Präsidentschaftswahlen in Afghanistan: Eine Verhöhnung der Demokratie

Am vergangenen Wochenende fanden in Afghanistan Präsidentschaftswahlen statt. Der folgende Artikel beleuchtet die Hintergründe. Er wurde im englischen Original noch vor der Wahl verfasst.

Da der Irak immer tiefer im Desaster versinkt, hat US-Präsident Bush versucht, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Afghanistan zu lenken und die dortige Präsidentschaftswahl vom 9. Oktober als Lichtblick zu verkaufen. Bushs loyaler Verbündeter in Australien, John Howard, der am gleichen Tag zur Wiederwahl steht, hat die Wahl in Afghanistan ebenfalls zur Erfolgsstory hochstilisiert, an der man sehen könne, dass die US-Intervention dem Land "Demokratie" gebracht habe.

Diese hohlen Behauptungen halten aber keiner Überprüfung stand. Die Wahl ist in allen Teilen von Bestechung, Drohungen und Gewalt geprägt. Deren Urheber sind weniger Vertreter des gestürzten Taliban-Regimes, als Warlords, Stammesführer und Milizkommandanten, die von den USA ausgehalten werden, der Kabuler Regierung angehören und zum Teil selbst zur Präsidentenwahl antreten. Die Bezeichnung der Wahl in Afghanistan als "demokratisch" ist glatter Betrug.

Die in den US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat vergangene Woche einen Bericht veröffentlicht, in dem umfangreiche Verletzungen von Grundrechten durch Warlords und ihre Milizen in so gut wie jedem Teil des Landes dokumentiert sind. Der Bericht beschreibt aufgrund monatelanger Recherchen in Afghanistan die systematische Einschüchterung politischer Rivalen, von Journalisten und Wahlorganisatoren, und gibt ein Bild von den Zwangsmethoden, mit denen man versucht, sich die Unterstützung einfacher Wähler zu sichern.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass es fast überall im Land "beträchtliche politische Unterdrückung gibt, und dass politisch aktive Afghanen in allen Regionen aussagen, sie übten regelmäßig Selbstzensur aus, weil sie sich andernfalls Drohungen oder Gewalt von Fraktionsführern ausgesetzt sehen. Die Taliban und andere aufständische Gruppen sind zwar in einigen südlichen und südöstlichen Provinzen immer noch eine reale Bedrohung, aber die meisten Afghanen sagten gegenüber Human Rights Watch, dass sie in erster Linie die Bedrohung und Gewaltakte durch lokale bewaffnete Gruppen und Milizen fürchteten - und nicht die Taliban."

In den östlichen Regionen zum Beispiel beherrschen die beiden Milizkommandanten Hazrat Ali und Haji Zahir jeden Aspekt des täglichen Lebens. Es ist ein offenes Geheimnis, dass diese Gangster in die verschiedensten kriminellen Machenschaften verwickelt sind, zu denen Landraub, Diebstahl, Kidnapping und Erpressung gehören. Aber Haji Zahir ist mit dem amtierenden Präsidenten Karsai verbündet, und Hazrat Ali operiert in enger Abstimmung mit den US-Truppen. Beide sind jetzt an der Einschüchterung von Wählern beteiligt.

Ein Vertreter der UN-Unterstützungsmission in Afghanistan (UNAMA) sagte der HRW: "Wenn diese Situation anhält, und wenn die Macht von Warlords wie Hazrat Ali nicht beschnitten wird, dann werden diese Wahlen keine Bedeutung haben. Die Menschen werden sie als Mittel sehen, die gegenwärtige Machtverteilung zu zementieren, und nicht als Gelegenheit, einige der Schurken loszuwerden, die zur Zeit an der Macht sind. In der hiesigen Politik hat im Moment immer der Mann mit dem Gewehr in der Hand das Sagen. Was soll das für eine Demokratie sein?"

Der gleiche Sprecher sagte: "Eine der Hauptquellen für die Macht und Autorität Hazrat Alis und seiner Bande ist ihre enge Beziehung zum US-Militär und -Geheimdienst. Er hat mithilfe dieser Beziehungen seine politischen Rivalen erfolgreich eingeschüchtert und geschädigt. Er hat Leute verhaftet und droht ihnen laufend, sie nach Guantanamo zu schicken."

