegen, den Immobilienhaien einen Abschluss aufzuzwingen, der den Bauarbeitern entgegenkäme.« [Hervorhebung hinzugefügt]

Hier haben wir das opportunistische Flennen und den kleinlichen Reformismus, die ihrer subjektiven Politik entspringen. Was für ein albernes Drehbuch: Erst überlegen es sich die Gewerkschaftsbürokraten anders und rufen einen eintägigen Streik aus. Daraufhin brechen die Banker tränenüberströmt zusammen, besinnen sich auch eines Besseren und stimmen ihrerseits die sturen Immobilienbesitzer um. Der Kreis subjektiver Entscheidungen schließt sich. Alle haben es sich noch einmal überlegt, und alle Probleme sind gelöst. Die Bauarbeiter heimsen einen Sieg ein, Arbeit und Kapital sind versöhnt – und all dies ohne die hässliche Einmischung des Weltmarkts. Der Himmel steht uns offen.

Kehren wir auf den Boden der Realität zurück. Spartacist scheint zu glauben, dass das Internationale Komitee gänzlich den Verstand verloren hat, weil es den Zusammenhang zwischen der Globalisierung der kapitalistischen Produktion und dem Niedergang der Gewerkschaften betont. In Wirklichkeit sind sich Marxisten schon auf einer weitaus früheren Entwicklungsstufe des Weltkapitalismus darüber klar geworden, dass die Ausdehnung des Kapitals auf die ganze Welt weitreichende Folgen für national organisierte Gewerkschaften mit sich bringt. Insbesondere in ihren Antworten auf die reformistischen Anhänger Eduard Bernsteins, die um die Wende zum 20. Jahrhundert von der Möglichkeit sprachen, aufgrund der weltweiten Expansion des Kapitals den Lebensstandard der Arbeiterklasse ständig zu verbessern, betonten die orthodoxen Marxisten die negativen Folgen dieses Prozesses.

In ihrem höchst zeitgemäßen Werk »Sozialreform oder Revolution«, das Rosa Luxemburg vor 98 Jahren verfasste, sah sie sowohl die Globalisierung als auch deren Folgen für die nationalen Gewerkschaften voraus:

Aber auch in den tatsächlichen Schranken ihrer Einwirkung geht die gewerkschaftliche Bewegung nicht, wie es die Theorie der Anpassung des Kapitals voraussetzt, einer unumschränkten Ausdehnung entgegen. Ganz umgekehrt! Fasst man größere Strecken der sozialen Entwicklung ins Auge, so kann man sich der Tatsache nicht verschließen, dass wir im Großen und Ganzen nicht Zeiten eines starken Aufschwunges, sondern des Niederganges der gewerkschaftlichen Bewegung entgegengehen. Hat die Entwicklung der Industrie ihren Höhepunkt erreicht und beginnt für das Kapital auf dem Weltmarkt der »absteigende Ast«, dann wird der gewerkschaftliche Kampf doppelt schwierig: Erstens verschlimmern sich die objektiven Konjunkturen des Marktes für die Arbeitskraft, indem die Nachfrage langsamer, das Angebot aber rascher steigt, als es jetzt der Fall ist; zweitens greift das Kapital selbst, um sich für die Verluste auf dem Weltmarkt zu entschädigen, auf die dem Arbeiter zukommende Portion des Produktes zurück. Ist doch die Reduzierung des Arbeitslohnes eines der wichtigsten Mittel, den Fall der Profitrate aufzuhalten![12]

Luxemburgs Argumente sind bereits vor langer Zeit in das Arsenal des Marxismus eingegangen. Aber heute klingen ihre Argumente in zahllosen Studien an, die die Auswirkungen der Globalisierung der Produktion auf die Arbeiterklasse untersuchen. Ich möchte Euch auf Material aus einem dieser Bücher aufmerksam machen, das gerade von dem Journalisten William Greider veröffentlicht worden ist: »One World, Ready or Not: The Manic Logic of Global Capitalism« [Es ist eine Welt, seid ihr bereit oder nicht: die wahnwitzige Logik des globalen Kapitalismus].

Dieses Buch fordert eine Richtungsänderung der kapitalistischen Politik. Greider ist ein Gegner des Sozialismus und eifriger Anhänger der AFL-CIO, von der er in den höchsten Tönen schwärmt. Dennoch ist er ein fähiger Journalist und bringt Informationen, die die Auswirkungen der Globalisierung auf die Arbeiterklasse illustrieren. Ein Kapitel trägt die bewusst ironische Überschrift »Gleiche Arbeit, gleicher Lohn«. Die Ironie besteht Greider zufolge darin, dass diese alte Losung, einst ein Schlachtruf der organisierten Arbeiterbewegung, heute in recht unerwarteter Weise von den transnationalen Konzernen verwirklicht wird, indem sie die Möglichkeiten des internationalen Arbeitsmarkts ausnutzen.

Das Kapitel beginnt mit der Besprechung einer Form der wirtschaftlichen Spekulation, die man »Arbitrage« nennt. Ein »Arbitrageur« ist ein Spekulant, der kleinste Preisunterschiede auf verschiedenen Märkten ausnutzt, wo eine bestimmte Ware ge- und verkauft wird. Greider schreibt:

In der sich globalisierenden Wirtschaft wird Arbitrage zu einem ganz anderen Zweck angewandt: Die Ware ist die menschliche Arbeitskraft, der Preis sind die Löhne. Lohn-Arbitrage (so nennen es die Unternehmen natürlich nicht) funktioniert mehr oder weniger umgekehrt: Produktion und Arbeitsplätze werden von einem Hochkosten-Arbeitsmarkt zu einem anderen verschoben, wo die Arbeit weitaus billiger ist. Die Produzenten verringern also ihre Kosten und steigern ihre Profite, indem sie mit diesen Lohnunterschieden spekulieren und die Fertigprodukte für gewöhnlich wieder auf die Märkte mit hohen Lohnkosten zurückbringen und dort verkaufen.

Die Transportkosten zu entfernten Märkten waren bislang immer das praktische Hindernis für die Arbitrage, aber die moderne Technologie hat diese Kosten, selbst für die Verlagerung ganzer Fabriken, stark reduziert. Der Transport ist ein Faktor, den man vernachlässigen kann, wenn man die potenziellen Vorteile betrachtet, die sich aus der Ausnutzung der enormen Lohnunterschiede in verschiedenen Teilen der Welt ergeben.[13]

Als wolle er gleichsam den Argumenten von Robertson & Co. den Garaus machen, stellt Greider fest:

Die Autoarbeiter in Illinois verdienten in einem Tag oder zwei so viel, wie Arbeiter der Elektronikindustrie in Malaysia in einem Monat, ganz zu schweigen von jenen in China oder Vietnam, die für weitaus weniger arbeiten. Der anglo-französische Investor James Goldsmith hat berechnet, dass die Kosten für einen Franzosen jenen für 47 Vietnamesen entsprechen. Wollte man die Menschheit mit diesem brutalen Maß messen, so wäre ein amerikanischer Maschinist ungefähr 60 Chinesen wert.[14]

