Frankreich:

Nationalversammlung verbietet das muslimische Kopftuch an Schulen

Am 10. Februar verabschiedete die französische Nationalversammlung ein Gesetz, das an öffentlichen Grund-, Mittel- und Oberschulen "Symbole und Kleidungsstücke" verbietet, die "ostentativ die Religionszugehörigkeit der Schüler zur Schau stellen". Das Gesetz, das mit 494 Jastimmen (bei 36 Gegenstimmen und 31 Enthaltungen) beschlossen wurde, wird ab September 2004 in ganz Frankreich und den meisten französischen Überseegebieten in Kraft treten.

In der Nationalversammlung stimmten sowohl die regierende konservative UMP (Union für eine Volksbewegung), als auch die traditionelle Linkspartei PS (Sozialistische Partei) mit überwältigender Mehrheit zu. Die kleinere, rechts-zentristische UDF (Union für Französische Demokratie) und die stalinistische KPF (Kommunistische Partei Frankreichs) stellten ihren Abgeordneten das Abstimmungsverhalten frei.

Trotz seiner scheinbaren Unparteilichkeit richtet sich das Gesetz in erster Linie gegen muslimische Kopftücher. Seit einem Jahr wird in Politik und Medien eine intensive Kampagne geführt, um diese aus öffentlichen Einrichtungen - Schulen, Krankenhäusern, Behörden, etc. - zu verbannen. Die Debatte darüber, ob muslimische Kopftücher auch anderswo verboten werden sollen, hält in der Öffentlichkeit unvermindert an.

Die politisch rechts angesiedelten Befürworter des Gesetzes stellen es zynischerweise als Verteidigung des Säkularismus dar und bemühen sogar die progressiven anti-klerikalen Traditionen der französischen Revolution. In dieses pseudo-demokratische Gewand konnten sie das Gesetz nur deshalb kleiden, weil die liberalen Medien, die Sozialistischen Partei und auch die ganz links stehende Lutte Ouvrière es offen unterstützten, und weil die Kommunistische Partei eine inkonsequente Haltung einnahm.

Der anti-demokratische Charakter des Gesetzes zeigte sich schon anhand der anfänglichen Bedenken des Ministers für Bildung, Luc Ferry, ob ein Kopftuchverbot nicht als verfassungswidrig eingestuft werden könnte. Ferry schob diese Zweifel allerdings von sich und beteiligte sich im vergangenen Dezember selbst an einem entsprechenden Gesetzentwurf.

Das Kopftuchverbot ist eine diskriminierende Maßnahme, die rechten Kräften Auftrieb gibt, und richtet sich in erster Linie gegen französische Muslime, indirekt aber gegen die demokratischen Rechte der gesamten Arbeiterklasse.

Vom Standpunkt des Kampfs für soziale Gleichheit und für die objektiven Interessen der arbeitenden Bevölkerung lautet das wichtigste Kriterium zur Beurteilung einer solchen Maßnahme: Fördert oder schwächt sie die internationale Einheit und das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse? Das Kopftuchverbot wirkt in beiden Aspekten nachteilig: Es begünstigt Ressentiments gegen Immigranten und vertieft so die Spaltung der Arbeiterklasse.

Vom Standpunkt demokratischer Rechte verletzt das Gesetz das Grundrecht auf Religionsfreiheit und verleiht dem französischen Staat neue Vollmachten, um die individuelle Meinungs- und Ausdrucksfreiheit einzuschränken. Das progressive demokratische Prinzip des Säkularismus - die Trennung von Kirche und Staat - ist etwas völlig anderes als ein Regierungserlass, der das Recht des Individuums beschneidet, seinen Glauben ohne Beeinträchtigung anderer zum Ausdruck zu bringen. Die Gleichsetzung von Säkularismus und Kopftuchverbot ist falsch.

Viele Verfechter des Gesetzes behaupten, es richte sich gegen die Unterdrückung der Frau, weil das Kopftuch ein Symbol dieser Unterdrückung sei. Ein sophistisches Argument: Man kann doch einem Gesetz, das eine ganze Gruppe wegen ihrer religiösen Gebräuche mit einem Stigma belegt, keinen demokratischen und "befreienden" Zug andichten! Völlig haltlos ist auch die immer wieder geäußerte Vermutung der Verbotsbefürworter, dass jeder Gegner des Gesetzes zwangsläufig den islamischen Fundamentalismus und die damit verbundene Benachteiligung der Frauen unterstütze.

In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt. Das diskriminierende Gesetz wird dazu führen, dass die unterdrückten Bevölkerungsschichten, die sich verständlicherweise ausgegrenzt und verfolgt fühlen, noch stärker zu religiöser Abkapselung neigen werden.