Die Situation in der Nordregion um Mazar-i-Sharif ist ganz ähnlich; dort herrschen drei Milizkommandanten: der usbekische Warlord General Dostum; eine Fraktion des Hazara-Stammes unter der Führung von Mohammad Mohaqqiq und die Tadschiken-Miliz von Atta Mohammad. Die ersten beiden gehören zu den siebzehn Gegenkandidaten Karsais. Atta Mohammad arbeitet mit Jamiat-e-Islami, der Fraktion der Nordallianz zusammen, die Junis Kanuni unterstützt, der als schärfster Rivale von Karsai gilt.

Vergangene Woche veranstaltete Dostum eine der wenigen öffentlichen Kundgebungen seines Wahlkampfs. Etwa 30.000 seiner Anhänger wurden in einem Stadion in Sheberghan im Norden des Landes zusammengekarrt. Sie hörten von dem Kandidaten unter anderem das absurde Versprechen, demokratische Rechte verteidigen zu wollen. Dostum ist im ganzen Land für seine zahllosen Gräueltaten berüchtigt, darunter das Massaker an Hunderten unbewaffneten Taliban-Gefangenen unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Taliban-Regimes im Jahr 2001. Bevor er seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gab, war er Karsais wichtigster Sicherheitsberater.

Der von den USA unterstützte Karsai, ein aus dem Süden des Landes stammender Paschtune, arbeitet mit ähnlichen Methoden. Zwar haben es Parteien und Kandidaten in diesen Landesteilen auch mit bewaffneten antiamerikanischen Aufständischen zu tun, aber die hauptsächliche Bedrohung geht von örtlichen Milizen aus. "Zahlreiche voneinander unabhängige Quellen in Kandahar, unter ihnen politische Organisatoren, Journalisten und Menschenrechtsbeobachter aus Afghanistan und von der UNO, teilten Human Rights Watch im August mit, dass örtliche Kommandeure und Führer politische Organisatoren eingeschüchtert und bedroht hätten, die Karsais Kandidatur nicht unterstützten", heißt es im Bericht von HRW.

Ein besonders plastisches Beispiel der Methoden, mit denen Wähler unter Druck gesetzt werden, wurde vergangene Woche bekannt. Eine Versammlung von 300 Klan-Führern vom Terezai-Stamm in der Provinz Paktia beschloss, Karsai zu unterstützen, und ließ folgende Ankündigung im Radio verbreiten: "Alle Mitglieder des Terezai-Stammes müssen für Hamid Karsai stimmen... Wenn ein Terezai für einen anderen Kandidaten stimmt, wird der Stamm sein Haus niederbrennen." Karsai zeigte sich über diese Unterstützung erfreut und lud die Stammesführer zu einem Besuch nach Kabul ein. Er wischte Kritik an der Radiosendung beiseite. Solche Warnungen seien reine Tradition und nicht wirklich ernst zu nehmen.

Die verbreitete Einschüchterung von Wählern und andere korrupte Praktiken werden von mangelhaften organisatorischen Wahlvorbereitungen ergänzt. Afghanische und UN-Beamte schätzen, dass 125.000 Wahlhelfer benötigt werden, um die 5.000 Wahllokale im ganzen Land zu bemannen. Der HRW-Bericht gibt an, dass den Wahlbehörden Anfang September noch 100.000 Helfer fehlten, und schloss daraus, dass es gar nicht mehr möglich sei, genügend Personal zu rekrutieren und auszubilden. Schon jetzt gibt es Anzeichen dafür, dass viele Wähler sich mehrfach registrieren lassen. Beamte der Wahlbehörde teilten HRW mit, dass von den zehn Millionen Wählerregistrierungen möglicherweise nur fünf bis sieben Millionen echt seien.

US-Druck

In vielerlei Hinsicht werden die Gangstermethoden der Warlords und Stammesältesten aber durch die Methoden noch viel mächtigerer Gangster in den Schatten gestellt - nämlich der Bush-Regierung. Die USA zögern genauso wenig wie die kleinen Despoten, ihre Militärmacht und ihre praktische Kontrolle über die Finanzen der Regierung einzusetzen, um die Entscheidungen in Afghanistan insgesamt zu bestimmen.

