Niederlande: Gewerkschaften stimmen zweijährigem Lohnstopp zu

Das Scheitern des Poldermodells

Das niederländische Poldermodell wird europaweit als Muster für eine einvernehmliche "Modernisierung" der Wirtschaft gepriesen. Nicht zuletzt der "Agenda 2010" der deutschen Bundesregierung dient es in vielen Teilen als Vorbild.

Doch zwei Jahrzehnte nachdem sich Gewerkschaften, Regierung und Unternehmen in den Niederlanden erstmals darauf geeinigt hatten, gemeinsam für die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Einführung eines Niedriglohnsektors zu sorgen, befindet sich die Wirtschaft in einer schweren Krise. Die Sozialpartner reagieren darauf mit weiteren Angriffen auf die arbeitende Bevölkerung. Die Gewerkschaften haben sich jetzt bereit erklärt, die Löhne für die kommenden zwei Jahre auf dem derzeitigen Stand einzufrieren.

Das Poldermodell erweist sich damit als endlose Rutschbahn, die immer tiefer ins soziale Elend führt. Die Behauptung der Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführer, es werde langfristig zur Erholung der Wirtschaft führen und damit eine neue Grundlage für den Sozialstaat legen, erweist sich dagegen als reines Luftschloss.

Die neugebildete Regierung hatte bereits im Sommer gedroht, einen Lohnstopp auch ohne Zustimmung der Gewerkschaften durchzusetzen. Während die beiden größten Gewerkschaftsverbände des Landes, FNV und CNV, damals noch gegen die Pläne der Regierung protestierten, stimmten sie jetzt bei den diesjährigen Tarifgesprächen zu.

Parallel zum Lohnstopp verwirklicht die Regierung ein historisch einmaliges Kürzungsprogramm bei den Staatsausgaben, das vor allem zu Lasten der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst und sozialer Leistungen geht. Dabei kann sie sich direkt auf die Vorarbeit der Sozialdemokraten stützen, die im Frühjahr wochenlang über eine Regierungsbeteiligung verhandelt und dabei das jetzige Sparprogramm mit ausgearbeitet hatten. Als schließlich die Koalitionsverhandlungen mit der sozialdemokratischen Arbeitspartei (PvdA) platzten und die Christdemokraten der CDA eine Koalition mit den Rechts- und Linksliberalen bildeten, konnten sie das Sparprogramm einfach übernehmen.

Das Regierungsprogramm sieht vor, die Staatsausgaben bis 2007 um rund 17 Milliarden Euro oder zehn Prozent zu kürzen. Bereits nächstes Jahr sollen 5,7 Milliarden Euro eingespart werden. Um dies zu erreichen, sollen 10.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst abgebaut, die Steuern angehoben und die Leistungen der Sozialversicherungen radikal gekürzt werden.

Ziel ist es, die niederländische Wirtschaft im innereuropäischen Konkurrenzkampf zu stärken. Laut einer Presseerklärung der Regierung haben die Niederlande im Bereich der Arbeitskosten gegenüber ihren Konkurrenten an Boden verloren. Von 1997 bis 2003 seien diese im europäischen Vergleich um zehn Prozent gestiegen. Lohnstopp und Sparprogramm sollen nun diesen Rückstand nicht nur ausgleichen, sondern den holländischen Unternehmen erneut einen Vorsprung sichern. So wird ein Wettlauf um Lohnkürzungen und Sozialabbau angeheizt, der sich durch die anstehende Osterweiterung der EU nochmals beschleunigen wird.

Der Inhalt der Vereinbarung

Die jetzt vereinbarte zweijährige Nullrunde bei den Löhnen soll allein den Staat um 800 Millionen Euro entlasten. Über die Einsparungen für die Privatindustrie liegen keine Zahlen vor, doch Unternehmer- wie Regierungsvertreter zeigten sich hocherfreut über die Regelung. "Die Übereinkunft", sagte Ministerpräsident Jan-Peter Balkenende (CDA), "ist gut für die Wirtschaft und die Beschäftigung." Sie werde einen positiven Einfluss auf die Konkurrenzfähigkeit der niederländischen Wirtschaft ausüben. Außerdem sei "die beste Lohnerhöhung, einen Job zu bekommen".

Die Gewerkschaftsverbände rechtfertigten ihre Zustimmung zum Lohnstopp mit der Behauptung, es sei ihnen gelungen, einige der schlimmsten Grausamkeiten der Regierungspläne abzumildern. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich dies als reine Augenwischerei.