Religiöse Vorurteile können nur durch die politische Entwicklung und Bildung der Arbeiterklasse und den Kampf für demokratische Rechte und Sozialismus überwunden werden, und nicht durch staatliche Dekrete, die von oben herab von einer Regierung verhängt werden, die den Interessen einer eingesessenen Gesellschaftselite dient.

Das Anti-Kopftuch-Gesetz steht in einer Reihe mit einer ganzen Serie repressiver Maßnahmen der Regierung von Premierminister Jean-Pierre Raffarin: der Einführung von drakonischen Strafen für Gesetzesverstöße Minderjähriger, die geplante Einführung von "Nachbarschaftsrichtern" zur Verhängung von Strafen durch inoffizielle Schnellgerichte, wie auch die Zusammenfassung verschiedener Polizeigruppen in den Regionalen Interventionsgruppen (GIR). Diese GIRs haben schon Razzien im großen Stil in sozialen Brennpunkten und groß angelegte Streikbrecheroperationen durchgeführt.

Hintergrund des Verbots sind die wachsende soziale Unzufriedenheit und die Opposition gegen die arbeitnehmerfeindliche Politik von Raffarin und Staatspräsident Jacques Chirac. Es ist ein Versuch, von der sozialen Krise und dem Regierungsprogramm - Rentenkürzungen, Sozialabbau und wachsende Polizeirepression - abzulenken. Weil keine einzige der etablierten - linken wie rechten - Parteien den Arbeitern noch eine Lösung anzubieten hat, greift die politische Elite als Ganze zur Politik des ausländerfeindlichen Chauvinismus und verbreitet Law-and-Order-Hysterie, gemäß der bewährten Taktik: "Teile und herrsche!".

Bezeichnenderweise wurde das Kopftuchgesetz vor einer neuen Wahlrunde verabschiedet. Im Vorfeld der Regionalwahlen im kommenden Monat rechnen die Massenmedien mit einem starken Einbruch der offiziellen Parteien und bedeutenden Gewinnen für Parteien der äußeren Linken und der Rechtsextremen. Die Raffarin-Regierung ist zutiefst unpopulär; vor kurzem ergab eine Umfrage, dass 65 Prozent der Wähler ihre Stimme nutzen wollen, um ihre Unzufriedenheit mit Raffarin zum Ausdruck zu bringen. Weitere Umfragen der letzten Monate kamen zu dem Ergebnis, dass bis zu dreißig Prozent der Wähler zu der linken gemeinsamen Liste von Ligue Communiste Révolutionnaire und Lutte Ouvrière tendieren.

Der Verlauf der Debatte unterstreicht, dass der Kopftuchstreit in Wirklichkeit nur zur Ablenkung von der wachsenden sozialen und politischen Krise dient. Die ersten wichtigen Diskussionsbeiträge - von UMP-Innenminister Nicolas Sarkozy im April 2003, und im Mai-Juni von den PS-Notablen Jack Lang und Laurent Fabius - fielen mit einer massiven Streik- und Protestwelle gegen Raffarins Rentenkürzungen zusammen. An der Spitze dieser Kämpfe standen die Lehrer, auf die Straße getrieben nicht nur durch die vorgeschlagenen Rentenkürzungen, sondern auch wegen der geplanten Maßnahmen zur Dezentralisierung und Schwächung des öffentlichen Bildungswesens.

Die zweite Runde der Kopftuch-Agitation, die im Oktober 2003 begann, als Chirac und seine rechte Hand, UMP-Chef Alain Juppé, sich für ein gesetzliches Verbot stark machten, fiel mit einem Einbruch der Raffarin-Regierung in den Umfragen zusammen, nachdem sie während der Hitzewelle vom August 2003 den Tod von 15.000 Menschen untätig hingenommen hatte.

Die PS hat die Maßnahme von Anfang an entschieden unterstützt, und die etablierten Medien der linken Mitte, insbesondere die Tageszeitung Le Monde, spielten eine Schlüsselrolle dabei, die rassistische Hexenjagd mit einer Aura demokratischer Legitimität zu umgeben.

Der Rest der französischen Linken folgte im Wesentlichen diesem Kurs. Marie-George Buffet an der Spitze der Kommunistischen Partei, die das Gesetz offiziell ablehnte, hatte es noch 2003 gutgeheißen, und ein großer Teil der KPF-Abgeordneten in der Nationalversammlung stimmte dafür. Die äußerste Linke war gespalten. Während Lutte Ouvrière die Regierungskampagne offen unterstützte, erklärte die Ligue Communiste Révolutionnaire - innerlich gespalten - ein Gesetz sei unnötig. Sogar als sie das Kopftuchverbot schon offen bekämpfte, zwang die LCR einen ihrer regionalen Kandidaten in Aix-en-Provence im Südosten Frankreichs, den Rechtsanwalt Benoît Hubert, noch zum Rücktritt, weil er an einer Demonstration gegen das Gesetz teilgenommen hatte.

