Frankreich: Gymnasiasten demonstrieren gegen Schulreform

Einhunderttausend französische Gymnasiasten traten am 10. Februar in Streik und beteiligten sich seither an zahlreichen Demonstrationen, um gegen ein Schulgesetz zu protestieren, das der Erziehungsminister der rechten Raffarin-Regierung, François Fillon, vorgelegt hat. Die Beteiligung ist um so erstaunlicher, als derzeit an fast der Hälfte der höheren Schulen in Frankreich Ferien sind.

Das Hauptanliegen der Schüler, die Reform des baccalauréat oder "bac", des französischen Zentralabiturs, ist Bestandteil eines Maßnahmenpakets, das am 15.Februar der Nationalversammlung vorgelegt werden sollte. Als Reaktion auf die Massendemonstrationen zog Erziehungsminister Fillon die Reform des "bac" sofort zurück und klammerte sie aus der Debatte im Parlament aus. Ausdrücklich unterstrich er jedoch seine Entschlossenheit, die übrigen Vorschläge durchzusetzen.

Die Proteste der Schüler fanden nur wenige Tage nach dem nationalen Aktionstag vom 5. Februar statt, an dem eine halbe Million Menschen dem Aufruf der Gewerkschaften gefolgt waren und in ganz Frankreich gegen die verschärften Angriffe der Raffarin-Chirac-Regierung demonstriert hatten. Die Proteste vom 5. Februar hatten sich gegen eine Erhöhung der geltenden 35-Stunden-Woche und gegen andere Angriffe auf Arbeitsplätze und demokratische Rechte gerichtet.

Eine der "Reformen", die Fillon durchsetzen will, besteht in der Abschaffung der beliebten traveaux personnels encadrés. Das sind persönliche Projekte der Schüler, bei denen in verschiedenen Fächern unter Anleitung freiwillige Studien und Untersuchungen erarbeitet werden können.

Eine weitere Maßnahme ist die Einführung eines Lehrplanes, der die Zahl der Kernfächern für das Zentralabitur reduziert und künstlerische Fächer nicht mehr mit einbezieht.

Die Lehrer mobilisieren außerdem gegen eine Erhöhung ihrer Arbeitsbelastung, da sie gezwungen werden sollen, Vertretungen für fehlende Kollegen zu übernehmen, und auch in Fächern unterrichten müssten, für die sie keine Qualifikation besitzen.

Auch jetzt schon ist vieles im Argen, beispielsweise sind die Klassen viel zu groß, es herrscht Lehrermangel, oft gibt es keinen Ersatz für pensionierte Lehrer, und das aufsichtshabende Personals wird weiter drastisch abgebaut.

Das baccalauréat eröffnet den Zugang zur Hochschulbildung und wurde früher als Garant für einen guten und sicheren Arbeitsplatz betrachtet. Heute wird es aber immer schwieriger, selbst nach einigen Jahren Studium eine sichere und vernünftig bezahlte Stellung zu finden. Der Grund ist, dass die Arbeitslosenrate seit Jahrzehnten um die zehn Prozent herum pendelt; in Arbeitergebieten und in Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus sind die Arbeitslosenzahlen noch höher. Der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit ging mit einer ungeheuren Ausdehnung von Zeitarbeitsverträgen einher.

Während bisher nur die schriftliche Prüfung für das Zentralabitur zählt, soll in Zukunft beim "bac" auch die Lehrerbeurteilung in die Prüfungsbenotung mit einfließen. Viele Gymnasiasten befürchten, dieser Plan könnte diskriminierende Auswirkungen haben. Wenn die Abschlussnote eines Abiturienten von seiner Schule mit bestimmt wird und diese Schule zufällig nicht zu den renommierten Einrichtungen gehört, hat sein Abi vermutlich nicht mehr denselben Wert wie das anderer Schüler, die von einer Prestige-Schule herkommen. Es droht eine Benachteiligung für Schüler, die Minderheiten angehören oder Schulen in Arbeitergebieten besuchen.

So wird Fillons Vorschlag, künftig ein Fünftel der Abiturnote durch die laufenden Bewertungen der Lehrer zu bestimmen, als schwere Beschädigung des [anonym abgelegten] Zentralabiturs aufgefasst, das bis heute als gerechter und unparteiischer Einstieg in die höhere Bildung und das Berufsleben angesehen wird.

Junge Menschen haben immer stärker das Gefühl, in einer Gesellschaft ohne gesicherte Zukunft zu leben, die sie nach der Selektion einer technischen und Verwaltungselite nur noch als billiges oder überflüssiges Arbeitskräftereservoir betrachtet. Indessen sind die Proteste der Lycéens eher unpolitisch. Im Großen und Ganzen stellen sie die französische kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht in Frage, sondern suchen eher im Rahmen des gegenwärtigen sozialen und ökonomischen Systems nach Antworten auf ihre Ängste.

