Frankreich: Millionen protestieren gegen Erstarbeitsvertrag - Gewerkschaften signalisieren Rückzug

Zwei bis drei Millionen streikende Arbeiter und Studenten haben am Dienstag in ganz Frankreich gegen den Erstarbeitsvertrag (CPE) der gaullistischen Regierung demonstriert, etwa gleich viele wie an dem Aktionstag eine Woche vorher.

Am Freitag vor den Streiks und Protesten hatte Präsident Jacques Chirac den CPE offiziell in Kraft gesetzt, der es Unternehmern ermöglicht, junge Arbeiter während einer zweijährigen Probezeit grundlos zu entlassen.

Chirac sagte, das Gesetz werde aber nicht angewendet, bevor gewisse Modifizierungen vorgenommen worden seien, die seine Wirkung abmildern sollen. Aber die Forderung nach der Zurücknahme der Maßnahme, für die Millionen Studenten, Jugendliche und Arbeiter seit mehr als einem Monat demonstrieren und streiken, wies er rundheraus zurück.

Die Protestwelle sowie die in allen Umfragen überwältigende Ablehnung des CPE und das zerstörte Ansehen Chiracs und Premierminister Dominique de Villepins sind Ausdruck einer vorherrschenden Stimmung, dass die Durchsetzung dieses Gesetzes die Schleusen für die Einführung "amerikanischer Verhältnisse" und die Zerstörung der Rechte und sozialen Bedingungen der Arbeiter öffnen werde.


Trotz oder gerade wegen des anhaltenden massenhaften Widerstands und der offensichtlichen Isolation der Regierung wichen die Gewerkschaftsführer von ihrer bisherigen, öffentlich vertretenden Haltung ab, Gespräche mit Vertretern der Regierung zu verweigern, bevor Chirac und de Villepin den CPE fallengelassen haben. Die Führer von fünf großen Gewerkschaftsverbänden, darunter der CGT, die der KPF nahe steht, stimmten am Mittwoch einem Treffen mit Ministern und parlamentarischen Führern der gaullistischen Partei UMP (Union für eine Volksbewegung) zu.

Das ist ein klares Zeichen, dass die Gewerkschaften mit Unterstützung der offiziellen "linken" Parteien - der Kommunistischen Partei und der Sozialistischen Partei - darauf aus sind, die Protestbewegung auslaufen zu lassen und einen "Kompromiss" im Rahmen des CPE auszuarbeiten.

François Hollande, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, bekannte sich ganz offen zum Ziel, den Massenwiderstand zu beenden. "Ich hoffe, dass wir diesen Konflikt, der schon viel zu lange dauert, überwinden können, dass dies die letzte Demonstration ist", sagte er am Dienstag.

Der Kampf gegen die Politik der Regierung hat eine grundlegende politische Tatsache ans Licht gebracht: Das Haupthindernis für einen erfolgreichen Kampf gegen die Angriffe auf soziale Bedingungen und demokratische Rechte ist nicht die Stärke der Regierung und des politischen Establishments, sondern die Feigheit und der Verrat der alten Arbeiterbürokratien.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, von diesen Organisationen und ihrer nationalistischen und reformistischen Perspektive zu brechen und eine neue Führung mit einem revolutionären sozialistischen und internationalistischen Programm in der Arbeiterklasse aufzubauen.

Die größte Demonstration am Dienstag fand in Paris statt, wo nach Angaben der Organisatoren 700.000 Teilnehmer zusammenkamen. Außerdem demonstrierten u.a. 250.000 in Marseille, 120.000 in Bordeaux, 90.000 in Toulouse und 75.000 in Nantes.

Studenten und Schüler demonstrierten gemeinsam mit Arbeitern aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Es beteiligten sich Transportarbeiter, Fluglotsen, Lehrpersonal und Beschäftigte von France Telekom, Renault und dem Ölkonzern Total. Es gab aber eine deutlich geringere Beeinträchtigung des öffentlichen Nahverkehrs als am Dienstag zuvor, was darauf hinweist, dass die Gewerkschaften die Folgen des gestrigen Streiks möglichst gering halten wollten.

Die Wochenzeitung Le Nouvel Observateur berichtete am Dienstag auf ihrer Web Site: "Dienstagmittag übersandten die Fraktionsvorsitzenden der UMP in der Nationalversammlung und im Senat, Bernard Accoyer und Josselin de Rohan, den Führern der Gewerkschaften und der Jugendorganisationen einen Brief, in dem sie sie von Mittwoch an zu Diskussionen über den Gesetzentwurf zur Verbesserung des CPE einluden. Diese Diskussionsrunde wird noch um die Arbeitsminister Jean-Louis Borloo und Gérard Larcher erweitert werden.