Greider dokumentiert die Auswirkungen der globalen wirtschaftlichen Prozesse auf den Lebensstandard der amerikanischen Arbeiter im Vergleich zu anderen Ländern:

1975 war der Stundenlohn von Produktionsarbeitern in den USA doppelt so hoch wie in Japan und überstieg jenen aller anderen mit Ausnahme von Norwegen, Schweden, Belgien und den Niederlanden. Bereits 1980 waren die amerikanischen Fabriklöhne hinter jene in acht anderen Ländern, darunter Deutschland, zurückgefallen. 1992 folgten die USA erst auf 13 andere Länder, darunter Japan.[15]

Greider betont:

Die vorrangige Erklärung [für den sinkenden Lebensstandard] war die Ausnutzung der weltweiten Lohnunterschiede (Arbitrage). Die allgemeine Annahme, dass Niedriglohnarbeiter in zurückgebliebenen Ländern ausgesprochen unproduktiv seien, stimmte einfach nicht. In Wirklichkeit waren die billigeren Arbeiter Dollar für Dollar ein besserer Kauf für die Unternehmer als die besser ausgebildeten Arbeiter, die sie ersetzten. Die Produktivität war zwar niedriger, stieg aber rasch an – weitaus schneller als die Löhne. Um ausländisches Kapital anzuziehen, sorgten die entsprechenden Regierungen oft dafür, dass dies der Fall war.

In Mexiko zum Beispiel erreichen die neuen Autoarbeiter für Ford oder GM oder VW vielleicht nur 50 oder 70 Prozent der Effektivität von Autoarbeitern in den Stammwerken der Unternehmen. Aber ihre Löhne betrugen nur ein Sechstel oder ein Achtel …

Ähnliche Abweichungen gab es allgemein rund um die Welt, sogar auf den asiatischen Arbeitsmärkten, wo die Löhne stark anstiegen. Der klassische Fall sind Hemden: Amerikanische Textilarbeiter mussten für ein Hemd 14 Minuten menschliche Arbeit aufwenden, in Bangladesch brauchten sie dafür 25 Minuten. Aber der Durchschnittslohn eines amerikanischen Arbeiters betrug 7,53 Dollar die Stunde, während es in Bangladesch 25 Cents waren. Diese Kluft wäre auch dann nicht verschwunden, wenn man die Löhne in Bangladesch verdoppelt oder gar vervierfacht hätte. Oder die Stahlindustrie: Die US-Industrie benötigte 3,4 Stunden menschliche Arbeit, um eine Tonne Stahl zu produzieren, die brasilianische hingegen 5,8 Stunden. Aber der Lohnunterschied war 10 zu 1, 13 Dollar die Stunde gegenüber 1,28 Dollar.[16]

Greider beklagt diese Zustände und wünscht sich, dass die Gewerkschaften zu einer effektiven Reaktion fähig wären. Dieses Kapitel beginnt sogar mit der Darstellung einer internationalen Gewerkschaftstagung in der Schweiz. Obwohl Greider sich bemüht, die Teilnehmer in einem sympathischen Licht zu zeigen, fühlt er sich doch zu dem Hinweis gezwungen, dass diese internationale Zusammenkunft die nationalen Gegensätze zwischen den Gewerkschaften in verschiedenen Ländern deutlich machte. Das beherrschende Thema war nicht etwa die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung, sondern wechselseitige Anschuldigungen. Die verschiedenen nationalen Gewerkschaften machten einander zumindest teilweise für die Probleme in ihren jeweils eigenen Ländern verantwortlich.

Beunruhigt über den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung äußert Greider folgende Warnung:

Wenn die Gewerkschaften verschwänden, könnte dann etwas anderes entstehen, das sie ersetzt, eine neue Form der kollektiven Kraft, die sich der ungezügelten Gewalt des Marktes entgegenstellen könnte? Als wirtschaftlicher Zwang hinter dem Welthandel war die Ausnutzung von Lohnunterschieden eine Gelegenheit. Als sozialer Zwang säte sie immer mehr Unordnung und Wut. Während Unternehmen und Finanzwelt den Verlauf der Wirtschaft bestimmten, könnten die immer schlechteren sozialen Bedingungen langfristig für das freie Kapital eine größere Bedrohung werden als die Gewerkschaften.[17]

Greider, der die Sorgen der kleinbürgerlichen Radikalen widerspiegelt, fürchtet, dass der Zusammenbruch der bestehenden Gewerkschaften zu einem wachsenden politischen Einfluss revolutionärer Sozialisten bei militanten und wütenden Arbeitern führt.

Greiders Arbeit untermauert die Analyse des Internationalen Komitees. Die Ereignisse haben bestätigt, wie weitsichtig die Analyse war, die das IKVI 1987 begann zu erarbeiten. Diese Analyse diente als Grundlage unserer gesamten Arbeit. Das vergangene Jahrzehnt war ein Jahrzehnt der theoretischen und politischen Vorbereitung, die in der Umwandlung unserer Bünde in Parteien gipfelte. Wir haben die Grundlagen für die Verwandlung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in das international anerkannte politische Zentrum für die Erneuerung von sozialistischer Politik und sozialistischer Kultur in der Arbeiterklasse gelegt. An der theoretischen Front haben wir zweifelsohne gute Fortschritte gemacht, und die Umwandlung unserer Bünde in Parteien ist sicherlich im organisatorischen Sinn der Auftakt zu einem großen Schritt nach vorn. Aber nun, da wir diese Umwandlung in Angriff genommen haben, stehen wir vor der Aufgabe, die beiden großen Probleme zu überwinden, die vor dem Internationalen Komitee stehen.

Das erste ist der Widerspruch zwischen der Stärke und Richtigkeit unserer politischen Linie und dem Ausmaß unseres politischen Einflusses. Das zweite ist die Kluft zwischen unserer internationalen Perspektive und Orientierung und den tatsächlichen praktischen Schranken, die in den Formen unserer internationalen Zusammenarbeit und internationalen Führung bestanden. Wir haben ständig versucht, diese Probleme zu überwinden, aber man muss eingestehen, dass es keine fertige Lösung gab.

Jetzt aber entstehen tatsächlich die politischen und praktischen Voraussetzungen, um den Einfluss des Internationalen Komitees dramatisch zu steigern und eine weitaus geschlossenere internationale Praxis zu entwickeln. Um diese Möglichkeiten zu nutzen, auf die wir uns während des vergangenen Jahrzehnts vorbereitet haben, müssen wir, so meine ich, eine radikale Änderung unserer praktischen Arbeit vornehmen.

Aus diesem Anlass möchte ich über das »International Workers Bulletin« sprechen. Wir alle wissen, dass das »IWB«, und zuvor das »Bulletin«, im politischen Leben der Partei stets eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Rolle, die es in unserer Partei gespielt hat, hängt ja mit der starken Tradition der Zeitung in der Arbeiterbewegung zusammen. Die Zeitung ist nicht von der Arbeiterbewegung erfunden worden. Aber die revolutionären Sozialisten machten sich diese populäre Form der Massenkommunikation, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkam, zunutze und meisterten sie.

