Großbritannien: 20 Jahre nach dem einjährigen Bergarbeiterstreik

Teil 1

Im folgenden veröffentlichen wir den ersten Teil einer zweiteiligen Untersuchung über die Lehren aus dem britischen Bergarbeiterstreik. Teil 2 erschien am 7. April 2004.

Der einjährige Bergarbeiterstreik von 1984-85 war ein Wendepunkt im politischem Leben Großbritanniens. Er endete mit der schlimmsten Niederlage der Arbeiterklasse in der Nachkriegszeit, deren Folgen bis heute nachwirken.

Es gab eine Fülle von Dokumentationen und Artikeln, die den 20. Jahrestag würdigten. Aber nirgends wurde ein ernsthafter Versuch unternommen, daraus Lehren zu ziehen. Im Großen und Ganzen gibt es zwei Lager:

Das eine Lager behauptet, dass die Niederlage der Bergarbeiter unvermeidlich gewesen sei, weil sie unter der Führung von Ewiggestrigen um eine bereits verlorene Sache gekämpft hätten. Diese Argumentation geht davon aus, dass die konservative Regierung unter Margret Thatcher, obwohl sie manchmal autokratisch und arrogant war, die Zukunft repräsentierte. Sie wollte die britische Wirtschaft modernisieren, indem sie die Macht der Gewerkschaften einschränkte, die eine Bastion veralteter Arbeitsbeziehungen waren und „das Land erpressten“. Man mag Sympathie für das Schicksal einzelner Bergarbeiter haben, sagen sie, aber doch bitte die Relationen wahren. Denn was im Folgenden stattfand, war ein Konsumboom und die Entwicklung der New Economy, gestützt auf Deregulierung und Privatkapital, auf das sich jetzt sogar die Labour-Regierung orientiert. Dies ist die Sichtweise sowohl der konservativen, wie auch der Pro-Labour-Medien.

Das andere Lager besteht aus denjenigen Labour-Linken oder verschiedenen kleineren linken Gruppen, die wehmütig auf die Ereignisse von 1984 zurückblicken, zwar einzelne Fehler bemängeln, darin aber im Grunde eine „glorreiche“ Episode und ein Vorbild für den künftigen Klassenkampf sehen.

Die vermeintliche Stärke der ersteren Argumentation liegt darin, dass sie scheinbar von den Ereignissen bestätigt worden ist. Wie die Margret Thatcher gewidmete Website erklärt: „Der einjährige Bergarbeiterstreik von 1984 war das letzte Aufbäumen des alten Gewerkschaftssystems; seit jenem Jahr hat Großbritannien keinen bedeutenden Arbeitskampf mehr erlebt.“

Darauf können diejenigen keine Antwort geben, die es ablehnen, die Gründe der Niederlage ernsthaft zu untersuchen. Es ist eine Tatsache, dass sie den reaktionären ökonomischen und politischen Konzepten der vergangenen zwei Jahrzehnte zum Durchbruch verhalf und von der arbeitenden Bevölkerung teuer bezahlt werden musste.

Für die Bergarbeiter selbst waren die Folgen des Streiks verheerend. Als der Streik begann, gab es in Großbritannien noch 170 Zechen, in denen über 181.000 Menschen beschäftigt waren und 90 Millionen Tonnen Kohle produziert wurden. Heute gibt es noch 15 Zechen, in denen etwa 6.500 Menschen arbeiten. Etwa 3.000 weitere arbeiten im Tagebau. Einstige klassische Bergbaugebiete wie Durham und Lancashire haben heute keine Zechen mehr. Die Nationale Gewerkschaft der Bergarbeiter (NUM) ist auf einen Rumpf mit wenigen Tausend Mitgliedern reduziert worden, die noch in dem Industriezweig arbeiten.

Die Leiden der Bergarbeiter während des Streiks waren fast ohne Beispiel. Etwa 20.000 Bergarbeiter wurden verletzt und mussten zum Teil im Krankenhaus behandelt werden, 13.000 wurden festgenommen, 200 ins Gefängnis gesteckt, zwei wurden beim Streikpostenstehen getötet, drei starben im Winter beim Kohlesammeln und 966 wurden entlassen.