Die Führer der fünf Gewerkschaftsverbände [CGT, CFDT, Force Ouvrière (FO) und der beiden Gewerkschaften für Leitende Angestellte, CFTC und CFE-CGC] erklärten sich am Dienstag, den 4. April, bereit, sich mit der Verhandlungsgruppe der UMP zu treffen, die die Verbesserungen des CPE vorbereiten soll, allerdings unter der Bedingung, dass die Gespräche ‚ohne Tabus, ohne Vorbedingungen stattfinden, und dass auch das Zurückziehen des CPE noch einmal thematisiert werden kann’."

Verschiedene Gewerkschaftsführer und der Vorsitzende der größten Studentengewerkschaft hatten schon erkennen lassen, dass sie zu solchen Gesprächen bereit seien. "Ich hoffe, dass von den Gesprächen, die wir in den nächsten Tage haben sollten, die klare Botschaft ausgeht, dass der CPE nie angewendet wird", erklärte François Chérèque, Chef der CFDT, des traditionell der Sozialistischen Partei nahe stehenden Gewerkschaftsverbandes.

"Wir werden Ja zu einer Einladung sagen, solange garantiert ist, dass in den nächsten Tagen noch kein CPE-Vertrag unterzeichnet wird", sagte Bruno Julliard, der Vorsitzende der Studentengewerkschaft UNEF (Union Nationale des Étudiants de France), dessen Nähe zur Sozialistischen Partei bekannt ist.

Beide Erklärungen implizieren die Anerkennung des CPE-Gesetzes an sich. Julliards "Garantie" unterscheidet sich nicht substantiell von dem so genannten Kompromissangebot aus Chiracs Rede vom vergangenen Freitag.

Die Gewerkschaftsführer und "linken" Politiker sprachen am Dienstag viel über den bevorstehenden "Sieg", aber ihre Taten machen klar, dass der "Sieg", den sie vorbereiten, ein Verrat an den Interessen und Hoffnungen der Arbeiter und Jugend sein wird.

Mit ihrer Zustimmung zu Gesprächen mit der Regierung, im wesentlichen zu deren Bedingungen, versuchen die Gewerkschaften und die Parteien der offiziellen "Linken", die Forderung der Delegierten der Studenten nach einem unbegrenzten Generalstreik und die zunehmende Unterstützung für einen Kampf zum Sturz der gaullistischen Regierung zu unterlaufen.

Sie versuchen, ein "neues Stadium" der Bewegung zu verkünden, das jetzt in der Nationalversammlung und in vertraulichen Verhandlungen von Gewerkschaftsführern und Parteiführern mit Vertretern der Wirtschaft und Ministern der Regierung vor sich gehen werde. Das dringende und überragende gemeinsame Interesse der offiziellen Linken und der herrschenden Elite Frankreichs ist jetzt, der Massenbewegung das Rückgrat zu brechen und in der Arbeiterklasse Demoralisierung und Verwirrung zu verbreiten.

Die Gewerkschaften, die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei haben in Zeiten großer Krisen der französischen Bourgeoisie immer wieder eine solche Rolle gespielt - angefangen mit der Volksfrontregierung von 1936, die den Generalstreik erdrosselte, über den von der CGT und der Kommunistischen Partei vermittelten so genannten "Sieg", der die Streikbewegung vom Mai-Juni 1968 erwürgte und die Regierung Charles de Gaulles rettete, und über die Niederlage der Streik- und Protestbewegung von 1995, die die Gewerkschaften und offiziellen linken Parteien bewusst auf den gewerkschaftlichen Rahmen beschränkten, bis zum Verrat an den Massenprotesten gegen die Bildungs- und Rentenreform von 2003.

In der gegenwärtigen Krise verleihen die linken Parteien, auch die "extrem linke" Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), sogar dem Führer des rechten Flügels der gaullistischen UMP, Innenminister Nicolas Sarkozy ein neues politisches Image. Sarkozy und seine Verbündeten wurden von Chirac mit den Verhandlungen mit den Gewerkschaften betraut.

Der Innenminister bringt sich für die Präsidentschaftswahl 2007 mit einem rechten Programm von Wirtschaftsreformen, einer Verschärfung der inneren Sicherheit und einwandererfeindlicher, rassistischer Hetze in Stellung. Demonstrativ hat Sarkozy die Polizeimaßnahmen gegen die Anti-CPE Bewegung persönlich geleitet und vor den Kameras mit Polizisten in Kampfausrüstung posiert. Mehr als 3.000 Personen wurden im Zusammenhang mit den Demonstrationen festgenommen, allein am Dienstag 383 in Paris und 243 in anderen Städten.

Sarkozy unterstützte den CPE, während er gleichzeitig Premierminister de Villepin kritisierte und ihn insbesondere angriff, weil er sich nicht mit den Gewerkschaften abgestimmt hatte, bevor er den Gesetzentwurf der Nationalversammlung vorlegte.

