Mit Spitzfindigkeiten und Säbelrasseln verteidigt das Weiße Haus Pläne für einen Nuklearkrieg

Seit dem Erscheinen von Presseberichten über Pläne, das Nuklearpotential der USA erheblich auszuweiten, bemüht sich die Bush-Regierung, die Bedeutung der Enthüllung herunterzuspielen. Die Anfang März an die Öffentlichkeit gelangte Nuclear Posture Review sieht vor, die Anzahl der Zielländer und die Voraussetzungen, unter denen der Einsatz von Atomwaffen autorisiert wird, erheblich auszuweiten.

Ein Politiker nach dem anderen, angefangen mit Außenminister Colin Powell und Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice in den Interviewsendungen am Sonntagmorgen, behauptete, dass die Nuclear Posture Review lediglich eine bürokratische Übung sei und keinerlei unmittelbare militärische Bedeutung habe.

Powell sagte, das Dokument beinhalte nur "konzeptionelle Pläne" und keine aktuelle Angriffsvorbereitungen auf irgendein Land. "Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die Vereinigten Staaten den Einsatz nuklearer Waffen als Einsatzalternative in der nahen Zukunft planen," sagte er. "Das ist nicht der Fall."

Rice stellte den Plan, der die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen drastisch herabsetzt, sogar als ein Mittel hin, "den Einsatz von Massenvernichtungswaffen weniger wahrscheinlich zu machen". Nach dieser Orwell‘schen Logik sind Pläne der Vereinigten Staaten, das größte Atomwaffenarsenal der Welt freizügiger anzuwenden, nichts weiter als "ein starkes Signal an jeden, der versucht sein könnte, Massenvernichtungswaffen gegen die Vereinigten Staaten einzusetzen."

Vizepräsident Dick Cheney war am 11. März in London einem Trommelfeuer von Pressefragen über die amerikanischen Nuklearpläne ausgesetzt. Er hatte in der britischen Hauptstadt auf dem Weg in den Nahen Osten, wo er Unterstützung für einen Krieg gegen den Irak sammeln will, einen Zwischenhalt eingelegt. Auch er tat die Reaktion auf die überarbeitete Nuklearstrategie als überzogen ab, ohne allerdings die Substanz des Plans zu leugnen. Er sagte: "Die in der Presse verbreitete Vorstellung, wir würden irgendwie einen präventiven Nuklearschlag vorbereiteten, schießt doch ein wenig über das Ziel hinaus."

Aber Powell und Rice haben Presseberichte bestätigt, wonach der Plan des Pentagon den Einsatz von Atomwaffen gegen Nicht-Atomstaaten vorsieht, falls diese Länder Waffen einsetzen, die die USA als "Massenvernichtungswaffen" definieren. Der Generalstabsvorsitzende General Richard Myers sagte, das könnten "nukleare, biologische, chemische oder auch andere hochexplosive Waffen" sein.

Nach dieser Definition sind die USA gegenwärtig in Afghanistan dutzend- wenn nicht hundertfach des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen schuldig - vom Einsatz der riesigen "Daisy-Cutters" gegen Truppenkonzentrationen der Taliban bis hin zu den thermobarischen Super-Hochdruck-Bomben, die sie auf die al-Qaeda-Kämpfer abgeworfen haben, die sich in den Bergen oberhalb des Shahi Kot Tales verschanzt hatten.

Der ehemalige Verteidigungsminister Robert McNamara schrieb am 13. März in einem Kommentar der Los Angeles Times, die Nuclear Posture Review bedeute ein öffentliches Abrücken von den Verpflichtungen, die die USA mit dem Vertrag zur Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen eingegangen sei. Die USA, Großbritannien und die Sowjetunion hatten sich 1978 verpflichtet, niemals Atomwaffen gegen Nicht-Atomwaffenländer einzusetzen, die diesen Vertag unterzeichneten. Alle drei Länder und außerdem Frankreich und China bekräftigten diese Verpflichtung 1995.