So sieht die Vereinbarung vor, die steuerlichen Anreize für die Frühverrentung nicht sofort abzuschaffen, sondern dies bis auf Anfang nächsten Jahres zu verschieben. Gleichzeitig einigten sich die Gesprächsteilnehmer darauf, ab Januar 2006 ein neues System einzuführen. Angesichts des Ausmaßes der Sparpläne kann kein Zweifel daran bestehen, dass dies auf eine vollständige Beseitigung der derzeitigen Frühverrentungsregelung hinaus läuft.

Ebenso scheinheilig ist der Beschluss, die bisherige Koppelung der Sozialleistungen an den Anstieg der Durchschnittslöhne bis 2006 nicht anzutasten. Da die Löhne eingefroren sind, werden auch die Sozialleistungen für zwei Jahre nicht ansteigen. Die Regierung ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie diese Koppelung aufheben wird, sollten die Löhne wieder steigen.

Außerdem sollen die Leistungen der Arbeitsunfähigkeitsversicherung (WAO) im Jahre 2007, also passend zu den nächsten planmäßigen Parlamentswahlen, angehoben werden. Voraussetzung ist aber, dass die Zahl der Bezieher bis dahin gesenkt wird, was wiederum voraussetzt, dass die Bezugskriterien verschärft werden und die Leistungsdauer verkürzt wird.

Die faktische Reallohnsenkung wird die Beschäftigten und die Leistungsempfänger der Sozialversicherungen empfindlich treffen. Schon jetzt müssen viele Arbeiter mehrere Teilzeitjobs annehmen, um sich und ihre Familien ernähren zu können. Als Folge des Poldermodells liegen die Niederlande beim Verhältnis von Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätzen europaweit an der Spitze. Heute sind 42 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse im Land Teilzeitjobs.

Gleichzeitig rollt auch in den Niederlanden die Welle der Massenentlassungen, und die Arbeitslosenprognose für das Jahr 2004 steigt von Monat zu Monat. Derzeit erwartet die Koalition für das kommende Jahr 540.000 Arbeitslose (bei rund sieben Millionen abhängig Beschäftigten).

Wie in vielen anderen Ländern der Eurozone stiegen auch in den Niederlanden die Preise mit der Einführung des Euro. Entgegen der offiziellen Inflationsrate von 2,3 Prozent ergaben Untersuchungen, dass die Preise für Grundnahrungsmittel, Grundversorgung und Dienstleistungen seit 1998 explodiert sind. Kartoffeln verteuerten sich beispielsweise um knapp 80 Prozent, Fischprodukte um 37 Prozent, Fährpreise um 50 Prozent, ebenso die Preise für Strom (47 Prozent) und Gas (45 Prozent).

Die Statistiken der vor hundert Jahren eingeführten Arbeitsunfähigkeitsversicherung geben Auskunft über den steigenden Druck, der auf den Arbeitenden lastet. Seit Mitte der Achtziger Jahre stieg die Zahl der Leitungsbezieher auf rund eine Million Menschen in diesem Jahr, darunter mehrheitlich Frauen und Angehörige von Minderheiten. Diese Bevölkerungsgruppen sind durch das Poldermodell am stärksten in prekäre Arbeitsverhältnisse gedrängt worden, zwei Drittel der Beschäftigten mit Teilzeitjobs sind zum Beispiel Frauen. Rund ein Drittel der WAO-Leistungsempfänger leidet an psychischen Erkrankungen, vor allem an Depressionen und Stresssymptomen.

Der Bankrott des Poldermodells

Das niederländische Poldermodell hat "amerikanische Verhältnisse" im "Konsens" eingeführt, dass heißt Schritt für Schritt, so dass die Gewerkschaften nicht die Kontrolle in den Betrieben und auf der Straße verloren.

Die Ausweitung der niedrig bezahlten Teilzeitjobs und befristeten Beschäftigungsverhältnisse betraf vor allem den Dienstleistungssektor, in dem inzwischen 70 Prozent aller niederländischen Arbeitnehmer beschäftigt sind. Als typischen "neuen Job" beschreibt der deutsch-niederländische Wirtschaftswissenschaftler Alfred Kleinknecht den "Honden-Uitlaat-Service", das Ausführen von Hunden in den Villen-Vierteln der gut verdienenden Zwei-Einkommen-Haushalte.

