Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Die deutsche Linke Opposition und der Leninbund

50. In der KPD galt Trotzki nach 1923 als Rechter, weil er sich weigerte, den Parteivorsitzenden Heinrich Brandler zum alleinigen Sündenbock für die Oktoberniederlage zu stempeln. Ruth Fischer und Arkadi Maslow, zwei Vertreter des linken Flügels, die Brandler an der Parteispitze ablösten, waren Anhänger Sinowjews und unterdrückten die Dokumente der Linken Opposition. Erst als sich Sinowjew mit Stalin überwarf und mit der Linken Opposition verbündete, entbrannte auch in der KPD ein heftiger Fraktionskampf. Fischer und Maslow wurden auf Betreiben Moskaus abgelöst und aus der Partei ausgeschlossen. An ihre Stelle trat Ernst Thälmann, der sich zum treuen Erfüllungsgehilfen Stalins entwickelte. Am 1. September 1926 bezogen 700 prominente KPD-Mitglieder in einem Brief öffentlich Stellung für die russische Vereinigte Opposition. Sie wiesen die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ zurück und forderten eine offene Diskussion über die russische Frage in den Reihen der KPD. Im April 1928 gründeten sie den Leninbund.

51. Trotzkis Unterstützer bildeten im Leninbund die Minderheit. Die Mehrheit, einschließlich des Führers Hugo Urbahns, bestand aus Anhängern Sinowjews. Im Leninbund lebten viele der ultralinken Standpunkte weiter, die die Komintern unter Lenin und Trotzki bekämpft hatte. Er neigte zu kleinbürgerlicher Ungeduld und prinzipienlosen Manövern, stellte nebensächliches Gezänk über Grundsatzfragen und entschied internationale Fragen nach nationalen Kriterien. 1929/30 kam es zum Bruch zwischen dem Leninbund und der Linken Opposition. Als Trotzki den Leninbund offen kritisierte, schloss dieser seine Anhänger aus. Im Mittelpunkt der Differenzen standen der Klassencharakter der Sowjetunion und die internationale Orientierung der Opposition.

52. Der Leninbund vertrat die Auffassung, die Konterrevolution habe in der Sowjetunion bereits gesiegt. Trotzki lehnte diese defätistische Haltung ab, die den Kampf für einen Kurswechsel der KPdSU und der Kommunistischen Internationale von vornherein verloren gab. Er bezeichnete den Wortradikalismus der Urbahns-Gruppe, die Stalins Herrschaft mit der Rückkehr der Bourgeoisie an die Macht gleichsetzte, als „umgedrehten Reformismus“. Schon die französische Bourgeoisie habe im Thermidor des Jahres 1794 den Plebejern die Macht nur durch einen Bürgerkrieg entreißen können, schrieb Trotzki, „wie kann man dann annehmen oder glauben, die Macht des russischen Proletariats könne auf friedlichem, ruhigem, unmerklichem, bürokratischem Wege an die Bourgeoisie übergehen?“ Er wies darauf hin, dass die wichtigsten Errungenschaften der Oktoberrevolution unangetastet blieben: „Die Produktionsmittel, die einst den Kapitalisten gehörten, sind bis heute in den Händen des Sowjetstaats. Der Boden ist nationalisiert. Die Ausbeuter sind noch immer von den Sowjets und der Armee ausgeschlossen. Das Außenhandelsmonopol bleibt ein Bollwerk gegen die ökonomische Intervention des Kapitalismus.“ Daraus folgerte Trotzki: „Der Kampf geht weiter, die Klassen haben ihr letztes Wort noch nicht gesprochen.“ [25] Der Leninbund war der Vorläufer einer ganzen Reihe politischer Tendenzen, deren Abwendung vom Marxismus mit der Weigerung begann, die Sowjetunion – trotz und gegen das stalinistische Regime – als Arbeiterstaat zu verteidigen.