Die US-Regierung hatte bisher mithilfe der UN und unter stillschweigender Billigung ihrer europäischen Verbündeten bei jedem Aspekt der Wahl ihre Hand im Spiel - von der Festsetzung des Termins bis zur Erstellung der afghanischen Verfassung. Das afghanische Volk hatte nicht die geringste Einflussmöglichkeit.

Zwei Wahlen - die Präsidentschafts- und die Parlamentswahl - sollten eigentlich schon im Juni stattfinden, wurden aber zweimal verschoben. Jetzt wird nur die Präsidentschaftswahl am 9. Oktober abgehalten, denn man will den größtmöglichen Vorteil für Bushs eigenen Präsidentschaftswahlkampf daraus schlagen. Bezeichnenderweise hat Karsai den Vorschlag vieler seiner Rivalen zurückgewiesen, die für eine weitere Verschiebung eintraten, weil die kurze Zeitspanne für den offiziellen Wahlkampf und Sicherheitsprobleme eine offene politische Debatte behinderten.

Die Verschiebung der Parlamentswahl auf April nächsten Jahres ist noch bedenklicher. Nach der unter Aufsicht der USA und der UN entworfenen und kritiklos von einer manipulierten Loya Jirga [Ratsversammlung der Stämme] abgesegneten Verfassung hat der Präsident weitgehende, autokratische Vollmachten: Er ernennt und entlässt das Kabinett, Offiziere, Richter und andere hohe Staatsbeamte. Das Parlament ist die einzige, wenn auch beschränkte Kontrollinstanz, wird aber frühestens in sechs Monaten zusammentreten.

Obwohl formell neutral, lässt Washington keinen Zweifel, dass es den Amtsinhaber bevorzugt. Karsai war 2002 mit US-Unterstützung eingesetzt worden und hat in den vergangenen zwei Jahren seine Unterwürfigkeit gegenüber seinen amerikanischen Herren unter Beweis gestellt. Eine private amerikanische Sicherheitsfirma mit Namen Dyncorp stellt seine Leibwächter, und er wird vom amerikanischen Militär im Land herumkutschiert - ein Privileg, das keiner seiner Rivalen genießt.

Ein Artikel in der Los Angeles Times aus der vergangenen Woche macht klar, dass die USA die Wahl aktiv zu manipulieren versuchen. Einer der Präsidentschaftskandidaten, Mohammed Mohaqqiq, erklärte der Zeitung, dass US-Botschafter Zalmay Khalilzad ihn in seinem Büro besucht habe und im Verlauf einer einstündigen Diskussion versucht habe, ihn zur Aufgabe seiner Kandidatur zu bewegen.. "Er erklärte mir, ich solle mich aus der Wahl zurückziehen, aber er übte keinen Druck dabei aus. Es war mehr eine Bitte", sagte Mohaqqiq.

Gemeinsam mit der "Bitte" wurden ihm mehrere Angebote vorgetragen, die Mohaqqiq ablehnte, hauptsächlich weil er sie als unzureichend betrachtete. Khalilzad, der mit der Antwort nicht zufrieden war, wandte sich darauf an die Anhänger des Hazara-Warlords. Mohaqqiq berichtete: "Er ging weg und ließ meine loyalsten Männer und die gebildetsten Mitglieder meiner Partei und meines Wahlkampfstabs zum Präsidentenpalast kommen. Er sagte ihnen, sie sollten mich unter Druck setzten - oder mich bitten - meine Kandidatur zurückzuziehen. Und er sagte meinen Männern, sie sollten mich fragen was ich als Gegenleistung haben wolle."

Das war kein Einzelfall. "Es betrifft nicht nur mich", sagte Mohaqqiq. "Das gleiche haben sie mit allen Kandidaten gemacht. Darum denken alle, dass nicht nur Khalilzad so ist, sondern die ganze US-Regierung. Sie alle wollen Karsai - und diese Wahlen sind nur eine Show."