Im 20. Jahrhundert wurden andere Formen der Massenkommunikation entwickelt, erst das Radio und dann das Fernsehen. In ihrer Wirkung auf das Massenbewusstsein waren sie außerordentlich effektiv. Aber die revolutionäre sozialistische Bewegung hatte nicht die Mittel, um Zugang zu diesen Technologien zu gewinnen und sie zu benutzen. Unsere Arbeit, und die Arbeit aller Sektionen des IKVI, konzentrierte sich auf die wachsende Verbreitung der Zeitung; die politische Entwicklung, Produktion und Verbreitung der Zeitung dominierte die Sektionen des Internationalen Komitees.

In der alten Socialist Labour League (SLL) und dann WRP nahm die Konzentration auf die Zeitung schließlich wahnwitzige Dimensionen an. Der Aufbau der Partei wurde ausschließlich an der Erscheinungshäufigkeit und Auflage der Zeitung gemessen, zumindest wie sie auf dem Papier bestand. Alles wurde der Produktion der Tageszeitung untergeordnet. Millionen Pfund wurden gesammelt, um einen ganzen Maschinenpark zu kaufen, der ausschließlich für die Produktion der Tageszeitung benötigt wurde. Der gesamte Kader war gezwungen, seine gesamte Zeit und Kraft für die Verbreitung der »News Line« im ganzen Land aufzuwenden. Jeden Morgen verließen Lastwagen die Fabrik in Runcorn, um die »News Line« in ganz England und Schottland zu verteilen. Dabei gelangte nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Tausenden Zeitungen, die im ganzen Land an die Zellen geliefert wurden, tatsächlich in die Hände von Arbeitern und Lesern. Die meisten »Bündel« stapelten sich einfach in den Wohnungen der Mitglieder, wo sie Staub fingen und vergilbten, um nach einigen Wochen oder Monaten zum Altpapier zu wandern. Diese Erfahrung, deren ständige Wiederkehr sich sehr entmutigend auswirkte, spielte keine geringe Rolle bei der Erschöpfung, Verarmung und Demoralisierung eines großen Prozentsatzes der Mitgliedschaft der Workers Revolutionary Party.

Die jüngeren Sektionen des Internationalen Komitees setzte die WRP unter Druck, sie sollten diese Praxis übernehmen. Die Errungenschaft der Tageszeitung wurde als das große Ziel aller Sektionen gehandelt. Die praktische Auswirkung dieser Perspektive war die Förderung eines unpolitischen Klimas, das von hektischen Aktivitäten, reinem Geld-Auftreiben oder desorientierenden Abo-Kampagnen im Stile Wohlforths geprägt war.

Während wir in der Workers League innerhalb der Arbeiterklasse immer sehr aktiv blieben, legten wir das Hauptgewicht weiterhin auf die Entwicklung unserer politischen Perspektiven, und dies führte zu dem Konflikt von 1982. Wir bemühten uns auch energisch um eine größere Auflage und versuchten, die Voraussetzungen für eine Tageszeitung zu schaffen. Aber wir ließen nicht zu, dass diese Arbeit die Partei unter sich begrub. Wir kämpften um die Aufrechterhaltung eines politischen Klimas, in dem es möglich war, weiterhin ernsthaft an den Perspektiven zu arbeiten und den Kader zu erziehen. Nach der Spaltung schlugen wir vor, die Erscheinungsweise von zweimal wöchentlich auf wöchentlich umzustellen, was wir 1987 auch taten.

Wir behielten die Wochenzeitung mehrere Jahre lang bei. Gleichzeitig versuchten wir, im Einklang mit der Grundlinie unserer Perspektive, Mittel und Wege zur Integration der Arbeit des Internationalen Komitees zu finden. Bestimmt wird es den Genossen etwas bringen, noch einmal nachzulesen, welche politischen Überlegungen im April 1993 zur Schaffung des »International Workers Bulletin« führten. In der letzten Ausgabe des »Bulletin« erklärte Barry Grey die Gründung des »IWB« vor allem im Hinblick auf dessen Auswirkungen auf die Arbeit des IKVI:

Das »International Workers Bulletin« ist der Höhepunkt des nunmehr achtjährigen politischen Kampfes der Workers League und unserer Gesinnungsgenossen im Internationalen Komitee der Vierten Internationale. Dies beinhaltete intensive theoretische Arbeit zur Analyse der Weltkrise des Kapitalismus und deren Auswirkungen auf die amerikanische und internationale Arbeiterklasse. Eine wichtige Errungenschaft der Spaltung der Workers League und des IKVI von den national-opportunistischen Renegaten der WRP 1985–1986 war die Klärung und Bekräftigung der internationalistischen Grundlagen der trotzkistischen Bewegung. Seither legt unsere Bewegung großes Gewicht auf die Analyse des Klassenkampfes als internationales Phänomen. Wir waren bestrebt, die politischen Entwicklungen innerhalb der USA und die Erfahrungen der amerikanischen Arbeiter sowie die politischen Aufgaben der internationalen Arbeiterklasse, vom Standpunkt der Weltkrise des Kapitalismus aus zu begreifen. Wir meinen, dass unsere Zeitung mit diesem neuen Namen und der neuen Aufmachung die Partei in die Lage versetzen wird, die Verteidigung des sozialistischen Internationalismus im In- und Ausland zu verstärken und zu verbreitern.

Wir sehen das »International Workers Bulletin« als Quelle politischer und historischer Analysen und als politische Waffe der internationalen Arbeiterklasse. Es wird vor allem all jene Arbeiter ansprechen, die ihre Kämpfe zunehmend als Teil eines internationalen Kampfes ansehen. Es wird eine entscheidende Rolle spielen, um den reaktionären Chauvinismus und Nationalismus zu bekämpfen, den die Bourgeoisie und die Gewerkschaftsbürokratie verbreiten, und die Arbeiterklasse lehren, an alle gesellschaftlichen und politischen Probleme von einem internationalistischen Standpunkt heranzutreten.«

Auf die Frage hin, wie das »International Workers Bulletin« eine solche internationalistische Herangehensweise fördern wolle, antwortete Barry:

Ein wichtiger Faktor wird eine verstärkte internationale Zusammenarbeit zwischen unserer Redaktion und jener der Sektionen des IK in Europa, Asien und Nordamerika sein, sowie eine systematischere Zusammenarbeit mit Anhängern der Vierten Internationale in Lateinamerika, Afrika, Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Wir hoffen, nicht nur aus Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Australien, Sri Lanka, Indien und Kanada regelmäßige Berichte zu erhalten, sondern auch aus Südafrika, Japan, der Ukraine, Russland und vielen anderen Ländern.