53. Der zweite Streitpunkt mit der Urbahns-Gruppe betraf die Frage des Internationalismus. Sie beurteilte internationale Fragen nach nationalen Gesichtspunkten und tat sich im Kampf gegen Trotzki mit internationalen Gruppierungen zusammen, mit denen sie in keiner grundsätzlichen Frage übereinstimmte. Trotzki bemerkte, ihr „Internationalismus“ sei nichts weiter als „die arithmetische Summe nationaler opportunistischer Taktiken“. In einem Offenen Brief an die Mitglieder des Leninbunds betonte Trotzki, dass sich die Linke Opposition nur als internationale Organisation entwickeln könne: „Wer glaubt, die Internationale Linke werde irgendwann als Summe nationaler Gruppen Gestalt annehmen und der internationale Zusammenschluss könne daher auf unbestimmte Zeit verschoben werden, bis die nationalen Gruppen ‚erstarkt sind’, schreibt dem internationalen Faktor nur eine zweitrangige Bedeutung zu und beschreitet gerade deshalb den Weg des nationalen Opportunismus. Jedes Land besitzt unbestreitbar große Besonderheiten, aber in unserer Epoche können diese Besonderheiten nur von einem internationalistischen Standpunkt her richtig bewertet und ausgenutzt werden. Andererseits kann nur eine internationale Organisation Träger der internationalen Ideologie sein. Kann jemand ernsthaft glauben, isolierte nationale Oppositionsgruppen, die unter sich gespalten und auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen sind, könnten von sich aus den richtigen Weg finden? Nein, das ist der sichere Weg zur nationalen Degeneration, zum Sektierertum und zum Ruin. Die Internationale Opposition steht vor enorm schwierigen Aufgaben. Nur wenn sie untrennbar miteinander verbunden sind, nur wenn sie auf alle gegenwärtigen Probleme gemeinsame Antworten ausarbeiten, nur wenn sie ihre internationale Plattform entwickeln, nur wenn sie gegenseitig jeden ihrer Schritte überprüfen, das heißt, nur wenn sie sich in einer einzigen internationalen Organisation zusammenschließen, werden die nationalen Gruppen der Opposition ihren historischen Aufgaben gewachsen sein.“ [26]

54. Die Urbahns-Gruppe rechtfertigte die Ablehnung einer internationalen Disziplin mit ihrem Recht auf innerparteiliche Demokratie. Trotzki wandte sich gegen diesen Versuch, „unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Bürokratismus der Dritten Internationale die Tendenzen und Praktiken der Zweiten Internationale einzuschmuggeln“. Er antwortete: „Wir stehen nicht für Demokratie im Allgemeinen, sondern für zentralistische Demokratie. Eben aus diesem Grund stellen wir die nationale Führung über die lokale und die internationale Führung über die nationale. Die revolutionäre Partei hat nichts mit einem Diskussionsclub gemein, zu dem jeder hinkommt wie zu einem Café. Die Partei ist eine Organisation zum Handeln. Die Einheit der Ideen der Partei wird durch demokratische Kanäle gesichert, aber der ideologische Rahmen der Partei muss strikt abgegrenzt werden.“ Das gelte umso mehr für eine Fraktion, die „durch die engst mögliche Auswahl und Konsolidierung ihrer Gesinnungsgenossen“ die Kommunistische Partei und andere Organisationen beeinflussen wolle. „Es wäre fantastisch und absurd, von der Linken Opposition zu verlangen, dass sie zu einer Vereinigung aller möglichen nationaler Gruppen und Grüppchen wird, die unzufrieden, beleidigt und voller Protest sind und nicht wissen, was sie wollen.“ [27]