Khalilzad hat natürlich jede Einmischung in die Wahlen abgestritten. Aber Mohaqqiqs Ausführungen wurden auch von anderen Kandidaten bestätigt, die letzte Woche eine Versammlung abhielten, um die Frage zu diskutieren. Sadat Ophyani, der Wahlkampfmanager von Junis Kanuni, sagte der Zeitung: "Unsere Herzen sind gebrochen, weil wir dachten, wir könnten Mr. Karsai schlagen, wenn dies eine ehrliche Wahl wäre. Aber das ist nicht der Fall. Mr. Khalilzad übt eine Menge Druck auf uns aus und erlaubt uns nicht, einen guten Wahlkampf zu führen."

Der resignierte Ton in Ophyanis Bemerkungen widerspiegelt den Umstand, dass alle Strippenzieher, Armeeführer und Stammeschefs unter der Oberhoheit der USA arbeiten - wie sie alle wissen. Ihre Regierungsposten und Titel, der Fluss von Finanzmitteln in ihre Regionen und die Existenz ihrer Miliz hängen alle von der formellen Unterstützung durch Karsai, d.h. in Wirklichkeit durch die USA ab. Seit dem Sturz der Taliban-Herrschaft im Jahr 2001 war Khalilzad immer Washingtons Mann vor Ort - erst als Bushs Sondergesandter, jetzt als US-Botschafter - der die politische Situation manipulierte und sicherstellte, dass die lokalen Warlords auf Linie blieben.

Mitte September, mitten in Fraktionskämpfen in der westlichen Stadt Herat, griff Karsai ein, um Ismail Khan als Provinzgouverneur zu entlassen. Diese überraschende Entscheidung provozierte eine zornige Reaktion von Khans Sympathisanten, die vor den UN-Gebäuden in der Stadt eine Demonstration organisierten. Der Protest wurde von amerikanischen und afghanischen Truppen gewaltsam zerstreut, die mindestens sieben der Anhänger Khans töteten und zwanzig verwundeten. Zwar wurde die Entlassung von Karsai ausgesprochen, aber es war völlig klar, wer in Wirklichkeit die Fäden zog. Als es so aussah, als würden die Aufstände außer Kontrolle geraten, trat Khan - auf Khalilzads Geheiß - im Lokalfernsehen auf, um die Demonstranten zu beruhigen.

Mit Hinweis auf Khans Entlassung prahlte Khalilzad diese Woche, Afghanistan habe den Warlords "das Rückgrat gebrochen". In Wirklichkeit hat die Entlassung von Khan als Provinzgouverneur wenig dazu beigetragen, seine Macht und seinen Einfluss in Herat zu mindern. Er unterhält nach wie vor eine der größten Milizen des Landes und hat durch seine Kontrolle des ansehnlichen Grenzhandels mit dem benachbarten Iran beträchtliche finanzielle Ressourcen angehäuft. Wie Khalilzad sehr wohl weiß, können die USA es sich nicht leisten, ganz auf Warlords wie Khan zu verzichten, nachdem sie sich in den letzten drei Jahren auf sie gestützt haben. Die Entlassung von Khan als Gouverneur sollte jedoch allen Despoten des Landes erinnern, dass sie ihre Einflussgebiete nur mit US-Duldung kontrollieren.

Das Ergebnis der Wahl vom 9. Oktober scheint vorherbestimmt zu sein. Aber selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass Karsai in einen zweiten Wahlgang gezwungen oder besiegt wird, wäre sein Nachjfolger gezwungen, Washington zu Diensten zu sein. Wie immer das Ergebnis ausfällt, es wird nicht den freien Willen des afghanischen Volkes zum Ausdruck bringen. Dennoch wird diese Wahlscharade ohne Zweifel den Segen der Vereinten Nationen erhalten und von der Bush-Regierung triumphierend als Bestätigung ihrer kriminellen Politik gepriesen werden.

Siehe auch:
Afghanistan: "Demokratie" nach dem Diktat der USA
(9. Januar 2004)
Ein Jahr nach dem Fall von Kabul: Afghanistan versinkt in Armut, Unsicherheit und despotischer Herrschaft
( 11. Dezember 2002)
Loading