Der muslimfeindliche Kurs der UMP und seine Unterstützung durch die offizielle Linke beweisen erneut, wie bankrott das Argument vom "kleineren Übel" war, mit dem man in den Präsidentschaftswahlen von 2002 die französischen Wähler zur Stimmabgabe für Chirac aufrief. Als damals der Kandidat der Sozialistischen Partei, der vormalige Premierminister Lionel Jospin, nach der ersten Runde ausschied, und als sich in der zweiten Runde der UMP-Kandidat Chirac und der neofaschistische Kandidat Jean-Marie Le Pen vom Front National (FN) gegenüberstanden, mobilisierten Sozialistische Partei, Kommunistische Partei und Grüne aggressiv für eine Wahl Chiracs und erklärten ihn zum Retter der "Republik" vor dem rassistischen und ausländerfeindlichen Demagogen Le Pen.

Doch jetzt haben Chirac und die UMP nach dem Vorbild Le Pens eine eigene ausländerfeindliche Kampagne entfesselt, und die offizielle Linke hat durch ihre Zustimmung ihren Verrat noch gesteigert. Diese Erfahrung muss im Bewusstsein der Arbeiter und Jugendlichen als Beispiel für die Logik opportunistischer Politik verankert werden.

Teile der herrschenden Kreise in Frankreich sind sich bewusst - und fürchten zu einem gewissen Grad -, dass ihre immigrantenfeindliche Propaganda in den bevorstehenden Märzwahlen Zulauf für den Front National mobilisieren könnte. Davor hat Le Monde trotz ihrer Unterstützung für das Kopftuchgesetz wiederholt gewarnt. In einem Artikel vom 18. Dezember mit der Überschrift "Der FN beobachtet die Debatte aus der Ferne und hofft, davon zu profitieren" zitiert sie kommentarlos enthusiastische Spekulationen der FN-Führer.

So erklärte Marine Le Pen, die Tochter und politische Nachfolge-Anwärterin des FN-Führers Jean-Marie Le Pen, gegenüber Le Monde : "Die Kopftuchaffäre unterstreicht die Bedeutung der Immigration in unserem Land, und das thematisieren wir schon seit Jahren... Wenn Politikwissenschaftler sagen, der FN werde vom gegenwärtigen Klima profitieren, stimme ich ihnen zu."

Obwohl die französische Presse die Frage ausschließlich von einem nationalen Standpunkt präsentiert, ist das Vorgehen der Raffarin-Regierung gegen die Muslime Teil einer breiteren europäischen Politik. Europäische Regierungen, die Sozialabbau betreiben, um ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt zu steigern, und gleichzeitig die Militärausgaben erhöhen, suchen immer häufiger Zuflucht bei immigrantenfeindlichen Maßnahmen und einer Law-and-Order-Demagogie. Andere europäische Regierungen beobachten die französische Entwicklung aufmerksam, weil auch sie die Absicht haben, ähnliche Gesetze zu verabschieden.

Nach Chiracs Rede vom 17. Dezember 2003, in der er einen solchen Gesetzentwurf anordnete, empfahlen mehrere belgische Politiker dem französischen Beispiel zu folgen. Der belgische Innenminister Patrick Dewael erklärte: "Wir sollten in unserem Land das gleiche tun... Es sollte ebenfalls klar sein, dass Schülerinnen an öffentlichen Schulen kein Kopftuch oder andere sichtbare religiöse Symbole tragen können." Der belgische Premierminister Guy Verhofstadt erklärte, er sei dagegen, dass Beschäftigte im öffentlichen Dienst ein muslimisches Kopftuch trügen.

Auch in Deutschland ziehen mehrere Länder (Saarland, Hessen und Berlin) in Betracht, muslimische Kopftücher aus dem gesamten öffentlichen Dienst zu verbannen, oder sie wollen, wie im Fall von Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen, Lehrerinnen das Kopftuchtragen verbieten.

Siehe auch:
Bundesverfassungsgericht ermöglicht Kopftuch-Verbot für islamische Lehrerinnen
(3. Oktober 2003)
Frankreich: Die Kampagne gegen Moslems und die falsche Debatte über die Trennung von Kirche und Staat
( 6. September 2003)
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