55. Die aus dem Leninbund ausgestoßenen Trotzkisten formierten sich im Frühjahr 1930 zur deutschen Linken Opposition. Sie führten einen mutigen politischen Kampf, um den falschen Kurs der Kommunistischen Partei zu korrigieren und den kommunistischen Einfluss in der Arbeiterklasse zu stärken. In einer Grußbotschaft an die erste Reichskonferenz der Linken Opposition im September 1930 wandte sich Trotzki gegen die „grundfalsche Einschätzung“, ein Anwachsen des Einflusses der KPD stärke die stalinistische Parteileitung. Das sei „die Grundlage jeder Art ultralinken und pseudolinken Sektierertums“. Vielmehr werde „eine wirkliche Radikalisierung der Massen und ein Zustrom von Arbeitern unter das Banner des Kommunismus nicht die Festigung des bürokratischen Apparats, sondern seine Erschütterung, seine Schwächung bedeuten“. „Was die Opposition zugrunde richten könnte“, warnte Trotzki, sei „die Mentalität einer Winkelgassensekte, die von Schadenfreude und Defätismus lebt, ohne Hoffnung und Perspektiven.“ [28]

56. Die deutsche Linke Opposition arbeitete unter enormem politischem Druck und großen materiellen Schwierigkeiten. Der schmerzhafte Zerfallsprozess der KPD hatte auch in ihren Reihen Spuren hinterlassen, die sich in heftigen subjektiven Spannungen äußerten und mit destruktiven, bürokratischen Methoden ausgetragen wurden. Trotzki bemühte sich in zahlreichen persönlichen Briefen, diese Konflikte zu überwinden. Im Februar 1931 nahm er schließlich in einem Brief an alle Sektionen der Internationalen Linken Opposition zur Krise der deutschen Linksopposition Stellung. Er führte die Probleme auf die Zerstörung zurück, die „das administrative Verhalten der Epigonen [d.h. der Stalinisten] auf dem Gebiet der Grundsätze, Ideen und Methoden des Marxismus“ seit 1923 angerichtet habe. Die Linke Opposition müsse auf einem Boden aufgebaut werden, „der mit den Überbleibseln und Trümmern früherer Zusammenbrüche übersät“ sei. In scharfem Ton geißelte Trotzki dann das in der deutschen Sektion vorherrschende Cliquenwesen. „Der Geist der Zirkelmentalität (du für mich und ich für dich) ist die verachtenswürdigste organisatorische Krankheit“, schrieb er. „Mit Hilfe dieser Mentalität kann man eine Clique um sich sammeln, aber keine Gruppe von Gesinnungsgenossen.“ Er wandte sich gegen „das Herumspielen mit Grundsätzen, journalistische Oberflächlichkeit, moralische Laxheit und ‚Pseudounversöhnlichkeit‘ im Namen persönlicher Launen.“ Nach Trotzkis Auffassung konnte die Krise der deutschen Linksopposition nur mit „aktiver internationaler Hilfe“ gelöst werden. Er forderte den sofortigen Stopp aller organisatorischen Vergeltungsmaßnahmen sowie die Einsetzung einer Kontrollkommission und die Vorbereitung einer Parteikonferenz in enger Zusammenarbeit mit dem Internationalen Sekretariat. Die Gruppe um Kurt Landau, die in der Berliner Reichsführung die Mehrheit hatte, war nicht bereit, ihre Cliqueninteressen dem Internationalen Sekretariat unterzuordnen. Sie lehnte Trotzkis Brief rundweg ab, schloss ihre Rivalen nach und nach aus und brach schließlich selbst mit der internationalen Organisation. [29]

57. Die Spannungen in der deutschen Linksopposition wurden durch Agenten des stalinistischen Geheimdiensts GPU ausgenutzt und verschärft. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die aus Litauen stammenden Brüder Ruvin und Abraham Sobolevicius, die unter den Parteinamen Roman Well und Adolf Senin eine führende Rolle in der Leipziger Gruppe spielten, die in scharfem Konflikt zur Berliner Gruppe um Kurt Landau stand. Beide arbeiteten damals für die GPU, wie Senin drei Jahrzehnte später vor einem New Yorker Untersuchungsrichter zu Protokoll gab, nachdem er unter dem Namen Jack Soble als sowjetischer Agent enttarnt worden war. Sie betätigten sich sowohl als Informanten wie als Agents provocateurs. So übermittelten sie Trotzki regelmäßig ihre Version der Konflikte in der deutschen Linksopposition und verschafften sich Zugang zu sensiblen Informationen aus seinem Umfeld und dem seines Sohnes Leon Sedov. Als sich die politische Krise in Deutschland Mitte 1932 zuspitzte, bekannten sie sich offen zum stalinistischen Lager und veröffentlichten – zehn Tage vor Hitlers Machtübernahme – eine gefälschte Ausgabe der Zeitung Permanente Revolution, die den Bruch der deutschen Linksopposition mit Trotzki verkündete und von der stalinistischen Presse begeistert aufgegriffen wurde.