Das »IWB« war ein Versuch, die Arbeit unserer Sektionen stärker zu integrieren. Ein wichtiger Aspekt dieser Arbeit bestand darin, dass wir uns über die Möglichkeiten Rechenschaft ablegten, die sich durch die entstehende Computer-Kommunikationstechnologie auftaten. Diese konnte eingesetzt werden, um die Arbeit der Redaktionen der verschiedenen IKVI-Sektionen zu integrieren und zu koordinieren.

Kurz nach der Gründung des »IWB« begannen wir mit der Diskussion über die Möglichkeit einer internationalen Zeitung. Aber die Gründung des »IWB« löste unsere größten Probleme eigentlich nicht. Die praktischen Schwierigkeiten, die mit der Aufrechterhaltung der Wochenzeitung verbunden waren, nahmen zu. Die Veränderung des politischen Klimas, die Folgen der Fabrikstillegungen in Detroit und im gesamten Mittleren Westen, die abnehmende Effektivität des Straßenverkaufs und die völlig vorhersehbaren Veränderungen in der persönlichen Lage und Fähigkeit vieler älterer Genossen, Verkäufe zu organisieren – all dies machte sich bemerkbar. Der Widerspruch zwischen den geistigen, physischen und finanziellen Aufwendungen für die wöchentliche Erscheinungsweise und der Auflage unserer Zeitung konnte nicht durch Aufrufe zu größeren Anstrengungen überwunden werden, die ohnehin eine sehr beschränkte Methode zur Problemlösung sind. Und so schlugen wir im Frühjahr 1994 vor, von der wöchentlichen zur zweiwöchentlichen Erscheinungsweise überzugehen. Alle Sektionen des Internationalen Komitees stimmten dieser Veränderung zu und folgten unserem Beispiel.

Es sollte sich jedoch bald herausstellen, dass der Wechsel der Erscheinungsweise zwar in praktischer Hinsicht den Druck etwas milderte, die zugrunde liegenden Probleme aber nicht wirklich löste. Die Auflage der Zeitung ging weiter zurück, und die Entwicklung einer internationalen Zeitung kam nur beschränkt voran. Selbst wenn wir mit den angestrengtesten organisatorischen Methoden die Verbreitung des »IWB« verdoppelt hätten, wären wir einer qualitativen Ausdehnung unseres politischen Einflusses nicht im Entferntesten nähergekommen.

Wie ich bei einer früheren Gelegenheit bereits sagte, gibt es Zeiten, in denen keine praktische Lösung für ein objektives Problem möglich ist. In einer solchen Lage gehört die Geduld zu den Haupttugenden eines Revolutionärs. Aber so wie Sinn zu Unsinn und Wohltat zur Plage wird, kann die Geduld zu Passivität und Fatalismus degenerieren. Es ist eine Sache, sich über eine lange Zeitspanne hinweg den Schranken zu beugen, die einem die objektiven Bedingungen auferlegen. Etwas ganz anderes ist es, unter ihnen zu resignieren und schrittweise alle Aspekte seines Lebens, oft unausgesprochen, nach der Annahme auszurichten, dass diese Schranken niemals überwunden werden können. Nichts zersetzt die innere Stärke einer revolutionären Partei mehr als eine schweigende Resignation, die sich der Selbsttäuschung hingibt, dass das bloße »Ausharren« auf der Grundlage eines teilnahmslosen Festhaltens an zunehmend hohlen Routinen auf irgendwelchen wundersamen Wegen schließlich zum Wachstum der Partei führen werde.

In der revolutionären Politik wird die Geduld dann zur Plage, wenn eine Bewegung es versäumt, die Gelegenheiten zu erkennen und wahrzunehmen, die ihr gestatten, langjährige Beschränkungen und Probleme zu überwinden. Solche Gelegenheiten sind jetzt in Form der hervorragenden Kommunikationstechnologien entstanden, die mit der Entwicklung des Internets einhergehen. Wir diskutieren darüber bereits seit etwa zwei Jahren. Zuerst kam die Frage auf einer Mitgliederversammlung Ende 1994 auf. Seither ist die Verbreitung des Internets explodiert. Es wird jetzt weltweit von mehr als 40 Millionen Menschen benutzt, die Anzahl der Websites ist von nur 19 000 im Jahr 1995 auf heute eine Viertelmillion gestiegen. Mehr als 55 Prozent der Großunternehmen in den USA verfügen über eine Website, und man schätzt, dass im Jahr 2000 geschäftliche Transaktionen im Wert von 80 Milliarden Dollar über das Internet abgewickelt werden. Der Verkehr über das Internet wächst laut Angaben der »Financial Times« jährlich um 300 Prozent, und die Anzahl der Anbieter auf dem World Wide Web hat sich in den letzten fünf Monaten des Jahres 1996 auf mehr als 300 000 verdoppelt.

Diese Kommunikationsweise ist zutiefst revolutionär. Erstens ist sie leicht zugänglich, relativ preisgünstig, und unmittelbar und direkt international. Es gab eine Menge Debatten über die Nützlichkeit des Internets für die Geschäftswelt. Ihre große Frage ist, wie und wann man damit Geld machen kann. Natürlich fällt die Antwort je nach Industriezweig verschieden aus. Für gewisse Handelsbranchen liegt der Effekt auf der Hand. Amazon.com, das als weltgrößter Buchverkäufer wirbt, wuchs innerhalb weniger Monate von sieben auf 200 Angestellte und meldet Umsatzzuwächse von 30 Prozent monatlich.

Es wäre eine Torheit, die weitreichenden potenziellen Auswirkungen dieser Technologie auf unsere Arbeit zu ignorieren. Das Internet wird rasch zu einer außerordentlich populären und höchst zugänglichen Form der Massenkommunikation. Es wird den zwei Fragen gerecht, die das Internationale Komitee und seine Sektionen seit Langem umtreiben: erstens der Ausweitung unseres Einflusses, und zweitens der internationalen Integration unserer Aktivitäten.

Die Zeitung ist ein Kommunikationsmedium; sie ist kein Prinzip an und für sich. Als Medium für die Verbreitung der Ideen des Internationalen Komitees ist es immer weniger effektiv geworden, und vom Standpunkt der Anforderungen an die Ressourcen unserer Bewegung und die Effektivität, mit der wir sie einsetzen, wirkt es sich zunehmend destruktiv aus. Unser Vorschlag lautet, dass wir unsere Kräfte auf den Aufbau, die Entwicklung und den Unterhalt einer internationalen Website konzentrieren, die als der wichtigste öffentliche Anlaufpunkt des Internationalen Komitees und seiner Sektionen dient. All die notwendigen Funktionen, die Lenin zu Beginn dieses Jahrhunderts der gesamtrussischen Zeitung zuwies, als kollektiver Agitator, Propagandist und Organisator der revolutionären Partei, können durch die Nutzung des Internets verwirklicht werden.