Es geht in dem gegenwärtigen Kampf mehr als nur um den CPE. Die Vorsitzende des Unternehmerverbandes, Laurence Parisot, sprach für die gesamte französische Bourgeoisie, als sie feststellte, dass unabhängig vom Schicksal des CPE weitere Maßnahmen gegen Arbeiter aller Altersgruppen notwendig seien.

"Ein Verdienst der Krise ist zweifellos, dass die Menschen verstehen, dass es ein echtes Problem mit unserem Arbeitsmarkt gibt", erklärte sie. "Ich bin überzeugt, dass Frankreich zu den notwendigen Reformen fähig ist."

Ähnlich kommentierte Eric Chaney, Ökonom bei der internationalen Investment Bank Morgan Stanley. "Die Debatte über den Arbeitsmarkt ist nun eröffnet", sagte er. "Es ist kaum vorstellbar, dass die Frage im Präsidentschaftswahlkampf im nächsten Jahr keine Rolle spielen wird."

Der Kampf gegen den CPE hat den tiefen und unüberbrückbaren Konflikt zwischen den Bedürfnissen und Interessen der Arbeiterklasse - nach anständigen und sicheren Arbeitsplätzen, Krankenversicherung, Renten, Ausbildung, einer Zukunft für die Jugend ohne Krieg und Unterdrückung - und den Forderungen der Finanzoligarchie deutlich gemacht, deren Reichtum und Macht auf einem System beruht, das versagt hat: dem Kapitalismus. Dieser Konflikt kann nicht im Interesse der Arbeiter und der Jugend gelöst werden, solange diese Regierung und das ganze politische Establishment an der Macht bleiben. Die Forderungen der Stunde sind ein bewusster Kampf für eine Arbeiterregierung und die Reorganisierung der Gesellschaft nach sozialistischen Prinzipien.

Die spezielle Rolle der "extremen Linken" - der LCR und von Lutte Ouvrière (LO) - besteht darin, diese politischen Wahrheiten zu verschleiern, die Massen über den Verrat der Gewerkschaften und der offiziellen linken Parteien im Dunkeln zu lassen und die Massenbewegung politisch zu entwaffnen.

Die LCR war Mitunterzeichner eines Flugblatts, das im Namen von elf linken und radikalen Organisationen auf der Demonstration vom Dienstag verteilt wurde. Zu diesen gehörten auch die Sozialistische und die Kommunistische Partei. Das Flugblatt wiederholte den kriecherischen Appell, den diese Organisationen am Vorabend von Chiracs rede verfasst hatten, der Präsident möge doch den CPE zurückziehen. Dass diese Organisationen eine derartige Erklärung abgaben, nachdem Chirac die Forderung schon zurückgewiesen hatte, zeigt ihren politischen Bankrott.

Lutte Ouvrière hat ihre Kapitulation und ihren politischen Opportunismus während der ganzen CPE-Krise bewiesen. LO hatte auf Chiracs Inkraftsetzung des CPE-Gesetzes mit einer kurzen Erklärung reagiert, die die Illusion schürt, mehr Druck von der Straße sei ausreichend, um die Angriffe der Regierung zurückzuweisen. Es hieß dort. "Die einzige Antwort auf Chirac und Villepin besteht darin, die Streiks und Demonstrationen am 4. April zu einem noch größeren Erfolg als am 28. März zu machen."

Zwar unterstützt LO die kommenden Gespräche der Gewerkschaften mit der Regierung nicht öffentlich und hält sich außerhalb der Gruppe der elf Organisationen, an deren Spitze die Sozialistische und die Kommunistische Partei stehen, aber sie vertritt keine alternative Perspektive und hilft damit praktisch, die Massenbewegung hinter den Arbeiterbürokratien zu kanalisieren.

Auf den Demonstrationen am Dienstag verteilten Sympathisanten und Mitarbeiter der World Socialist Web Site Tausende Flugblätter mit der Erklärung "Eine sozialistische Strategie für die Arbeitermacht: die Antwort auf Frankreichs ‚Erstarbeitsvertrag’". In der Erklärung heißt es: "Die Massenbewegung gegen den CPE hat den Bankrott jeder Perspektive entlarvt, die davon ausgeht, die Regierung durch Druckausüben zum Nachgeben zu zwingen, und hat unbestreitbar die Notwendigkeit gezeigt, die Regierung zu stürzen und durch eine Regierung zu ersetzen, die tatsächlich von der Arbeiterklasse kontrolliert und auf ein Programm verpflichtet ist, das ihre Interessen vertritt."

Siehe auch:
Der Kampf gegen den "Erstarbeitsvertrag" und die Notwendigkeit einer neuen Führung der Arbeiterklasse
(29. März 2006)
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