58. Trotzki äußerte sich unter dem Titel „Ernste Lehren aus einer unernsten Sache“ zum „Fall Well“. Er vermutete eine direkte Verbindung zum stalinistischen Geheimdienst, maß dem Fall aber auch eine weitergehende politische Bedeutung zu. Senin und Well, schrieb er, „gehören zu jenem unter der schwankenden Intelligenz und Halbintelligenz ziemlich verbreiteten Typus, für den die Ideen und Prinzipien an zweiter Stelle stehen und an erster die Sorge um die persönliche ‚Unabhängigkeit’, die auf einem bestimmten Stadium in die Sorge um die persönliche Karriere übergeht.“ Während es dem Arbeiter schwer falle, sich aus einem Land ins andere zu bewegen, Fremdsprachen zu beherrschen und Artikel zu schreiben, setze sich „der leichtbewegliche Intellektuelle, der weder durch Erfahrungen noch durch Kenntnisse beschwert ist, dafür aber ‚alles‘ und ‚alle‘ kennt, überall anwesend und imstande ist, mit dem linken Fuß Artikel über alles zu schreiben, sich nicht selten der Arbeiterorganisation auf den Hals“. Trotzki schloss daraus, die Linke Opposition müsse sich ernsthaft „der Vorbereitung und Schulung neuer Kader aus der proletarischen Jugend“ widmen. „Hand in Hand mit dem politischen Kampf“ müsse „eine systematische theoretisch-erzieherische Arbeit“ über die revolutionäre Konzeption, die Geschichte und die Tradition der Linken Opposition geleistet werden. „Nur auf dieser Grundlage kann man einen wirklichen proletarischen Revolutionär erziehen. Zwei, drei vulgarisierte Losungen wie ‚Massenarbeit’, demokratischer Zentralismus’, ‚Einheitsfront‘ usw. – das genügt vielleicht für die Brandlerianer oder für die SAP, aber nicht für uns.“ [30]

59. Trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche, der wütenden Verfolgung durch die stalinistische KPD-Führung, der zerstörerischen Arbeit stalinistischer Provokateure in ihren Reihen und Unterdrückungsmaßnahmen des bürgerlichen Staats fand die deutsche Linke Opposition beachtliches Gehör. Sie baute Ortsgruppen in mehreren Dutzend Städten auf und gewann Einfluss in Betrieben. Trotzkis Schriften fanden großen Absatz unter Mitgliedern der KDP, der SPD und der SAP. So erreichten die Broschüren Soll der Faschismus wirklich siegen? und Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen 1932 Auflagen von jeweils über 30.000 Stück.


[25]

LeoTrotzki, Die Verteidigung der Sowjetrepublik und die Opposition, in: Schriften 1.1, S. 102-103

[26]

Leon Trotsky, An Open Letter to All Members of the Leninbund, in: Writings of Leon Trotsky (1930), New York 1975, S. 91, 92 (aus dem Englischen)

[27]

ebd., S. 93-94

[28]

Leo Trotzki, An die Reichskonferenz der Linken Opposition, in: Schriften über Deutschland, Band 1, Frankfurt 1971, S. 72-74

[29]

The Crisis in the German Left Opposition, in: Writings of Leon Trotsky (1930-31), New York 1973, S.147, 151, 150

[30]

Leo Trotzki, Ernste Lehren aus einer unernsten Sache, in: Schriften über Deutschland, Band II, Frankfurt 1971, S. 433, 436