Ich schlage vor, dass Genossen sehr sorgfältig die Abschnitte in »Was tun?« lesen, in denen Lenin seinen Vorschlag für eine gesamtrussische Zeitung entwickelt. Seine Analyse der praktischen Probleme der russischen Bewegung sollte besonders aufmerksam studiert werden. Als Lenin »Was tun?« schrieb, kämpfte er gegen eine andere Tradition, die Tradition lokaler Zeitungen, die von der Sozialdemokratie in Deutschland mit ihren enormen Ressourcen sehr erfolgreich eingesetzt worden war. Man ging allgemein davon aus, dass lokale Zeitungen notwendig wären, um die Zellen nahe an der Arbeiterklasse zu halten. Lenin argumentierte zu seiner Zeit für eine gesamtrussische Zeitung, die die unterschiedlichen Aktivitäten der verschiedenen Zellen der russischen Sozialdemokratie koordinieren, ihnen eine einheitliche politische Linie zur Verfügung stellen und ihre kollektive Aktivität weit effektiver machen würde.

Wir glauben, dass eine Website enorme Mengen von Information umfassen und ein weites Feld von politischen, historischen, kulturellen und praktischen Problemen behandeln kann. Sie wird ein immer größeres Publikum von Arbeitern, Studenten und Intellektuellen anziehen. Sie wird Leser und Kommentatoren aus der ganzen Welt anziehen und uns in die Lage versetzen, eine umfangreiche elektronische Korrespondenz zu entwickeln, die die Grundlagen für einen gewaltigen Fortschritt in unserer Arbeit legen wird. Die Beantwortung unserer E-Mail wird eine immer wichtigere Rolle in der Entwicklung unserer politischen Kontakte und nicht nur beim Aufbau von neuen Zellen in Ländern, in denen wir bereits Sektionen haben, spielen, sondern auch beim Aufbau neuer Sektionen, wo wir heute noch keinerlei Unterstützer haben.

Unser Einfluss in Russland wurde fast ausschließlich auf der Grundlage einer politischen Korrespondenz aufgebaut, die wir mit verschiedenen Leuten zwischen 1989 und 1992 führten. In einer politischen Umgebung fand unser sehr kleines Magazin eine Resonanz. Ein großer Teil der Leute, die in Russland auf der linken Seite politisch aktiv sind, kennen das Internationale Komitee. Ich würde sagen, dass wir in Russland besser bekannt sind als in den USA.

Wir schlagen deshalb vor, die Herausgabe des »International Workers Bulletin« einzustellen. Ich bin nicht dafür, halbherzige Kompromisse zwischen dem Web und dem »IWB« zu machen. Der Aufbau einer Website ist ein umfangreiches und kompliziertes Unterfangen. Wir müssen unsere Ressourcen effektiv einsetzen. Die Zeit ist nun gekommen, da eine Alternative verfügbar ist, die deprimierende und nicht aufrecht zu haltende Belastung von Kaderenergien und Ressourcen zu beenden, die für die Herausgabe einer Zeitung erforderlich sind, die gegenwärtig nur von etwa tausend Leuten gelesen wird.

Das bedeutet nicht, dass wir vorschlagen, Druckerzeugnisse aufzugeben. Wir müssen nicht nur die technologischen Fortschritte, die mit dem Web verbunden sind, ausnutzen, sondern ebenso die ungeheuren Entwicklungen in der Produktionstechnologie, die mit dem Desktop-Publishing verbunden ist. Ich glaube, dass Flugblätter und Broschüren, die entweder auf dem Risograph oder, wenn nötig, auf großen Druckmaschinen produziert werden, in Zukunft eine viel größere und wirkungsvollere Rolle in unserer Arbeit spielen werden.

Es ist eine Tatsache, dass uns die einseitige Konzentration auf die Zeitung oftmals daran gehindert hat, kleinere und ökonomischere Medien wirkungsvoll einzusetzen. Oftmals wäre der Einsatz eines Flugblatts oder einer Broschüre bei einem wichtigen Eingreifen bei einer Fabrik, auf einer Demonstration oder einer anderen Versammlung viel wirkungsvoller gewesen als eine Zeitung. Oftmals haben wir kein Flugblatt, weil es als eine minderwertigere Form der politischen Literatur, weniger erhaben als das »IWB« und vielleicht als Konkurrenz dazu angesehen wird. Oder es lag vielleicht nur daran, dass wir keine Zeit hatten, es herzustellen.

Aber einige unserer effektivsten Eingreifen waren diejenigen mit jenen weniger erhabenen, und ich sollte darauf hinweisen, viel preiswerteren Formen der politischen Literatur. In Zukunft können Flugblätter und Broschüren dazu genutzt werden, für unsere Website zu werben und Leser dafür zu gewinnen. Zum Beispiel können wir eine spezielle Broschüre für eine Massendemonstration vorbereiten, die eine Erklärung zu den aktuellen Fragen beinhaltet, gemeinsam mit einer Anzeige für unsere Website, und wir können die Resonanz, die sie hervorruft, durch die Anzahl der Besuche auf unserer Website nachvollziehen.

Wir schlagen auch vor, ein neues politisches und theoretisches gedrucktes Journal zu initiieren, auf monatlicher oder zweimonatlicher Basis, gemeinsam mit unseren Genossen im Internationalen Komitee. Dieses würde längere Artikel zu Politik, Geschichte und Kultur beinhalten, genau das Material, das im »IWB« erscheint, das aber dann sehr schnell verschwindet, vergessen wird, unglücklicherweise bevor es überhaupt beginnen konnte, eine Rolle bei der Erziehung der Arbeiterklasse zu spielen. Die Verbreitung dieses Journals würde durch Buchläden, das Internet, Bibliotheken und auch durch öffentliche Verkäufe aufgebaut.

Schließlich muss ein weiterer entscheidender Aspekt unserer Arbeit in der Entwicklung von Labor Publications und seinem Verlagsprogramm bestehen. Bücher sind ein entscheidendes Mittel, um den Einfluss der Partei auszudehnen und die politische Kultur zu verändern, in der die Entwicklung der Arbeiterklasse stattfindet. In dieser Beziehung möchte ich mich nochmals auf die politische Situation beziehen.

Es gibt definitive Anzeichen für eine Veränderung des politischen Klimas. Dies wird durch eine plötzliche Zunahme der Anzahl von Artikeln und Büchern angezeigt, die sehr kritisch sind in Bezug auf die unkontrollierte Wirkung des kapitalistischen Marktes, eine Art von neo-keynesianischer, neo-New-Deal-Kritik des Marktkapitalismus. Ein Großteil dieses Materials dient der besorgten Beschreibung der revolutionären Konsequenzen der existierenden Trends der Entwicklung. Wir müssen in der Lage sein, in solche Diskussionen vom Standpunkt der Entwicklung einer marxistischen Interpretation der Krise einzugreifen und gegen den Einfluss zu kämpfen, den bürgerliche Liberale in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaftsbürokratie und den Radikalen auf die Arbeiterklasse ausüben.