Internatonale Entrüstung

Die neue Nuklearwaffendoktrin wurde in einem Bericht des Pentagon für den Kongress vom Januar entworfen und am 10. März von der Los Angeles Times bekannt gemacht. Sieben Länder stehen auf der amerikanischen Zielliste: Russland, China, Nordkorea, Iran, Irak, Syrien und Libyen. Das amerikanische Militär soll die Erlaubnis zum Einsatz von Atomwaffen unter sehr weit gefassten Bedingungen erhalten, so auch dann, wenn konventionelle Waffen sich als unzureichend erweisen, Washingtons Ziele zu erreichen.

Die Regierungen der als Ziele für die nukleare Vernichtung vorgesehenen Länder waren verständlicherweise nicht bereit, Versicherungen der USA zu akzeptieren, dass die Atompläne des Pentagon lediglich eine Fortschreibung von Eventualplänen seien, die schon unter der Clinton-Administration entworfen worden waren. (Kein US-Politiker hat sich die Mühe gemacht, den Widerspruch zwischen der Behauptung zu erklären, der Plan enthalte "nichts Neues", und der Tatsache, dass er als Reaktion auf die Terrorangriffe vom 11. September entworfen wurden.)

Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Sun Yuxi, betonte, dass China und die Vereinigten Staaten übereingekommen seien, keine Atomwaffen aufeinander zu richten. "China ist, wie viele andere Länder, vom Inhalt dieses Berichts schockiert," sagte er. "Die amerikanische Seite ist zu einer Erklärung verpflichtet."

Ein führender russischer Abgeordneter, Dmitri Rogozin, erklärte, dass die US-Regierung seit dem 11.September wohl den Kontakt zur Realität verloren habe. "Sie haben den großen Knüppel rausgeholt - den nuklearen Knüppel, der uns das Fürchten lehren und uns auf unseren Platz verweisen soll," sagte er gegenüber dem Fernsehsender NTV. Der russische Außenminister Igor Iwanow nannte den Bericht destabilisierend und sagte, dass Spitzenleute der Bush-Regierung die Pflicht hätten, "die Dinge klarzustellen, die internationale Gemeinschaft zu beruhigen und sie zu überzeugen, dass die Vereinigten Staaten solche Pläne nicht haben."

Der russische Verteidigungsminister hielt an einer zuvor anberaumten Reise nach Washington zu Gesprächen mit US-Verteidigungsminister Rumsfeld fest. Die Kolumnistin Mary McGrory merkte an, dass dies Rumsfeld "die einmalige Gelegenheit gab, den Politiker eines Landes zu empfangen, das auf einer Zielliste steht."

Der iranische Regierungssprecher Abdollah Ramezanzadeh sagte, der Plan des Pentagon zeige, dass die USA niemals internationale Abkommen über den Einsatz von Atomwaffen einhalten würden. "Wer der Logik der Gewalt folgt, der folgt genau der gleichen Logik wie die Terroristen," sagte Ramezanzadeh. Die halboffizielle Tehran Times schrieb, der Bericht zeige, dass die Vereinigten Staaten bereit seien, "die Welt ins Chaos zu stürzen, um ihre eigene Hegemonie und Herrschaft zu sichern."

Auch ganz Europa und weitere Atommächte, die gegenwärtig nicht auf der US-Zielliste stehen, äußerten große Besorgnis. Der indische Verteidigungsminister George Fernandes sagte, dass jedes Land die gleichen Lehren werde ziehen müssen: "Bevor man die Vereinigten Staaten herausfordert, muss man erste einmal Atomwaffen haben."

Bush bedroht den Irak

Die Nuclear Posture Review und die scharfe internationale Reaktion darauf waren ein wichtiges Thema auf Bushs hastig einberufener Pressekonferenz am 13. März, für die die Einladungen gerade einmal drei Stunden vorher rausgegangen waren. Die erste Frage zielte auf den Nuklearplan, und Bush antwortete mit Hilfe vorbereiteter Notizen; er stellte seine Regierung als friedliebend und entschlossen dar, das Atomarsenal der USA deutlich zu reduzieren.

