Hurrikan Katrina: Von der Naturkatastrophe zur Demütigung der USA

Die Hurrikankatastrophe in New Orleans und an der Golfküste Mississippis hat sich zu einer historisch beispiellosen Demütigung der Vereinigten Staaten entwickelt. Die Szenen massiven menschlichen Leidens, der Hoffnungslosigkeit, des Elends und der Verwahrlosung inmitten der Trümmer des einstigen New Orleans führen der gesamten Welt und vor allem der geschockten amerikanischen Öffentlichkeit die innere Fäulnis des amerikanischen Kapitalismus vor Augen. Der reaktionäre Mythos, Amerika sei das "großartigste Land der Welt", hat einen schweren Schlag bekommen.

Der Hurrikan Katrina hat die furchtbare Wahrheit über das zeitgenössische Amerikas ans Licht gebracht: Das Land ist von heftigen Klassengegensätzen zerrissen. Es wird von einer korrupten Plutokratie geführt, die weder Sinn für die gesellschaftliche Realität noch für öffentliche Verantwortung besitzt. Und es erachtet Millionen Menschen als überflüssig, die weder über eine soziale Absicherung verfügen, noch auf öffentliche Hilfe zählen können, wenn sie zum Opfer einer Katastrophe werden.

Washingtons Reaktion auf diese menschliche Tragödie bestand aus grober Inkompetenz und krimineller Gleichgültigkeit. In einer amerikanischen Großstadt ließ man Menschen vier Tage lang hilflos auf der Straße sterben. Das Fernsehen sendet täglich Bilder des Leids und des Elends, die an die Verhältnisse in den ärmsten Ländern der Dritten Welt erinnern, ohne dass eine sichtbare Reaktion der Regierung erfolgt. Und das im reichsten Land der Welt!

Der Sturm, der die Dämme von New Orleans niederriss, hat auch die entsetzlichen Folgen von 25 Jahren ununterbrochener sozialer und politischer Reaktion offengelegt. Die Auswirkungen der Zerstörung sozialer Einrichtungen, des Abbaus staatlicher Stellen zur Armuts- und Katastrophenbekämpfung sowie der ständigen Propaganda, der "freie Markte" löse wie ein Zaubermittel alle Probleme der modernen Gesellschaft, sind für Millionen Menschen sichtbar geworden.

Während mindestens 100.000 Menschen ohne Strom, Wasser und Essen in der Stadt gefangen und von Krankheit und Tod bedroht sind, zeigt sich die Regierung unfähig, auch nur die elementarste Logistik zu organisieren. Sie war nicht einmal in der Lage, schwerkranke Patienten aus den öffentlichen Krankenhäusern zu evakuieren, geschweige denn eine rudimentäre medizinische Grundversorgung für die Tausenden zu gewährleisten, die durch die Katastrophe verletzt wurden.

Wie reagierte die Regierung, als klar wurde, dass New Orleans eine Naturkatastrophe droht? Erst hoffte sie, der Sturm werde eine andere Richtung einschlagen, und dann handelte sie nach dem Motto: "Jeder ist sich selbst der nächste". Sie forderte die Einwohner auf, die Stadt zu verlassen, und überließ die Zehntausenden Menschen ohne Transportmöglichkeit und finanzielle Mittel ihrem Schicksal.

Ansammlungen Tausender hungriger und obdachloser Menschen können jetzt nur noch "Wir brauchen Hilfe" skandieren, während sich die Toten auf den Straßen häufen. Die Unfähigkeit der Regierung, die elementarsten Rettungsmaßnahmen durchzuführen und zu koordinieren, führt mit Sicherheit zu einem weiteren Ansteigen der Zahl der Todesopfer, die jetzt schon in die Tausende geht. Die Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber menschlichem Leiden, ihre mangelnde Vorbereitung auf die Katastrophe und vor allem ihre absolute Unfähigkeit haben selbst die willfährigen amerikanischen Medien verblüfft.

Das patriotische Geschwätz, die Nation müsse die Krise vereint überwinden, und der Versuch, die öffentliche Meinung zu vergiften, indem die Menschen ohne Nahrung und Wasser als plündernde Vandalen verunglimpft werden, haben angesichts des unbestreitbaren, riesigen Debakels ihre Wirkung völlig verfehlt. Reporter, die in die verwüstete Region gesandt wurden, brachen ob der Menschenmassen, die weinend und umsonst nach Hilfe riefen, in Tränen aus. Nachrichtensprecher wunderten sich laut darüber, weshalb die Behörden nicht in der Lage waren, dieses unermessliche menschliche Leid wenigsten zu mildern.