Unsere Ansichten müssen breit bekannt sein. Sie müssen gelesen werden. Sie müssen verfolgt werden. Tradition ist eine gute Sache, aber es gibt einen Punkt, wo sie ein Handicap für die Entwicklung wird. »Die Tradition aller toten Geschlechter«, schrieb Karl Marx, »lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.«[18] Es steht außer Frage, dass das Web von zahllosen politischen Organisationen benutzt werden wird. Auf der Rechten ganz sicher, aber auch auf der Linken. Es wird alle Arten von Gruppen, ja sogar Individuen geben, die keine Ressourcen besitzen, wie wir sie zurzeit als eine internationale Bewegung haben, die nicht daran denken können, eine Zeitung herauszugeben, und deshalb auch nicht durch all die Traditionen, die damit verbunden sind, stecken geblieben sind. Sie werden sich einen Computer anschaffen, eine Website einrichten, sehr aggressiv daran arbeiten und beginnen, internationale Kontakte zu gewinnen.

Genossen werden feststellen, dass plötzlich Gruppen, von denen wir noch nie etwas gehört haben, international operieren. Und dann wird die Frage aufkommen, warum wir nicht die existierenden Möglichkeiten genutzt haben.

Wir haben Genossen, die ausschließlich für die Zeitung schreiben. Diese Arbeit ist oftmals getrennt von jeder anderen Form der Aktivität. Diejenigen, die nicht für die Zeitung schreiben, sind hauptsächlich mit episodischen Verkäufen der Zeitung beschäftigt, Verkäufen, die aufgrund ihres Charakters extrem beschränkt sind. Es ist eine Sache, eine Praxis zu verteidigen und aufrechtzuerhalten, solange es keine Alternative gibt. Es ist nicht so, dass wir uns nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt über die großen Schwierigkeiten bewusst waren, die die Aufrechterhaltung einer Zeitung bereiten, aber es gab früher keine Alternative. Jetzt gibt es eine Alternative.

Wir schlagen nicht eine Art leichten Ausweg aus den praktischen Problemen vor. Aber es eröffnet sich ein neues Stadium in der Geschichte des Internationalen Komitees. Es gibt keinen vorgezeichneten Weg der Entwicklung. Diesen Punkt machten wir sehr deutlich, als wir im Juni 1995 die Umwandlung des Bunds in die Socialist Equality Party vorschlugen. Wir sagten damals:

Der Marxismus ist eine Wissenschaft. Aber es gibt kein Rezept, das im Voraus die genauen Schritte erklärt, die beim Aufbau einer revolutionären Partei gemacht werden müssen. Außerdem liegt es in der Natur des historischen Prozesses, dass die Vergangenheit keine exakte Anleitung für die Zukunft liefert. Man kann aus den Traditionen der Vergangenheit Lehren ziehen, man kann sich von ihnen inspirieren lassen, aber die Zukunft wird nicht als schwacher Abklatsch der Vergangenheit Gestalt annehmen.

Die Entwicklung des Internationalen Komitees erfordert von seinem Kader eine kreative Antwort auf die spezifischen Probleme der gegenwärtigen Epoche. Wir weichen keinen Schritt von unserer Verteidigung des historischen Programms der Vierten Internationale ab. Aber dieses Programm selbst wurde ständig in einem unnachgiebigen Kampf bereichert, die Organisation zu schaffen, mit der die Arbeiterklasse schließlich den Sozialismus wird errichten können.[19]

Wir sind nicht der Ansicht, dass das Internet ein Wunderheilmittel ist, das alle unsere Probleme über Nacht lösen wird. Seine effektive Anwendung erfordert die Beherrschung einer komplexen und sich schnell entwickelnden Technologie. Das Stadium des Web ist noch ungeordnet, sogar chaotisch. Natürlich kann es sein, dass alle möglichen Kosten und Gebühren erhoben werden, abgesehen von möglichen politischen Kontrollmaßnahmen, die die Nutzung des Web reglementieren oder einschränken sollen. Aber ich bezweifle, dass diese Beschränkungen vergleichbar mit den täglichen Problemen beim Verkauf des »IWB« sind. Bis jetzt kann noch niemand dafür verhaftet werden, dass er sich ins Internet einwählt und das »IWB« aufruft. Jedenfalls sollten uns keine der möglichen Hindernisse und Fallen daran hindern, diese Technologie aufs Intensivste zu nutzen. Die Idee, man könnte uns einfach den Stecker herausziehen, übersieht die politische Auswirkung und Resonanz, die eine solche Maßnahme auslösen würde.

Wir sollten die Website nicht nur als Homepage konzipieren, als Visitenkarte, sondern als große und wachsende politische Struktur, die aktuelle und kulturelle Ereignisse, politische wie historische Fragen abdeckt. Es ist möglich, Trotzkis Leben zu dokumentieren und dabei die bereits vorhandene und hervorragende Videotechnologie zu nutzen. Zum Beispiel wäre es dann möglich, durch ein Videoclip im Web zu hören, wie Trotzki Stalin anklagte.

Wir müssen die Formen und die Ästhetik des Web beherrschen. Für das Web zu schreiben, erfordert Wissen über diese Technologie. Artikel können vielleicht auf eineinhalb Seiten heruntergeladen und über Laserdrucker gedruckt werden. Man kann aber auch ein ganzes Journal formatiert zum Herunterladen vorbereiten. Flugblätter können in einer Weise geschrieben werden, dass man sie als formatierte Dokumente herunterladen und für Massenverbreitung in irgendeinem Teil des Landes oder der Welt nutzen kann. Die Möglichkeiten sind endlos. Die Website wird nach gewisser Zeit wachsende Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sowohl von regelmäßigen Unterstützern als auch von Sympathisanten und sogar von Gegnern, die verfolgen, was wir sagen. Wir hatten nie zuvor eine solche Gelegenheit.

Ich denke, dies ist ein notwendiger und wichtiger Vorschlag für unsere Bewegung. Wir wollen darüber die breiteste Diskussion führen, und ich hoffe, wir werden zu einer Einigung kommen, die uns hilft, energischer die neue Technologie, die neuen Medien zu nutzen und sie so effektiv wie möglich für die Entwicklung der internationalen Bewegung und der Socialist Equality Party einzusetzen.

Antwort von David North auf die Diskussion über den Vorschlag zur Umstellung auf eine internetbasierte Publikation

Der Vorschlag, zu einer internetbasierten Publikation überzugehen, führte zu einer ausführlichen Diskussion. Nachstehend veröffentlichen wir den Beitrag von David North am Ende des ersten Tages der Sitzung des Nationalkomitees.

Genossen, wie die starke Unterstützung für diesen Vorschlag zeigt, seid ihr ebenfalls der Meinung, dass es an der Zeit ist, die Praxis der Partei grundlegend zu ändern. Der Kader will nicht nur, dass die Bewegung fortbesteht, sondern auch, dass sie sich weiterentwickelt und wächst. Diejenigen, die sich zu Wort gemeldet haben, erkennen, dass uns der technologische Fortschritt die Möglichkeit bietet, mit der politischen Linie unserer Bewegung ein größeres Publikum zu erreichen.