Die Bergarbeiter sahen sich brutalen Angriffen der Polizei ausgesetzt, die zu Unterdrückungsmethoden griff, wie sie auf der britischen Insel bis dahin unbekannt gewesen waren. Berittene Polizisten griffen Streikposten an und verbreiteten in Bergarbeitersiedlungen Angst und Schrecken. Eine neu gebildete, nationale Kampftruppe aus schwer bewaffneten Polizisten führte militärische Attacken gegen die Bergleute. Die Bergarbeiter wurden daran gehindert, sich frei im Land zu bewegen, und es wurden Sondergerichte gebildet, um mit der großen Zahl Festgenommener fertig zu werden.

Die NUM wurde gerichtlich angegriffen, und es gab mehrere Versuche, ihr Vermögen zu beschlagnahmen. Mächtige Wirtschaftsinteressen und der Staatsapparat organisierten gemeinsam eine massive Streikbrecheroperation, die in der Gründung einer Streikbrechergewerkschaft gipfelte, der „Gewerkschaft demokratischer Bergarbeiter“.

Nach der Niederlage des Streiks kam es noch schlimmer. Zechenschließungen zogen den Abstieg ganzer Kommunen in verzweifelte Armut nach sich. Viele Jugendliche mussten ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit verlassen, und in jeder dritten zurückgebliebenen Familie stellten sich, wie eine Studie feststellte, ernste Suchtprobleme ein.

Alle Bemühungen um eine Wiederbelebung ehemaliger Bergbaureviere waren vom Charakter der heutigen Wirtschaft geprägt, in der transnationale Konzerne dominieren, denen es um billige Arbeitskräfte und Steuervergünstigungen geht. Die Organisation „Coalfield Community“ schrieb dazu: „Die Unternehmen können sich Arbeitskräfte nach strengen Kriterien aussuchen, um Belegschaften aufzubauen, die bereit sind, flexibel für wenig Geld, häufig in gewerkschaftsfreien Betrieben, zu arbeiten. Oft ist es nur Teilzeitarbeit und manchmal befristet, weil sie häufig schon bald nach ihrer Eröffnung wieder schließen.“

Darüber hinaus wurde die Niederlage der Bergarbeiter zum Startsignal dafür, dass die Gewerkschaften und die Labour Party die Verteidigung der sozialen Interessen der Arbeiterklasse endgültig aufgaben. Es gab natürlich auch andere Streiks, aber nichts Vergleichbares. In den 1970er Jahren war die höchste Zahl an Arbeitstagen, die in einem Jahr durch Streiks verloren gingen, 29,4 Millionen - das war im „Winter der Unzufriedenheit“ im Jahre 1979. Aber auch die durchschnittliche Zahl an verlorenen Tagen betrug in jenem Jahrzehnt immerhin 12,9 Millionen pro Jahr. In den achtziger Jahren lag der Durchschnitt bei 7,2 Millionen, wobei diese Zahl allerdings durch den Bergarbeiterstreik selbst verzerrt ist, der im Laufe eines Jahres allein 27 Millionen Tage kostete.

Im folgenden Jahrzehnt gingen im Durchschnitt jedes Jahr nur noch 660.000 Arbeitstage verloren. Die niedrigste Zahl gab es mit 235.000 im Jahr 1998 bei nur noch 205 Arbeitsniederlegungen, im Vergleich zu 1.221 im Jahr 1984. In der Privatwirtschaft gehören mittlerweile nur noch 19 Prozent der Beschäftigten einer Gewerkschaft an, und insgesamt sind weniger als 20 Prozent aller 18- bis 29-Jährigen noch Gewerkschaftsmitglied. In der Privatwirtschaft geht die Rate bis auf 10 Prozent zurück.

Aber selbst das gibt noch kein wahrheitsgetreues Bild davon, wie sehr die Fähigkeit der Arbeiterklasse gelitten hat, sich erfolgreich gegen die Unternehmer zu verteidigen. Denn die Gewerkschaften handeln heute praktisch als Polizeitruppe im Interesse des Managements, und nicht mehr als Verteidigungsorgane im Interesse ihrer Mitglieder.

In der Regierungszeit Thatchers und ihres Nachfolgers John Major unternahmen die Gewerkschaften nichts gegen die beispiellose Umverteilung des Reichtums von unten nach oben. Und als Labour 1997 unter Tony Blair an die Regierung kam, setzte er Thatchers wirtschaftsfreundlichen Kurs mit der vollen Unterstützung des Gewerkschaftsdachverbandes TUC fort.