Es ist kaum zu fassen, wie wenig Interesse der Präsident, der Kongress sowie die demokratische und die republikanische Partei für die Hundertausenden Menschen zeigen, deren Lebensgrundlage zerstört wurde und die vor einer äußerst bedrohlichen und unsicheren Zukunft stehen, ganz zu schweigen von den unzähligen Millionen, die von dem ökonomischen Nachwirkungen des Hurrikans getroffen werden.

Die Inkompetenz, Dummheit und Unmenschlichkeit, die für die geldgierige Wirtschaftselite Amerikas so charakteristisch ist, findet in der Figur von Präsident George W. Bush ihren konzentrierten und abstoßendsten Ausdruck. Als sich der Hurrikan über zwei Wochen hinweg in der Karibik aufbaute und langsam der Küste New Orleans und Mississippis näherte, amüsierte sich Bush auf seiner Ranch im texanischen Crawford. Inzwischen ist klar, dass die Regierung keine ernstzunehmenden Vorbereitungen traf, um mit der Gefahr des aufziehenden Sturms fertig zu werden.

Bushs Fernsehauftritte waren jämmerlich. Am Mittwoch gab er nur Banalitäten von sich. Am Donnerstag ergänzte er sie in einem Interview mit "Good Morning America" durch die Drohung, es werde "Null Toleranz" für Plünderer geben. Als sich die ABC-Reporterin Dianne Sawyer erkundigte, was er über den Vorschlag denke, die großen Ölkonzerne sollten verpflichtet werden, einen Teil ihrer unerwarteten Gewinne aus den Benzinpreiserhöhung der letzten sechs Monate zur Linderung der Not einzusetzen, erblich der Präsident. Er reagierte mit einem Aufruf an die amerikanische Bevölkerung, Geld an Hilfsorganisationen zu spenden.

Mit anderen Worten wird es keine ernsthafte finanzielle Unterstützung der Regierung geben, um Leben zu retten, sich um die Kranken und Bedürftigen zu kümmern und den Heimatlosen und Mittellosen zu helfen, ihr Leben neu aufzubauen. Es wird auch keinerlei zentral organisierten und national finanzierten Programme für den Wiederaufbau einer der bedeutendsten amerikanischen Städte geben, in der einige der wichtigsten kulturellen Errungenschaften der amerikanischen Bevölkerung in Musik und Kunst entstanden sind. Vor allem aber wird man nicht zulassen, dass das Leid von Millionen Menschen die Interessen einer schmalen Schicht von Multimillionären an der Spitze der Gesellschaft gefährdet, deren Interessen die Regierung vertritt. Später am Tag bezeichnete Bush die Auswirkungen der Flut als "zeitweilige Störung".

Die skrupellose Haltung der Mächtigen gegenüber den normalen, armen und arbeitenden Einwohnern von New Orleans wurde am Donnerstag vom republikanischen Kongresssprecher Dennis Hastert auf den Punkt gebracht. Er meinte, es sei sinnlos, Steuergelder für den Wiederaufbau von New Orleans zu verschwenden. "Wie es aussieht, kann ein Großteil dieses Ortes planiert werden," sagte er.

Auch wenn Hastert diese eiskalte Bemerkung zurücknehmen musste, entspricht sie einer politischen Logik. Um die durch den Hurrikan Katrina zerstörten Lebensgrundlagen wieder aufzubauen, wären enorme Anstrengungen der Regierung erforderlich, die völlig im Gegensatz zur Politik der Privatisierung und der Umverteilung des Wohlstandes von unten nach oben stehen, wie sie von beiden politischen Parteien seit Jahrezehnten betrieben wird. Glaubt jemand ernsthaft, die derzeitige Regierung und ihre demokratischen Komplizen im Kongress würden ein ernstzunehmendes Programm starten, um preisgünstige Wohnungen zu bauen, die Schulen wieder zu errichten und den Hunderttausenden Arbeit zu geben, die durch die Katastrophe arbeitslos gewordenen sind?

Der Kongress hat zu der Katastrophe im Süden praktisch geschwiegen. Er hat dem extrem rechten Programm des Präsidenten zugestimmt - massiven Steuererleichterungen für die Reichen, den hohen Ausgaben für die Kriege gegen Irak und Afghanistan, der ständigen Erhöhung des Pentagonhaushalts und den Milliarden für das Ministerium für Heimatschutz. Doch zu dieser Katastrophe hat er nichts zu sagen, denn der Millionärsclub im Kapitol weiß nur allzu gut, dass er Ausgaben für elementare Infrastrukturmaßnahmen zusammengestrichen hat - einschließlich der Gelder für dringend empfohlene Verbesserungen an den veralteten und ungenügenden Schutzsystemen gegen Hurrikane und Überflutungen an der nun verwüsteten Golfküste.