Aber die weiteren Ausführungen des US-Präsidenten stellten ein unmissverständliches Signal dar. Auf die Frage, warum die USA auch Libyen und Syrien in die Liste der Ziele aufgenommen hätten, antwortete er: "Wir haben alle Optionen auf den Tisch gelegt, weil wir den Staaten deutlich machen wollen: Bedroht die USA besser nicht und setzt besser keine Massenvernichtungswaffen gegen uns, unsere Verbündeten oder Freunde ein."

Dann beschrieb Bush mit gleichlautenden Worten keine hypothetische Reaktion auf einen möglich künftigen Angriff auf die USA, sondern die gegenwärtige Kampagne gegen den Irak, den Druck und die Provokationen, welche die USA gegen dieses Land ausüben. Auf Cheneys Reise bezug nehmend sagte Bush: "Der Vizepräsident weist gegenwärtig auf diese Gefahr hin, und darauf, dass wir uns gemeinsam gegen diese Gefahr wappnen müssen. Noch einmal: Alle Optionen liegen auf dem Tisch."

In Wahrheit ist es so, dass Bush und seine Regierung den Einsatz von Atomwaffen in nicht allzu ferner Zukunft umso wahrscheinlicher in Erwägung ziehen, je mehr sie beteuern, dass ihre Atomwaffenplanungen nur hypothetischer Natur seien - eine technische Vorbereitung auf einen unwahrscheinlichen Fall in der Zukunft.

Einer der Eventualfälle für den Einsatz von Nuklearwaffen, der in der Nuclear Posture Review genannt wird, wäre ein irakischer Angriff auf Israel. Einen solchen halten amerikanische Strategen für eine wahrscheinliche Reaktion Bagdads, falls der Irak militärisch angegriffen wird. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das Pentagon und das Weiße Haus in dem Krieg, den sie gerade anzetteln, einen Angriff auf den Irak mit Atomwaffen ausschließen.

Das Durchsickern der Nuclear Posture Review diente möglicherweise dazu, die öffentliche Meinung und die Reaktion verschiedener politischer Kräfte im In- und Ausland auf solch eine Maßnahme zu testen. Viele Kommentatoren haben darauf hingewiesen, dass die Regierung, die normalerweise sehr empfindlich auf den Bruch von Geheimhaltung reagiert, auf das Durchsickern dieses mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehenen Dokuments der nationalen Sicherheit ziemlich gleichgültig reagiert hat.

Das Weiße Haus hat erst kürzlich eine Information an die Washington Post durchsickern lassen - die Enthüllung, dass Bush nach dem 11. September eine Schattenregierung installieren wollte - um die öffentliche Reaktion auf seine Vorbereitungen auf eine diktatorische Herrschaftsform zu testen. Die Administration wies die Bedenken gegen ihre Pläne für eine geheime Regierung zurück, die nur aus der Exekutive, ohne Einfluss der Legislative und der Judikative bestehen soll. Wie im Fall der Nuklearwaffenpläne argumentierten Bush und seine Berater, dass es lediglich um routinemäßige "Planung für Eventualitäten" gehe.

Bedenken in der amerikanischen Presse

Ein großer Teil der amerikanischen Medien - z.B. die Washington Post und die Fernsehsender - haben zwar die betulichen Kommentare des Weißen Hauses und des Außenministeriums wiederholt. Dennoch hat die Nuclear Power Review die erste erwähnenswerte öffentliche Kritik an der amerikanischen Außenpolitik seit dem 11. September hervorgerufen.

Der Mehrheitsführer im Senat, Tom Daschle, lehnte es ab, die Pläne des Pentagon direkt zu kommentieren, und Senator Joseph Lieberman, der Vizepräsidentschaftskandidat von 2000, nannte sie eine "nützliche" Maßnahme, um "abtrünnige Staaten" einzuschüchtern. Aber mehrere andere demokratische Senatoren kritisierten die Regierung; unter ihnen waren zwei, die bisher verlässliche Anhänger einer kriegerischen US-Politik im Nahen Osten waren, besonders wenn sie sich gegen den Irak richtete.

