Deutlicher Rechtsruck bei den Wahlen in den Niederlanden

Hohe Stimmenverluste der regierenden Sozialdemokraten

Die konservativen Christdemokraten (CDA) und die erst vor drei Monaten gegründete Liste Pim Fortuyn (LPF) des ermordeten Rechtspopulisten gleichen Namens sind die Sieger der Parlamentswahl vom 15. Mai in den Niederlanden.

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis eroberte die CDA 43 der 150 Sitze in der zweiten Kammer des holländischen Parlaments. Das ist ein Zugewinn von 14 Sitzen. Damit stellt die CDA die stärkste Parlamentsfraktion und ihr Vorsitzender Jan Peter Balkenende, ein 46-jähriger Philosophieprofessor, wird voraussichtlich neuer Ministerpräsident. Die Liste Pim Fortuyn gewann auf Anhieb 26 Parlamentssitze.

Die sozialdemokratische Partei der Arbeit (PvdA) des bisherigen Ministerpräsidenten Wim Kok verlor fast die Hälfte ihrer Parlamentssitze, ein historischer Zusammenbruch. Statt bisher 45 hat sie nur noch 23 Abgeordnete. Es handelt sich um die größte Wahlniederlage der Sozialdemokraten seit dem Zweiten Weltkrieg. Ad Melkert, der Nachfolger Koks als Parteiführer und PvdA-Spitzenkandidat, kündigte noch in der Wahlnacht seinen Rücktritt an. Seit 1994 hatte eine Mitte-Links-Koalition unter dem scheidenden Ministerpräsidenten Wim Kok das Land regiert.

Auch der liberale Regierungspartner, die Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), musste schwere Verluste hinnehmen. Von bisher 38 sank sie auf ebenfalls 23 Sitze. Der dritte Koalitionspartner, die Demokraten ´66 (D66), verteidigte nur sieben von 14 Parlamentssitzen. Insgesamt verloren die Regierungsparteien 43 ihrer bisher 97 Sitze im Parlament. Die Wahlbeteiligung lag mit über 80 Prozent deutlich höher als vor vier Jahren (73,2 Prozent).

Der voraussichtliche neue Regierungschef Jan Peter Balkenende (CDA) kündigte an, er werde eine Dreier-Allianz aus Christdemokraten, Liberalen (VVD) und der Liste Pim Fortuyn anstreben. Ob dies allerdings gelingt, ist nicht sicher. Nach dem Mord an Pim Fortuyn zeigt sich, dass die von ihm gegründete Liste zwar zweitstärkste Partei wurde, aber politisch äußerst instabil ist. Sie verfügt weder über ein politisches Programm noch über eine fest gefügte Parteistruktur oder politisch erfahrenes Führungspersonal. Zu ihren bekanntesten Vertretern gehören ein Geschäftsmann aus Rotterdam, der Vorsitzende eines Verbandes der Lebensmittelindustrie, einige persönliche Freunde Fortuyns, ein Schweinezüchter und eine frühere Miss Holland. Es gibt bereits jetzt heftige interne Konflikte und Zerfallsanzeichen.

Doch wie immer die Regierung letztendlich aussieht, wird sie sich auf ein Mandat für eine Politik berufen, wie sie Fortuyn zum Aufstieg verholfen hat - Einwanderungsstop, Ablehnung des Islam sowie Law and Order, verhüllt mit einem fadenscheinigen liberalen Schleier im Bereich des Drogenkonsums und der sexuellen Freizügigkeit.

Obwohl die Wahlen in einer politisch stark aufgehetzten Atmosphäre nach dem Mord an Pim Fortuyn stattfanden und deshalb in vielen Presseberichten über spezifisch niederländische Verhältnisse gesprochen wird, ist die Wahlentscheidung hinter dem Nordseedeich doch charakteristisch für die gegenwärtige politische Entwicklung in Europa. Nach Österreich, Italien, Portugal und jüngst Frankreich wurde nun auch in Den Haag die sozialdemokratische Regierungskoalition abgewählt.

