Heftige Proteste nach Erdbeben in der Türkei

Bei dem Erdbeben in der Türkei vom 2. Mai sind nach letzten Schätzungen 167 Menschen gestorben, darunter 84 Kinder. 521 Menschen wurden verletzt. Wie schon das Beben vom August 1999, dem 17.000 zum Opfer fielen, brachte es mit einem Schlag die sozialen Verhältnisse ans Licht, die von den herrschenden Eliten in Zusammenarbeit mit dem IWF und der EU geschaffen wurden.

Die jahrelange Politik der Deregulierung und wirtschaftlichen Liberalisierung hat eine schmale Schicht skrupelloser Unternehmer hervorgebracht, die für Profit buchstäblich über Leichen gehen und die von korrupten Politikern nicht zu befürchten haben, zur Einhaltung auch nur der elementarsten Regeln und Vorschriften zum Schutz der Allgemeinheit angehalten zu werden. Vor der Bevölkerung werden sie mit der Gewalt von Polizei und Militär beschützt.

Die Zahl der Opfer wäre noch weitaus höher ausgefallen, hätte das Beben nicht in einem solch dünn besiedelten Gebiet stattgefunden. Besonders tragisch war der Tod vieler Kinder. In den meisten Dörfern der Provinz Bingöl gibt es keine Schulen und nur ein schlechtes Verkehrssystem, deshalb übernachten viele Kinder während der Wochentage in einem Wohnheim der Schule. Ein solches Wohnheim ist nun in Celtiksuyu eingestürzt, wie auch viele andere Bauten, darunter auch öffentliche Gebäude wie die Stadthalle oder das Wohnungsministerium in der Stadt Bingöl. "In der Türkei gibt es gute Bauvorschriften und gute seismographische Karten", sagte Dr. Russ Evans von der British Geological Survey gegenüber BBC online. "Aber das Problem ist, dass die Regeln nicht eingehalten werden."

Die Katastrophe war das direkte Ergebnis der rechten Politik aufeinanderfolgender türkischer Regierungen jeder Couleur in den letzten zehn Jahren. In Bingöl waren in diesem Zeitraum zahlreiche neue Gebäude errichtet worden, um viele neue Bewohner aufzunehmen, die den Kämpfen zwischen kurdischen Nationalisten und der türkischen Armee zu entfliehen versuchten. Während die Bauten aus früheren Zeiten dem Erdbeben weitgehend standhielten, stürzten viele neue Gebäude ein, die offensichtlich, um Kosten zu sparen und höhere Profite zu erzielen, unter Missachtung der Vorschriften hochgezogen worden waren.

Die Schule war 1999 erbaut worden, gerade als die Regierung von Linkskemalisten, Faschisten und Konservativen nach dem damaligen Beben Besserung gelobt hatte. Bauherr soll ein Unternehmer namens Seref Bozkus sein, ein Verwandter des Parlamentsabgeordneten Fevz Berdibek. Berdibek wird beschuldigt, selbst eine bei dem Beben eingestürzte Schule gebaut zu haben und für die Vergabe von Aufträgen verantwortlich zu sein.

Nach Presseberichten wurden etwa 20 Privathäuser zerstört. Die staatlichen Gebäude sind dagegen fast alle unbrauchbar geworden. Die Region ist als Erdbebengebiet bekannt. Bei einem Beben 1971 starben in Bingöl 878 Menschen. Danach hieß es immer wieder, einzelne Ortschaften in der Region auf instabilem Untergrund müssten wegen ihrer Gefährdung verlegt werden. Dies sei aber nicht geschehen, kritisieren Experten. Laut einem Bericht des Statistikamtes aus dem Jahr 2000 wurden in Bingöl 295 Gebäude registriert, die dringend erdbebensicher gemacht werden müssten. Für 1698 Gebäude wurde eine Renovierung empfohlen.

Am Tag nach dem Beben kam es in Bingöl zu heftigen Straßenschlachten. Etwa 1.000 Demonstranten forderten den Rücktritt des Gouverneurs der Provinz und beschuldigten die Regierung, nicht ausreichend Decken und Zelte geliefert zu haben. Schließlich versuchten sie, den Gouverneurssitz zu stürmen. Die Polizei reagierte mit der Brutalität, mit der sie besonders in kurdischen Provinzen wie Bingöl vorzugehen gewohnt ist. Nach provokativen Warnschüssen aus automatischen Waffen fuhr ein Polizeifahrzeug absichtlich mitten in die Menschenmenge und verletzte einige Demonstranten.