Carl Levin aus Michigan, der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses des Senats, sagte, die Pläne könnten "die Richtung, in die die Rüstungskontrolle seit Jahrzehnten gelaufen ist, in ihr Gegenteil verkehren". Senatorin Dianne Feinstein aus Kalifornien sagte, die USA riskierten als "Schurkenstaat angesehen zu werden, der außer Kontrolle gerät und nach Mitteln und Wegen sucht, Atomwaffen einzusetzen". John Kerry aus Massachusetts nannte den Plan "sehr beunruhigend". Er fügte hinzu, dass er das Ziel der USA unterminiere, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern.

Die Kritik an den Nuklearplänen in der Presse konzentriert sich auf die Wahrscheinlichkeit, dass die Bush-Regierung durch die Bekanntgabe ihrer größeren Bereitschaft, Atomwaffen einzusetzen, potentielle Zielländer der USA anreizen könnte, mit verdoppelter Anstrengung selbst solche Waffen zu entwickeln, und dass dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöht würde, dass diese Waffen tatsächlich irgendwann benutzt werden.

Das Louisville Courier Journal schrieb: "Freund und Feind werden gleichermaßen alarmiert und mit ungläubigem Staunen auf einen Entwurf des Pentagon für eine Neuausrichtung der Nuklearwaffenpolitik der Vereinigten Staaten reagieren. So sollten auch die Amerikaner reagieren." Die St. Paul Pioneer Press verurteilte "die schockierende Kehrtwende der Bush-Regierung in der Nuklearwaffenplanung".

Der Boston Globe nannte die Pläne "milde ausgedrückt fragwürdig und im schlimmsten Fall wirklich gefährlich und destabilisierend." Der Globe wies auch darauf hin, dass die Vorschläge, stark verkleinerte und deshalb leichter "einsetzbare" Atomsprengköpfe und "bunkerbrechende" Bomben zu bauen, und die Wiederaufnahme von unterirdischen Atomtestversuchen schon vor dem 11. September auf dem Tisch gelegen hätten und deswegen nicht als Reaktion auf die Terroranschläge hingestellt werden könnten.

Die Los Angeles Times rief Bush auf, "sich öffentlich von der scheinbaren Senkung der Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen und der Verwischung der Unterscheidung von nuklearen und konventionellen Waffen zu distanzieren". Die Zeitung zitierte die Vorstellung in den Pentagon-Plänen, dass Atomwaffen im Fall von "überraschenden militärischen Entwicklungen" eingesetzt werden könnten, und nannte das "einen derart vagen Begriff, dass man ihn als völlige Einsatzfreigabe bezeichnen könnte".

Der politisch vielleicht wichtigste Kommentar erschien in der New York Times, die den "Krieg gegen den Terrorismus" der Bush-Regierung sklavisch unterstützt. Unter der Überschrift "Amerika als Nuklearschurke" schrieb die Times : "Wenn ein anderes Land die Entwicklung einer neuen Nuklearwaffe planen und Präventivschläge gegen eine Liste von Nicht-Atommächten ins Auge fassen würde, dann würde Washington diesen Staat zu recht als einen gefährlichen Schurkenstaat bezeichnen. Aber genau einen solchen Kurs empfiehlt ein neues Planungspapier des Pentagon, das letzte Woche bekannt wurde, dem Präsidenten."

Die Times schrieb, der gefährlichste Aspekt der Politik der Bush-Regierung bestehe darin, die Atomwaffen von der "letzten Möglichkeit" für die Kriegsplaner im Pentagon in eine Option von vielen zu verwandeln.

Gleichzeitig zog die Times keinerlei Parallele zwischen dieser außerordentlichen Verschiebung der Politik und den übrigen Aspekten der Politik der Bush-Regierung an der innen- und außenpolitischen Front des "Kriegs gegen den Terrorismus" - Masseninternierung ohne Prozess, illegale Kriegsgefangenenlager, die Bildung einer geheimen "Schattenregierung", die Weigerung, die Umstände der Angriffe vom 11. September zu untersuchen, die Weigerung, den Umfang und die Ziele des globalen Krieges zu benennen, den Bush in seiner Rede zur Lage der Nation proklamiert hatte.

Siehe auch:
Amerikanische Rechte erwägt nukleare Einäscherung Mekkas
(20. März 2002)
Vereinigte Staaten wollen Atombomben zu einem normalen Mittel der Kriegsführung machen
(13. März 2002)
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