Nach nur zwei Jahren Labour-Regierung verfügten die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung über den größten Anteil am Nationaleinkommen seit 1988, dem Höhepunkt der Thachter-Ära. Heute ist die Einkommensungleichheit noch größer, als sie es unter Thatcher war.

Die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen kann man an der Tatsache ablesen, dass die durch stressbedingte Erkrankungen verursachten Fehlzeiten von 18 Millionen Arbeitstagen im Jahr 1995 auf 33 Millionen 2002 gestiegen waren. Sie lagen damit sechzig mal so hoch, wie die Zahl der durch Streiks verloren gegangenen Arbeitstage (550.000).

Eine Untersuchung des Bergarbeiterstreiks ist also nicht nur von historischem Interesse, sondern hat auch eine aktuelle Dimension.

Die Folgen der Globalisierung

Man kann das Ausmaß von Thatchers Sieg im Jahr 1984 nicht ermessen, ohne die vorangegangenen Jahre zu betrachten. Der einjährige Streik wird oft als Kampf zweier Egomanen interpretiert: Thatcher und der Vorsitzende der Bergarbeitergewerkschaft Arthur Scargill. Beide wollten dieser Sichtweise zufolge einen Konflikt zur Entscheidung bringen, der bis ins Jahr 1972 zurückreichte. Damals hatte Scargill einen Massenstreikposten vor dem Koksdepot Saltley Gate organisiert, und die Bergarbeiter erkämpften eine 27-prozentige Lohnerhöhung. 1974 erreichte der Konflikt einen Höhepunkt. Der damalige Bergarbeiterstreik - Scargill führte damals die Bergarbeitergewerkschaft in Yorkshire - hatte die konservative Heath-Regierung veranlasst zu fragen: „Wer regiert das Land, die Regierung oder die Gewerkschaften?“ Schließlich wurde das Heath-Kabinett zum Rücktritt gezwungen und durch eine Labour-Minderheitsregierung ersetzt.

Thatcher stieg als Kopf einer Gruppe verschworener Rechter in die Führung der konservativen Partei auf, die von dem Glauben beseelt war, dass Heath niemals vor dem „Feind im Inneren“ hätte zurückweichen dürfen - vor den Bergarbeitern und der Arbeiterklasse. Diese Verschiebung in der Tory-Partei war mit grundlegenderen politischen und ökonomischen Veränderungen verbunden.

Der Sturz der Heath-Regierung fiel in die Zeit einer weltweiten Systemkrise des Kapitalismus; in den Jahren 1968 bis 1975 kam es zu Klassenkämpfen von oftmals revolutionären Dimensionen. Hintergrund war die internationale Wirtschaftskrise, die im Zusammenbruch des Brettons-Woods-Systems, d. h. der Aufhebung der Goldbindung des Dollars, ihren klarsten Ausdruck fand.

Zwar überlebte die herrschende Klasse diese stürmische Periode, aber die Profitraten fielen weiter. Daher kamen führende Kreise der Bourgeoisie zu dem Schluss, dass nur eine umfassende Offensive gegen das komplexe System von Zugeständnissen, für das der Sozialstaat stand, das kapitalistische System retten könne. Thatcher verkörperte, ebenso wie Präsident Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten, die Abwendung von der Politik des Klassenkompromisses zugunsten der direkten Klassenkonfrontation.

Thatcher repräsentierte den Aufstieg starker neuer Kräfte. Die großen Konzerne versuchten, den fallenden Profitraten durch eine aggressive Wende zu globaler Investition und internationalisierter Produktion entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang forderten sie die Deregulierung der Wirtschaften der fortgeschrittenen Industrieländer, die Senkung von Steuersätzen und die Zerstörung des Sozialstaats. Unter der Flagge des „Rückzugs des Staats“ betrieb Thatcher eine ökonomische und soziale Reorganisation Großbritanniens, um es auf globaler Ebene wettbewerbsfähig zu machen. Dies beinhaltete die „Rationalisierung“ und/oder Privatisierung verstaatlichter Industrien und die Senkung von Steuern bei gleichzeitiger Öffnung von Schlüsselbranchen für private Investoren.

Nach 1974 verbrachten die Konservativen fünf Jahre in der Opposition und bereiteten einen breit angelegten Angriff auf die Arbeiterklasse vor. Unmittelbar vor Thatchers Amtsantritt 1979 erstellte Nicholas Ridley einen Bericht, der einen Plan zur Niederschlagung der Bergarbeiter im Falle eines erneuten Arbeitskampfs enthielt. Der Plan beinhaltete unter anderem die Aufstellung einer „großen mobilen Polizeitruppe, ausgerüstet und vorbereitet, Recht und Gesetz gegen gewalttätige Streikposten zu verteidigen“.