Die Perspektive, auf die sich dieser Vorschlag stützt, ist von historischem Optimismus durchdrungen. Dies steht in klarem Gegensatz zu den Perspektiven der kleinbürgerlichen Gruppen, die, wie Genosse Fred Mazelis betont hat, zutiefst demoralisiert sind. Es ist eine Sache, anzuerkennen, dass uns die objektiven Umstände in bestimmten Epochen politische Grenzen setzen. Es ist eine ganz andere Sache, eine historisch gewachsene Perspektive aufzugeben, die auf einem wissenschaftlichen Verständnis der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung beruht. Die kleinbürgerlichen Gruppen passen sich an die endlosen Litaneien an, dass der Marxismus tot sei. Diese Erklärungen finden sich in unzähligen zeitgenössischen Zeitschriften und Büchern wieder – auch in solchen, die sich kritisch mit den „Auswüchsen“ der Marktwirtschaft auseinandersetzen.

Die Autoren dieser Werke sind alle sehr darauf bedacht, ihren Lesern zu versichern, dass der Marxismus „gescheitert“ sei. Das hindert sie nicht daran, das eine oder andere Element der Kapitalismuskritik von Marx zu plagiieren. Dieser eklatante Widerspruch wird weder eingestanden noch erklärt.

Unsere Bewegung gründet sich historisch, theoretisch und politisch auf das Verständnis des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Stalinismus und Marxismus. Die Vierte Internationale hat in ihrer gesamten Geschichte betont, dass das Überleben der UdSSR letztlich vom Sturz der Sowjetbürokratie durch die Arbeiterklasse abhängt. Daher kam der Zusammenbruch der UdSSR für unsere Bewegung nicht überraschend.

Außerdem haben wir den Triumphalismus der internationalen Bourgeoisie nach 1991 nicht allzu ernst genommen, denn das Internationale Komitee verstand, dass die Krise, die zum Zusammenbruch der UdSSR führte, nur ein Aspekt einer systemischen Krise der Weltwirtschaft war.

Hinzu kommt, dass das Internationale Komitee seine Stärke aus seiner Fähigkeit bezog, die politische und theoretische Krise der internationalen Arbeiterklasse in einem reichhaltigen und strukturierten historischen Kontext zu sehen. Ungeachtet der Rückschläge, die die Arbeiterklasse erlitten hat, weist unsere Zeit gewisse revolutionäre Merkmale auf.

David North und Avner Zis in Moskau, Juni 1994

Bei meinem letzten Besuch in Russland traf ich mich mit Avner Zis, einem engen Freund von Wadim Rogowin, der zahlreiche Werke über Philosophie und Kultur verfasst hat und über ein enzyklopädisches Wissen verfügt. Heute, in seinen späten Achtzigern, ist Zis sehr pessimistisch. Er sieht in unserer Zeit nichts als kulturellen Niedergang und den Zerfall früherer theoretischer Errungenschaften.

Es ist verständlich, dass ein Mann von Zis' Alter und Bildung durch den aktuellen Verlauf der Ereignisse in der ehemaligen UdSSR zutiefst entmutigt wurde. Ich würde ihn nicht mit den Radikalen vergleichen. Sein Pessimismus ist nicht das Ergebnis von Zynismus, sondern von echter und humaner Sorge über die Folgen des Zusammenbruchs der UdSSR. Er beklagt nicht den Untergang des Stalinismus, sondern die damit einhergehende Zerstörung aller sozialen und kulturellen Errungenschaften der Sowjetunion. Außerdem beunruhigt ihn die offenkundige Degeneration des Denkens und der Kultur weltweit. Er könne, sagte er, der gegenwärtigen Situation nichts Ermutigendes abgewinnen. Darauf habe ich ihm Folgendes geantwortet:

„Alles, was du über den Niedergang der Kultur sagst, ist wahr. Es scheint, als habe die Menschheit einen Schritt zurück gemacht hat und sei von den geistigen Errungenschaften einer früheren Periode abgerückt.

Allerdings bist du ein großer Schülers Hegels. Hat uns Hegel nicht gelehrt, dass wir das menschliche Denken in all seinen Aspekten und Dimensionen untersuchen müssen? Der Stand und die Fähigkeit des menschlichen Denkens kommen nicht nur in Wort und Schrift zum Ausdruck, sondern auch in der gesamten menschlichen Tätigkeit, zu der auch Wissenschaft und Technologie gehören.

Unter diesem Gesichtspunkt muss man anerkennen, dass es trotz des offensichtlichen Niedergangs in vielen Bereichen der Kultur – Literatur, bildende Kunst, Musik, Film und natürlich Politik – in den letzten Jahrzehnten auch eine außerordentliche Explosion der menschlichen Kreativität gab.“

Was bedeutet diese Entwicklung für die Arbeiterklasse? Wenn wir die Macht und das befreiende Potenzial des Mikrochips – dieses außergewöhnlichen Produkts und Katalysators menschlicher Intelligenz – betrachten, finden wir neue Gründe für historischen Optimismus. Es wäre kurzsichtig, die vergangene Periode bloß als eine Zeit der allgegenwärtigen Reaktion zu betrachten. Sicherlich befinden wir uns in einer Periode politischer Verwirrung. Ihr historischer Ursprung sind die ungelösten Probleme der Russischen Revolution, die kolossalen Niederlagen der Arbeiterklasse in den 1930er und 1940er Jahren und die enormen Schwierigkeiten, mit denen die Wiederbelebung der Kultur verbunden ist, die durch die Kombination von faschistischem Holocaust und stalinistischem Terror gegen die fortschrittlichen Kräfte innerhalb der Arbeiterklasse so schwer geschädigt wurde.

Die menschliche Kultur ist zerbrechlich, und die Wunden, die ihr in zehn Jahren der konterrevolutionären Reaktion zugefügt werden, brauchen vielleicht noch viele Jahrzehnte, um zu heilen. Doch die Schöpferkraft der menschlichen Intelligenz hat in den letzten fünfzig Jahren nicht nachgelassen. Sie fand andere Ausdrucksformen, die vielleicht prosaischer und praktischer, aber in ihren langfristigen Auswirkungen dennoch revolutionär waren.

Der technologische Fortschritt hat neue Möglichkeiten eröffnet. Die Globalisierung der kapitalistischen Produktion trägt trotz des Elends, das sie mit sich gebracht hat, den Keim des revolutionären Fortschritts in sich. Sie macht die nationalen Grenzen obsolet und entzieht dem Nationalstaat jede rationale Existenzberechtigung. Darüber hinaus hat die Globalisierung der Produktion, mit der das Kapital endgültig in alle Teile der Welt vordringt, die Größe, die sozioökonomische Bedeutung und die potenzielle politische Macht der Arbeiterklasse enorm gesteigert. Noch vor wenigen Jahrzehnten fanden die großen Kämpfe, auf die die Revisionisten verwiesen, in Ländern statt, in denen die Bauernschaft nach wie vor die dominierende gesellschaftliche Kraft war. Dies war die Grundlage für eine Pandemie revisionistischer, kleinbürgerlicher und antimarxistischer Politik, die das Erbe des wissenschaftlichen revolutionären Denkens – vor allem das theoretische Erbe von Leo Trotzki – ablehnte. Angeführt von Mandel und Hansen verwarfen die pablistischen Opportunisten die Theorie der permanenten Revolution, die der Arbeiterklasse in den Kämpfen der rückständigen Länder die entscheidende historische Rolle zuschrieb, als „toten Hund“.