Sozialdemokratische Bilanz

In den vergangenen acht Jahren galt die Regierung Kok als Musterbeispiel sozialdemokratischer Reformpolitik. Immer wieder wurde das sogenannte Poldermodell als Vorbild für Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen gepriesen. Doch die soziale und politische Bilanz der Regierung Kok ist verheerend.

Vor knapp zwanzig Jahren, im Herbst 1982, hatten Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände den sogenannten "Vertrag von Wassenaar" geschlossen, der als Grundstein des nach einem Begriff aus dem Deichbau benannten Poldermodells gilt. Die Gewerkschaften stimmten langfristigen Lohnsenkungen und einer Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen zu, während die Unternehmer in großem Umfang Teilzeitarbeit anboten und die Regierung eine drastische Senkung der Unternehmenssteuern zusicherte. Gleichzeitig wurden die staatlichen Sozialausgaben drastisch gekürzt, um den Staatshaushalt zu sanieren.

Die Niedriglöhne kurbelten die Exportwirtschaft an, die offizielle Zahl der Arbeitslosen fiel von fast zehn Prozent im Jahr 1983 auf unter drei Prozent im vergangenen Jahr. Beim Wirtschaftswachstum lagen die Niederlande über dem EU-Durchschnitt und auch die Staatsverschuldung wurde zurückgefahren.

Der britische Economist sprach vom "Dutch Delight", und Bundeskanzler Schröder stattete, kaum im Amt, dem Nachbarland einen Besuch ab, um sich Anregungen für sein eigenes "Bündnis für Arbeit" zu holen. Aus dem "kranken Mann am Deich" war der "europäische Musterknabe" geworden. (Financial Times Deutschland)

Doch mit der Teilzeitabeit und den Billiglohnjobs stieg das aus den USA bekannte Phänomen der "working poor". Gegenwärtig haben weit mehr als ein Drittel der Beschäftigten nur einen Teilzeitjob, oft nicht mehr als zwölf Stunden in der Woche, bei extrem niedriger Bezahlung. Das sind doppelt so viele Teilzeitbeschäftigte wie in Deutschland.

Ein Amsterdamer Institut hat kürzlich einen Bericht über "die führende Teilzeitwirtschaft der Welt" veröffentlicht, der die sozialen Auswirkungen dieser Entwicklung deutlich macht. Seit 1970 sind die Teilzeitarbeitsplätze in der holländischen Wirtschaft innerhalb der OECD auf Rekordhöhe geklettert, mit zunehmendem Tempo im letzten Jahrzehnt. Von 1,9 Millionen (31,4% aller Beschäftigten) im Jahr 1988 ist die Zahl der Teilzeitbeschäftigten auf 2,7 Millionen (36,9%) im Jahr 1997 gestiegen. Die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze hat sich in diesen neun Jahren um mehr als 40% erhöht, die der Vollzeitarbeitsplätze lediglich um 10%.

Auch die Zahl der Selbständigen ist stark angestiegen, von 150.000 im Jahr 1987 auf 757.000 im Jahr 1997. In ähnlicher Weise hat die Zeitarbeit, Leiharbeit und Arbeit auf Abruf zugenommen. 1997 lag das Einkommen von einer Million Haushalte (bei einer Gesamtbevölkerung von 16 Millionen) unter der Armutsgrenze. 40% davon, knapp 800.000 Personen, lebten schon seit fünf Jahren in Armut.

In den großen Städten wie Rotterdam, Amsterdam und Den Haag wuchsen die Elendsviertel. Immer mehr Kosten wurden auf die Kommunen abgewälzt, die immer schärfere Sparmaßnahmen durchsetzen.

Durch die niedrigen Löhne für Lehrer stieg der Lehrermangel. Die Kürzungen im Bildungssystem hatten katastrophale Auswirkungen. Das Gesundheitssystem steht vor dem Zusammenbruch. In den Medien häufen sich Berichte über Kranke, die auf den langen Wartelisten für wichtige Operationen sterben, oder andere, die mit Blaulicht über die Grenze nach Deutschland gebracht werden, weil es in Holland an medizinischen Gerätschaften fehlt.