Auch Scargill betrachtete die frühen 1970er Jahre als Vorbild für den Streik von 1984-85, aber im Gegensatz zu Thatcher von dem Standpunkt, einen in seinen Augen heroischen Erfolg zu wiederholen.

Weit entfernt davon, der Revolutionär zu sein, zu dem ihn die rechte populistische Mythologie gemacht hat, war Scargill zeitlebens ein Anhänger der stalinistischen Kommunistischen Partei und Verfechter von deren Nationalreformismus. Wenn er von Sozialismus sprach, dann nur als Perspektive für die ferne Zukunft. In der Zwischenzeit bedurfte es einer national regulierten Wirtschaft, mit einer Mischung aus Importkontrollen und Subventionen, die den Schutz von Großbritanniens verstaatlichter Kohleindustrie gewährleisten sollten. Das war der „Kohleplan“, auf den er die Labour Party und den TUC verpflichten wollte. 1984 hat gezeigt, dass nicht nur die herrschende Klasse nicht länger bereit war, solch eine Politik zu tolerieren, sondern dass es auch in der Labour-Bürokratie, zu der er selbst gehörte, keine nennenswerte Unterstützung mehr für dieses Programm gab.

Derselbe Prozess, der zum Aufstieg des Thatcherismus geführt hatte, hatte das nationalreformistische Programm der Labour Party untergraben. Früher hatten die Labour Party und die Gewerkschaften dafür gekämpft, den Unternehmern und dem Parlament Schritt für Schritt soziale Reformen abzuringen. Darin sah die Bürokratie keinen Weg zum Sozialismus, sondern eine Möglichkeit, das Profitsystem, auf dem ihre privilegierte Existenz beruhte, vor revolutionären Herausforderungen durch die Arbeiterklasse zu bewahren. Ihre grundsätzliche Loyalität galt immer dem Erhalt der bürgerlichen Ordnung, aber sie konnten behaupten, dass dies mit höheren Löhnen, besseren Arbeitsbedingungen, kostenloser Gesundheitsversorgung und Ausbildung in Einklang zu bringen sei.

Die Globalisierung der Produktion, die in den Mittsiebzigern einsetzte und sich in den 1980er Jahren beschleunigte, entzog dieser nationalreformistischen Politik den Boden. Die Reorganisierung jedes Aspekts des Wirtschaftslebens - Produktion, Distribution, Austausch - auf internationaler Ebene war unvereinbar mit Labours traditioneller Strategie, einen sozialen und politischen Ausgleich zwischen den Klassen zu erhalten. Stattdessen setzte die Labourregierung, die 1974 mit Hilfe der Bergarbeiter an die Macht gekommen war, vom Internationalen Währungsfond diktierte Sparmaßnahmen und Lohnzurückhaltung durch. Auf diese Weise verschaffte die Labour Party der Bourgeoisie erst die Atempause, um einen Gegenangriff gegen die Arbeiterklasse vorzubereiten, und ebnete den Weg für 18 Jahre konservativer Herrschaft.

Nie hat der TUC eine Alternative zur Labourregierung von Harold Wilson und danach James Callaghan geboten. Er forderte lediglich eine leichte Veränderung des Kurses. Das Ergebnis war, dass eine der intensivsten Perioden von Arbeitskämpfen überhaupt - der Winter der Unzufriedenheit von 1979 - damit endete, dass die rechteste Regierung, die Großbritannien bis dahin je gesehen hatte, an die Macht gelangte.

Scargills Perspektive verschleierte nicht nur die Rolle der Labour Party und des TUC, die Thatcher den Weg bereiteten, sie bot auch keine Möglichkeit, die andauernde Rechtswendung der Bürokratie zu bekämpfen. Nachdem Thatcher 1983 ihren zweiten Wahlsieg errungen hatte, begann die rechte Führung der Labour Party, sich die gesamte, von der Bourgeoisie diktierte neue ökonomische und politische reine Lehre zu eigen zu machen. Nachdem der TUC jeden Kampf gegen die Regierung isoliert und verraten hatte, gab er auch formal seinen Widerstand gegen die Anti-Gewerkschafts-Gesetze auf.

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