Die WSWS hat zahlreiche Interviews mit Schülern auf der Demonstration vom 10. Februar gemacht.

Thibault vom Georges-Clémenceau-Gymnasium in Villemomble in der Nähe von Créteil sagte: "Wir demonstrieren heute wegen einer Regierung, die uns für Idioten hält! Sie behandeln uns wie Schafe, wollen nur Arbeitskräfte aus uns machen. Für die Bildung existiert kein richtiger Plan. Es zählt nur noch, ob du Arbeiter wirst oder Boss? Wir sind hier, um zu zeigen, dass wir bei vollem Verstand sind, dass wir nicht doof sind und uns nicht einfach alles gefallen lassen. Wir kennen das schon."

Sein Schulfreund Soza sagte: "Es ist eine allgemeine Revolte. Ich finde, die Polizei verhält sich heutzutage der Jugend gegenüber wirklich fies. Das sind richtige Unterdrückungsgesetze, die Gesetze von Sarkozy und Perben. Demnächst gelten wir alle als vorbestraft. Man nimmt uns die Freiheit. Wir wollen nicht, dass es in Frankreich genauso wird wie in den USA, wo Teenager wegen Jugendsünden für Jahre ins Gefängnis wandern."

Florian, Sozas Freund, fügte noch hinzu: "Wir gehen in die Schule, um zu lernen und nicht, um durchsucht zu werden."

Thibault sagte: "Der Hochschulzugang, den wir [durch das Abi] in unserer Wohngegend erhalten, wird dann keinen Wert mehr haben. Wir besuchen die Schule in unserem Viertel, so wird die Ausbildung dann nur für den Arbeitsmarkt in unserem Viertel gut sein."

Samuel (15) vom Louis-Bascan-Gymnasium in Rambouillet erzählte: "Bis jetzt sind die Bedingungen in unserer Schule noch in Ordnung, aber mit dem Fillon-Gesetz wird sich das ändern. Sie wollen die TPE abschaffen, das sind eigene, wissenschaftliche Projekte der Schüler, bei denen wir experimentieren können. Das ist für die Schüler gar nicht gut.

Es ist schrecklich. Erst werden sie die Tanz- und Theaterkurse streichen, danach noch den ganzen Rest. Es ist auch lächerlich, denn das sind gute Kurse. Und das alles, weil nicht genug Geld da ist. Es wird ja auch weniger Jobs und weniger Lehrer geben.

Bis jetzt laufen die Prüfungen zum baccalauréat anonym ab. Wer von einer Schule aus einem armen Gebiet kommt, wird genau so bewertet wie einer aus einer sehr teuren Privatschule. Für alle gilt der gleiche Maßstab. Mit der laufenden Beurteilung, wie in der Reform vorgesehen, wird man eben kein Diplom mehr erhalten, wenn man schlechte Lehrer hat, die schlechte Noten geben. Es ist dann nicht mehr anonym."

Fanny (17) vom Jean-d’Albret-Gymnasium in Saint Germain en Laye berichtete der WSWS : "Wir demonstrieren gegen die Reform des Diploms zur Studienberechtigung, gegen die Abschaffung der anonymen Prüfungen und gegen die Abschaffung einiger Fächer und Wahlmöglichkeiten. Diese Reform bedeutet Diskriminierung durch Ungerechtigkeit, weil nicht alle Schulen das gleiche Niveau haben. Das ist Zwei-Klassen-Bildung.

Ich weiß nicht, ob der Minister das Gesetz wegen der Schülerproteste zurückziehen muss. Es ist denen egal, wie die Gesellschaft in Zukunft aussehen soll - sie interessieren sich nur fürs Geld und ihren eigenen Wohlstand. Wenn wir nicht zulassen wollen, dass Frankreich verkommt, sollten wir aus dem heutigen System aussteigen. Sonst wird es überall noch schlechter.... Wir können dann nicht mehr solidarisch leben - es wird überall Ungerechtigkeit geben.

Ich weiß nicht, ob die anderen politischen Parteien eine Alternative haben. Ich glaube, das Wichtigste ist jetzt, dass die Jugend aufsteht, damit die Regierung kapiert, dass die jungen Leute überhaupt nicht damit einverstanden sind. Wir haben ein Recht auf unsere eigene Meinung, und ich denke, einige Parteien wollen wohl Gegenvorschläge machen. Aber man muss der Jugend die Möglichkeit geben, sich selbst zu artikulieren."

Siehe auch:
Frankreich: Eine halbe Million protestieren gegen Regierung
(12. Februar 2005)
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