Aber jetzt gibt es infolge der globalisierten und integrierten kapitalistischen Produktion mächtige Kontingente des Proletariats in Ländern und Regionen, in denen noch vor 15 oder 20 Jahren eine moderne Industrie kaum oder gar nicht existierte. Vor zwanzig Jahren konnten Singapur, Malaysia, Indonesien, Thailand, Südkorea und Taiwan kaum als bedeutende Faktoren der Weltwirtschaft angesehen werden. Heute sind alle diese Länder wichtige Bestandteile der kapitalistischen Industrie und des Finanzwesens, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis eine rasch wachsende und heranreifende Arbeiterklasse die politische Macht der Bourgeoisie herausfordert.

Zudem wird die Bedeutung der Entwicklungen in diesen Ländern von den Auswirkungen des wirtschaftlichen und sozialen Wandels in Indien und China noch übertroffen.

Gleichzeitig bieten die enormen Fortschritte in der Kommunikationstechnologie unserer Bewegung die Möglichkeit, ein internationales Publikum zu erreichen und anzusprechen.

Vor zwölf Jahren arbeiteten die Modems mit 300 Baud. Heute arbeiten relativ preiswerte Geräte mit 28.800 Baud. Die Entwicklung schreitet außerordentlich rasant voran. Es ist kaum abwegig, vorauszusagen, dass die herkömmlichen Modems innerhalb eines Jahrzehnts durch internationale Netzwerksysteme abgelöst werden, die die praktisch sofortige Übertragung von Informationen ermöglichen. Dieses Zusammenspiel von Technologie und der enormen Ausdehnung der Arbeiterklasse schafft außergewöhnliche Möglichkeiten für die Entwicklung des Marxismus und die Wiederbelebung der internationalen sozialistischen Bewegung.

Vor allem aber verleihen diese Entwicklungen dem Internationalismus unserer Bewegung einen Grad an Konkretheit, der zuvor unerreichbar, wenn nicht gar unvorstellbar war. Der internationale Charakter der kapitalistischen Produktion, an dem unsere Bewegung als theoretische Grundlage der sozialistischen Bewegung festgehalten hat, ist jetzt eine unausweichliche und zunehmend offensichtliche praktische Realität für die gesamte Arbeiterklasse. Aus dieser objektiven Situation muss eine neue internationale Praxis und Bewegung der Arbeiterklasse hervorgehen. Das internationale Programm unserer Bewegung wird immer mehr Anknüpfungspunkte in den Kämpfen der Arbeiterklasse finden.

Unsere Perspektive, die sich auf eine realistische Einschätzung der Weltlage stützt, ist also von Optimismus durchdrungen. Wir sind nie subjektiv an die Geschichte herangegangen, wie es die Art der Radikalen ist. Die Geschichte ist uns nichts „schuldig“ und kann uns daher nicht enttäuschen. Wir versuchen, die objektiven Kräfte zu verstehen, die in ihrer Entwicklung zum Ausdruck kommen, und durch ein solches Verständnis unsere Partei zu einer ihrer stärksten Triebkräfte zu machen. Unser Vorschlag beruht letztlich auf der Anerkennung objektiver historischer Prozesse, die uns die Möglichkeit bieten, den Einfluss und die Autorität der Vierten Internationale zu erweitern.

Wir halten das Erbe der Vergangenheit in Ehren und schätzen es hoch. Zum Ende dieses Jahrhunderts sind wir davon überzeugt, dass Leo Trotzki die überragende politische Gestalt des 20. Jahrhunderts war. Das Studium und die Aneignung seiner Schriften bleiben die wesentliche Voraussetzung für die Wiedergeburt des internationalen Sozialismus.

Aber es wäre falsch und würde dem Geist der marxistischen Methode widersprechen, zu erwarten, in den Schriften Trotzkis eine Antwort auf jedes praktische Problem zu finden. Wir müssen in unserer Praxis kühn und innovativ sein. Wir müssen bereit sein, Risiken einzugehen.

Die Reaktion auf diesen Vorschlag ist ermutigend. Sie ist ein neuer Beweis dafür, dass die Genossen der SEP und des IKVI – trotz aller Schwierigkeiten, die wir durchgemacht haben – weiterhin entschlossen sind, sich nach außen und auf neue Weise an die Arbeiterklasse zu wenden.

Ich bin davon überzeugt, dass dieser Vorschlag enorme Möglichkeiten für die intelligente, kreative Nutzung unserer größten Stärke, der Kader dieser Bewegung, eröffnen wird. Welche Schwierigkeiten auch immer auftreten, wir werden Lösungen finden. Die Genossen werden neue Möglichkeiten finden, ihre politische Erfahrung und Kreativität einzubringen, und darin liegt die Garantie für den Erfolg dieser Initiative.


[1]

David North, »Politischer Bericht zu den Perspektiven des Internationalen Komitees der Vierten Internationale«, in: Vierte Internationale, Jg. 15, Nr. 1, Frühjahr 1988, S. 74.

[2]

Ebd., S. 78.

[3]

Ebd., S. 87.

[4]

Internationales Komitee der Vierten Internationale, »Die kapitalistische Weltkrise und die Aufgaben der Vierten Internationale«, in: Die Vierte Internationale und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, Essen 2022, S. 331.

[5]

Ebd., S. 400.

[6]

David North, »Dreizehnter Kongress der Workers League«, in: Vierte Internationale, Jg. 15, Nr. 3–4, S. 41, 42.

[7]

David North, »Die Gründung einer neuen Partei in den USA«, zitiert in: IKVI, Die Vierte Internationale und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, ebd., S. 265.

[8]

David North, »Kapital, Arbeit und Nationalstaat«, in: Vierte Internationale, Jg. 20, Nr. 1, S. 12, 13.

[9]

Professional Air Traffic Controllers Association (PATCO), amerikanische Fluglotsengewerkschaft.

[10]

Wladimir I. Lenin, »Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus«, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1978, S. 102.

[11]

Ebd., S. 107.

[12]

Rosa Luxemburg, »Sozialreform oder Revolution?«, in: Gesammelte Werke, Bd. 1.1, Berlin 1974, S. 391.

[13]

William Greider, One World, Ready or Not: The Manic Logic of Global Capitalism, New York 1997, S. 57.

[14]

Ebd., S. 64.

[15]

Ebd., S. 66.

[16]

Ebd., S. 74–75.

[17]

Ebd., S. 79.

[18]

Karl Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Marx Engels Werke, Bd. 8, Berlin 1972, S. 115.

[19]

David North, »Die Gründung einer neuen Partei in den USA«, in: Internes Bulletin des Bunds Sozialistischer Arbeiter, 15. September 1995, S. B10.