Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Das Anwachsen des Opportunismus in der SPD

14. Die SPD war nie eine homogene Partei. 1875 machte der Vereinigungsparteitag von Gotha zahlreiche Zugeständnisse an die Anhänger des 1864 verstorbenen Ferdinand Lassalle. Marx übte scharfe Kritik am Gothaer Programm, dem er vorwarf, es sei „durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet“. Lassalle wollte den Sozialismus mit Hilfe des preußischen Staats errichten, den er als über den Klassen stehende Institution betrachtete. Er hatte sich sogar heimlich mit Bismarck getroffen, um dessen Konflikte mit der Bourgeoisie im Interesse der Arbeiterklasse auszunutzen. Er rechtfertigte diese opportunistische „Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie“ (Marx) damit, dass gegenüber der Arbeiterklasse „alle andren Klassen nur eine reaktionäre Masse“ seien. Diese ultralinke Phrase verwischte den Unterschied zwischen demokratischem Kleinbürgertum, liberaler Bourgeoisie und feudaler Reaktion. Sie fand sich auch im Gothaer Programm wieder und wurde von Marx empört zurückgewiesen. [5]

15. Nach Gotha gerieten Lassalles Anhänger in die Defensive und der Marxismus setzte sich als offizielle Doktrin der Partei durch. Doch nach der Aufhebung der Sozialistengesetze erhielt Lassalles Perspektive, unter den Fittichen des preußischen Despotismus eine Art nationalen Sozialismus zu verwirklichen, neuen Auftrieb. Im Juni 1891 hielt der bayrische Sozialdemokrat Georg von Vollmar im Münchner Eldorado-Palast zwei viel beachtete Reden, in denen er die Partei aufforderte, die Schlagworte der Vergangenheit fallen zu lassen und zu einer praxisorientierten demokratischen Reformbewegung zu werden. Der Partei sei am besten gedient durch Bemühungen, „auf der Grundlage der heutigen Staats – und Gesellschaftsordnung Verbesserungen wirtschaftlicher und politischer Art herbeizuführen“. Vollmar wandte sich ausdrücklich gegen den Internationalismus der SPD. Wer kein Träumer sei, müsse anerkennen, „dass die Verschiedenheiten des Volkstums und der Gemeinwesen tief begründet“ seien, sagte er und warnte vor „einer widersinnigen Verneinung eines berechtigten, gesunden nationalen Lebens und der daraus auch für uns erwachsenden Pflichten“. Er lobte den Dreibund, das imperialistische Bündnis zwischen Deutschland, Österreich und Italien, als eine dem Frieden dienende Kraft und drohte, jede Macht, die den Frieden durch einen Angriff auf deutschen Boden breche, werde sich der Streitmacht der deutschen Arbeiterklasse gegenüber sehen. [6]

16. Vollmars Eldorado-Reden wurden zum Manifest des Revisionismus, den Eduard Bernstein sieben Jahre später in seinem Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus theoretisch untermauerte. Bernstein behauptete, die Entwicklung des Kapitalismus habe die ökonomische Analyse von Marx widerlegt, und verspottete dessen Prognose, der Kapitalismus werde aufgrund seiner inneren Widersprüche in eine tiefe Krise geraten, als „sozialistische Katastrophitis“. Der Kapitalismus habe „Anpassungsmittel“ entwickelt, mit denen er periodische Krisen dämpfen und überwinden könne. Der Sozialismus sei keine historische Notwendigkeit, sondern das Endresultat allmählicher Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Er sei kein Ergebnis des Klassenkampfs, sondern das Produkt moralischer und humanistischer, mit Kants kategorischem Imperativ begründeter Grundsätze.

17. Damit wies Bernstein die sozialistische Perspektive selbst zurück. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Antwort auf Bernstein zeigte, führt die Ablehnung der marxistischen Krisentheorie zwangsläufig zur Preisgabe des Sozialismus. Luxemburg schrieb, entweder folge die sozialistische Umgestaltung aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung oder „es sind die ‚Anpassungsmittel‘ wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft.“ Wenn Bernstein in Bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung Recht habe, verwandle „sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie“. [7]


[5]

Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW, Bd. 19, S. 22-28

[6]

Georg von Vollmar, Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie, München 1891

[7]

Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Gesammelte Werke, Band 1, Berlin 1990, S. 377