Während die Regierung die Unternehmer großzügig von Steuern und Abgaben entlastete, wurden gleichzeitig die indirekten Steuern angehoben, unter anderem die Mehrwertsteuer um 1,5 Prozent im vergangenen Jahr.

Mitte letzten Jahres geriet die Regierung Kok auch von Seiten der Unternehmerverbände stark unter Druck. Wirtschaftsanalysen wiesen nach, dass die Arbeitsproduktivität in Holland deutlich niedriger als im EU-Durchschnitt sei. Unter den Auswirkungen der globalen Flaute bauten wichtige Arbeitgeber, wie der Elektronikkonzern TNC Phillips, Tausende Arbeitsplätze ab. Das Wirtschaftswachstum sank im letzten Quartal 2001 auf den niedrigsten Stand seit 1993 und verlangsamte sich in diesem Jahr weiter. Laut OECD "gehen die Niederlande zur Zeit durch eine Prüfung. Die Wirtschaft unterliegt nicht länger einem anhaltenden, inflationsfreiem Wachstum."

Die Inflation stieg 2001 auf fünf Prozent. Laut Spiegel sind die Zahlen "schlimmer als sie aussehen. Vor allem die Arbeitslosenziffern sind tüchtig geschönt. Die reale Quote liegt nach Berechnungen der Consulting-Gesellschaft McKinsey etwa zwölf Prozentpunkte höher, als die Statistik angibt, also irgendwo auf der Höhe von Thüringen und Kalabrien."

Rechte Offensive

Unter diesen Bedingungen bereiteten Teile der herrschenden Elite in Holland einen politischen Wechsel vor. Vor acht Monaten übernahm der junge Philosophieprofessor Jan Peter Balkenende die Führung der größten Oppositionspartei CDA und erhielt aus Unternehmerkreisen die Zusage einer großzügigen Finanzierung seines Wahlkampfes. Zur selben Zeit wurden auch die politischen Initiativen von Pim Fortuyn von einflussreichen Kreisen finanziell unterstützt.

Der Christlich Demokratische Appell (CDA) ist die traditionelle bürgerliche Partei in den Niederlanden und mit 120.000 Mitgliedern auch die mitgliederstärkste Partei des Landes. Bevor die CDA bei den Wahlen vor acht Jahren starke Einbußen erlitt und mit einem Verlust von 20 Mandaten auch ihre Stellung als stärkste Fraktion an die Sozialdemokraten abgeben musste, war sie 70 Jahre lang ununterbrochen an der Regierung in Den Haag beteiligt.

Unter Führung von CDA-Ministerpräsident Lubbers war vor zwanzig Jahren das Abkommen von Wassenaar zustande gekommen. Als die CDA Anfang der neunziger Jahre in einer Großen Koalition mit der PvdA versuchte, die Renten zu kürzen und die Altersversorgung umzustellen und teilweise zu privatisieren, wurde sie abgewählt. Die Sozialdemokraten setzten die Politik des Poldermodells in einer Mitte-Links-Koalition fort.

In der Oppositionszeit vollzog die CDA, in der auch die Katholische Volkspartei und die Christlich-Historische Union aufgegangen sind, einen deutlichen Rechtsruck. Die frühere Rhetorik über christliche Werte und gesellschaftlichen Konsens und Ausgleich wurde durch eine klassische neoliberale Wirtschaftpolitik ersetzt. Mehr Innere Sicherheit, härtere Strafen und beschleunigte Privatisierung staatlicher Einrichtungen lauteten die Kernaussagen von Balkenendes Wahlkampf.