Die demokratische Partei hat das wie üblich mitgetragen. Nun konnte der Präsident befriedigt verkünden, dass sein demokratischer Vorgänger Bill Clinton zusammen mit Bush Senior, dem früheren republikanischen Präsidenten, wieder auf Sammeltour geht, betroffene Regionen besucht und Wohltätigkeitsspenden eintreibt. Die Demokratische Partei signalisiert so ihre Unterstützung für den amtierenden Präsidenten und den politischen Kurs der Republikaner, die ernsthafte staatliche Finanzhilfen für die Opfer und den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete ablehnen.

Die derzeitigen Tragödie hat hauptsächlich gesellschaftliche und politische, nicht natürliche Gründe. Die herrschende Elite der Vereinigten Staaten hat in den letzten 30 Jahren jede Form von staatlicher Regulierung und sozialer Fürsorge, wie sie in früheren Zeiten entstanden sind, abgebaut. Die gegenwärtige Katastrophe ist das fürchterliche Produkt dieses politischen und sozialen Rückschritts.

Die Lehren aus früheren Natur- und Wirtschaftskatastrophen - den verheerenden Überschwemmungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der großen Trockenheit und der Großen Depression der 1930er Jahre - sind von der herrschenden Elite zurückgewiesen und verspottet worden, weil sie vollauf damit beschäftigt ist, alle gesellschaftlichen Belange dem Streben nach Profit und der Anhäufung persönlichem Reichtums unterzuordnen.

Franklin Roosevelt - ein scharfsinniger und relativ weitsichtiger Vertreter seiner Klasse - musste die sich mit Händen und Füßen wehrende herrschende Elite Amerikas zu einem Programm der sozialen Reformen zwingen, um das kapitalistische System vor der sozialen Revolution zu retten. Doch selbst während seiner Präsidentschaft wurden die groß angelegten, staatlich finanzierten und kontrollierten gesellschaftlichen Projekte, wie die Tennessee Valley Authority, nie zum Vorbild für breiter angelegte Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit. Die Widersprüche und die Bedürfnisse eines ökonomischen Systems, das auf dem Privatbesitz an den Produktionsmitteln und der Produktion um des Profit willens beruht, führten dazu, dass alle weitergehenden Projekte aufgeschoben wurden.

Seit den 70er Jahren, als sich die Krise des Kapitalismus vertiefte, griff die herrschende Elite das gesamte Konzept der sozialen Reform an und baute die zuvor eingeführten Beschränkungen des Marktgeschehens wieder ab. Das Ergebnis war eine unaufhörliche Plünderung der Gesellschaft, eine beispiellose Konzentration von Reichtum in den Händen immer weniger Individuen und ein Ausmaß an sozialer Ungleichheit, das den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts weit in den Schatten stellt. Betrug und die schlimmsten Formen von Spekulation und Kriminalität haben sich in den oberen Rängen der amerikanischen Gesellschaft breit gemacht. Diese gesellschaftliche Realität ist - hervorgerufen durch einen Hurrikan - in Form des Zusammenbruchs der elementarsten Formen des sozialen Zusammenlebens plötzlich sichtbar geworden.

Das politische Establishment und die Wirtschaftselite sind sichtbar bankrott, zusammen mit ihren ständigen Beteuerungen, dass die ungehinderte Entwicklung des Kapitalismus die Lösung für alle gesellschaftlichen Probleme sei. Die von Katrina entfesselte Katastrophe hat unmissverständlich verdeutlicht, dass Amerika aus zwei Ländern besteht, einem für die Reichen und Privilegierten und einem anderen, in dem die übergroße Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung am Rand des sozialen Abgrunds steht.

Die Behauptung, der Krieg gegen den Irak, der "globale Krieg gegen den Terrorismus" und der "Heimatschutz" dienten dem Schutz der amerikanischen Bevölkerung, hat sich als Lüge entpuppt. Das sträfliche Versäumnis, die Einwohner New Orleans zu beschützen, entlarvt diese Behauptung als Propaganda mit dem Zweck, den kriminellen Charakter der herrschenden Elite zu verbergen und die Tatsache zu vertuschen, dass die Mittel zur Deckung der Grundbedürfnisse der Menschen für andere Zwecke missbraucht werden.

Die zentrale Lehre aus New Orleans lautet, dass die elementaren Erfordernisse einer Massengesellschaft nicht mit einem System zu vereinbaren sind, das alles der Bereicherung einer Finanzoligarchie unterordnet. Diese Lehre muss den Ausgangspunkt für eine Neuorientierung der Kämpfe der arbeitenden Bevölkerung Amerikas sein. Nur die Entwicklung einer neuen und unabhängigen politischen Bewegung, die für die Reorganisation des gesellschaftlichen Lebens auf der Grundlage eines sozialistischen Programms eintritt, ermöglicht einen Weg aus dem Chaos, dessen böses Vorzeichen die Ereignisse in New Orleans waren.

Siehe auch:
Bush schließt größere Bundeshilfe für Hurrikan-Opfer aus
(3. September 2005 )
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