Der Provinzgouverneur behauptete, "Provokateure" der kurdisch-nationalistischen PKK seien für die Auseinandersetzungen verantwortlich gewesen. "Sie wollen das Volk gegen den Staat und die Sicherheitskräfte aufbringen", behauptete er. Premierminister Erdogan, der sonst gern den Volkstribun gibt, stieß ins gleiche Horn. Ohne die Spur eines Beweises behauptete er, es gebe "geheimdienstliche Erkenntnisse" wonach es "ernste, auf Provokationen gerichtete Aktivitäten" gegeben habe. Er verteidigte das Vorgehen der Polizei. Schüsse in die Luft seien manchmal notwendig, "um eine Situation unter Kontrolle zu bringen". Trotzdem ließ er sicherheitshalber den Polizeichef von Bingöl nach Ankara versetzen.

Besonnenere Stimmen der türkischen Bourgeoisie warnten die Regierung recht unverblümt, dass sich in Bingöl nichts weniger als eine soziale Explosion in den Kurdengebieten ankündige. In einem Leitartikel der Turkish Daily News vom 3. Mai heißt es: "Bei den Ereignissen in Bingöl ging es nicht nur um eine große Masse von frustrierten Leuten, die ihre Wut an Polizeifahrzeugen und dem Gouverneurssitz ausließen. Es ist ein Akt des Widerstands gegen den Staat von Seiten der überwiegend kurdischen örtlichen Bevölkerung, der von der Regierung und allen staatlichen Stellen sorgfältig studiert werden muss... Die Behörden müssen begreifen, dass in der Südosttürkei ein schwelender Zorn existiert, dort wo der Staat seine Bürger wieder einmal vergessen und ihrem Schicksal überlassen hat."

Tatsächlich hat sich die soziale Lage der Bevölkerung seit dem Erdbeben von 1999 in der gesamten Türkei durch schwere Finanzkrisen und die Umsetzung der IWF-Programme von Deregulierung, Haushaltskürzungen und Privatisierungen weiter verschlechtert. In den ohnehin rückständigen und von Staat und Infrastruktur vernachlässigten Kurdengebieten im Südosten wurde zwar seit 1999 der Bürgerkrieg durch die faktische Kapitulation und den Rückzug der PKK weitgehend beendet. Doch dadurch hat sich trotz aller Versprechungen der Regierungen weder die soziale Lage gebessert, noch hat sich an der Brutalität der Sicherheitskräfte etwas geändert, wie das Vorgehen der Polizei in Bingöl wieder gezeigt hat.

Die "demokratischen Reformen" der neuen Regierung der AKP, die im Westen überschwänglich gefeiert wurden und angeblich besonders den Kurden mehr Freiheiten verschaffen sollten, sind für die Masse der kurdischen Bevölkerung auf dem Papier geblieben.

Es ist anzunehmen, dass die kurdischen Nationalisten nicht weniger überrascht und beunruhigt über die plötzliche Explosion von aufgestauter sozialer Unzufriedenheit sind als der Staat. Sie haben sie sich nach Kräften bemüht, der Regierung in der Stunde der Krise beizustehen.

Die der PKK nahestehende Nachrichtenagentur DIHA meldete lapidar, aufgrund des Erdbebens seien die meisten Maikundgebungen in den kurdischen Provinzen abgesagt worden. Die meisten kurdischen Städte in der Südosttürkei werden von der gemäßigten kurdisch-nationalistischen HADEP regiert, die gegenwärtig von einem Parteiverbot bedroht ist.

Die mittlerweile in KADEK umbenannte PKK bemüht sich besonders seit dem Irak-Krieg verstärkt um eine Verständigung mit dem türkischen Staat. So erklärte ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan Ende März: "Ich möchte an die Armee eine Botschaft in Assoziation zu den Reden Mustafa Kemals aus den 20er Jahren richten.... Er hat auf eine türkisch-kurdische Einheit gesetzt und auf die enge Verbundenheit hingewiesen. Ich bin überzeugt davon, dass die Armee der Tradition Mustafa Kemals verbunden ist."

Siehe auch:
Politische Nachbeben in der Türkei
(27. August 1999)
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