Doch auch in der Industrie sanken die Produktionskosten durch niedrige Löhne und Sozialabbau. Unter den Bedingungen des von der Börsenhausse getragenen Booms der 90er Jahre konnten die großen Unternehmen Absatz und Produktion ohne große Sachinvestitionen ausweiten und ihre Gewinne erhöhen. Doch kaum war der Börsenboom zu Ende, zeigten sich die langfristig Folgen: infolge der niedrigen Löhne waren Investitionen in moderne Produktionstechnologien ausgeblieben. Während internationale Konkurrenten mittels technischer Erneuerung und Arbeitsplatzabbau Kosten einsparten, senkten niederländische Unternehmer ihre Produktionskosten vor allem durch immer billigere Arbeitskräfte. So stieg seit Beginn des Poldermodells vor zwanzig Jahren die Arbeitsproduktivität in der EU ungefähr doppelt so schnell wie in den Niederlanden.

Hinzu kommt, dass auch die Infrastruktur des Landes dem Poldermodell zum Opfer fiel. Vor allem in den Bereichen Bildung, Forschung, Gesundheitsversorgung und Transportwesen sank aufgrund der zahlreichen Niedriglohn- und Teilzeitjobs das Niveau. Die Folge ist, dass in nahezu all diesen Bereichen Fachkräfte fehlen. Die Ausbildung von Lehrern und die Arbeitsbedingungen an den Schulen sind bereits so schlecht geworden, dass die Niederlande unter chronischem Lehrermangel leiden. Dieser ist so ausgeprägt, dass einige Schulen die Vier-Tage-Woche einführen mussten und die Klassengrößen immer weiter ansteigen. Dieses Problem tritt in den sozial schwachen Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Ausländeranteil krasser in Erscheinung als in den wohlhabenden Vierteln - eine für die Niederlande noch vor wenigen Jahren untypische Entwicklung, die früheren pädagogischen Ansätzen zuwider läuft.

Im Gesundheitswesen prägt seit der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse ein allgemeiner Verfall das Bild. Wegen der mangelhaften Kapazitäten sind Wartezeiten auf notwendige Operationen längst üblich. Patienten gehen in Nachbarstaaten, um sich dort behandeln zu lassen. In den privaten, profitorientierten Kliniken herrschen zum Teil gesundheitsgefährdende Zustände. Die Bevölkerung hat weder das Recht auf freie Arzt-, noch Apothekerwahl. Gleichzeitig werden die Lasten der Krankenversicherung immer stärker vom Staat und den Unternehmen auf die Versicherten übertragen.

Mit dem raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit seit dem Herbst 2001 war das Polder-Modell gescheitert. Die Arbeitslosenzahlen erreichen immer neue Höchststände. Heute gibt es nicht weniger Menschen ohne Arbeit, als es sie vor der Unterzeichnung des Vertrags von Wassenaar vor über 20 Jahren gab.

Aber obwohl mittlerweile offen ist, dass selbst aus marktwirtschaftlicher Sicht Lohnsenkungen, Sozialabbau und der Arbeitsmarktderegulierung keinen Ausweg aus der ökonomischen Krise der Niederlande weisen, halten Regierungen und Gewerkschaft mit der jetzt beschlossenen Einfrierung der Löhne unbeeindruckt am eingeschlagenen Weg fest. Sie reagieren auf den internationalen Konkurrenzdruck, indem sie immer weitere kurzfristige Kürzungen der Produktionskosten und Sozialausgaben verordnen - unabhängig von den langfristigen Folgen.

So befinden sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der europäischen Bevölkerung in einem Teufelskreis, in dem jede Kürzung weitere Kürzungen nach sich zieht und "nötig" macht. Gestoppt werden kann sie nur durch den Aufbau einer unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse, die für eine sozialistische Neuordnung des Wirtschaftslebens im Interesse der gesellschaftlichen Bedürfnisse statt des privaten Profits eintritt.

Siehe auch:
Das "niederländische Modell": Wie Regierung Gewerkschaften und Unternehmer die Umverteilung hinter den Deichen organisieren
(1. Mai 1998)
Das Ende der Konsenspolitik in den Niederlanden
( 14. August 2002)
Das neue Kabinett hat sich konstituiert
( 14. Juni 2003)
Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit in den Niederlanden
( 19. September 2003)
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