In diesem Zusammenhang müssen auch die Stimmengewinne für die Liste Pim Fortuyn (LPF) verstanden werden. Während buchstäblich alle etablierten Parteien in der einen oder anderen Weise in die offizielle Politik eingebunden waren, für jeden sichtbare Ämterpatronage betrieben und buchstäblich niemand auch nur das geringste Interesse an den wachsenden sozialen Problemen hatte, mit denen viele Menschen konfrontiert sind, konnte Fortuyn mit seiner Demagogie gegen die Konsensgesellschaft und seinen Attacken auf die "Sorry-Politik", die sich für alles entschuldigt, aber nichts ändert, an Einfluss gewinnen.

Nur ein Beispiel: Fortuyn konnte seine Angriffe auf Vetternwirtschaft und die Verweigerung von Strafverfolgung gegen Politiker und Beamte auch bei gravierendem Fehlverhalten meist mit Fakten belegen. So wurde gegen die Behördenvertreter und Lokalpolitiker, die durch ihre Schlamperei wesentlich zu der Feuerwerkskatastrophe in Enschede von zwei Jahren beitrugen, nicht einmal Anklage erhoben. Die beiden angeklagten Firmenmanager mussten für ihre Mitschuld an dem Desaster, das einen ganzen Stadtteil in Schutt und Asche legte und 22 Menschen tötete, für je drei Monate ins Gefängnis und erhielten weitere drei Monate auf Bewährung.

Fortuyns Angriffe auf das politische Establishment und dessen Vernachlässigung sozialer Einrichtungen haben ihm ohne Zweifel die Unterstützung von Teilen der Arbeiterklasse, einschließlich einiger Immigranten eingebracht, die erbost über den sozialen Niedergang unter der Mitte-Links-Koalition waren. Im Grunde genommen war Fortuyn aber der Vertreter einer kleinen, enorm reichen Schicht der Mittelklasse, die der Wirtschaft nahe steht und stark von den Angriffen auf den Lebensstandard der Arbeiter in den 80er und 90er Jahren profitiert hat. Diese Schicht war ebenfalls über die Politik der alten Regierungskoalition enttäuscht. Ihr gingen die Angriffe auf den Lebensstandard nicht schnell genug.

Im Wesentlichen besteht die Rolle der LPF darin, mit Unerstützung erheblicher Teile der Wirtschaft und der Medien die Empörung und politische Verwirrung in der Arbeiterklasse auszunutzen, um eine rechte Regierung an die Macht zu bringen, in der ihre Hintermänner aus der Wirtschaft das Sagen haben. Sie stellt einen Versuch von Teilen der herrschenden Elite dar, ein Ventil für die weitverbreitete Unzufriedenheit zu schaffen, indem Einwanderer und der Islam für alle sozialen Übel verantwortlich gemacht werden. Auf diese Weise sollen die Arbeiterlasse gespalten und neue Angriffe auf soziale Errungenschaften und demokratische Rechte vorbereitet werden.

Die Kluft zwischen großen Teilen der Gesellschaft, deren Lebensstandard unterhöhlt wurde und weiter sinkt, und den Forderungen der gesellschaftlichen Elite ist die treibende Kraft der politischen und gesellschaftlichen Krise in den Niederlanden. Ohne Zweifel haben viele die LPF gewählt, um gegen die PvdA zu protestieren, ohne dass sie sämtliche Ansichten Fortuyns unterstützen. Viele mehr sind entsetzt über den plötzlichen Aufschwung von Ausländerhass und Islamfeindlichkeit, aber wissen keine politische Antwort.

Dass die Rechte und ihre Hintermänner aus der Wirtschaft vom Kollaps der niederländischen Sozialdemokratie profitieren konnten, sollte ein Warnsignal für die Niederlande und ganz Europa sein. Es ist dringend notwendig, wirklich unabhängige politische Parteien der Arbeiterklasse auf der Grundlage eine internationalen sozialistischen Programms aufzubauen.

Siehe auch:
Das Poldermodell: Wie Regierung, Gewerkschaften und Unternehmer die Umverteilung hinter den Deichen organisieren
(1. Mai 1998)
Die Kehrseite des holländischen Modells: 18 Tote und 946 Verletzte nach Explosion einer Feuerwerksfabrik in Enschede
( 26. Mai 2000)
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