Neue Studentenproteste in Wiesbaden gegen Studiengebühren

Noch vor Beginn des Wintersemesters machen die hessischen Studenten wieder mobil. In Wiesbaden gingen am Dienstag, den 12. September, über tausend Schüler und Studenten auf die Straße, während der Landtag die Diskussion über die Einführung allgemeiner Studiengebühren in zweiter Lesung fortsetzte.

In Hessen sollen vom nächsten Jahr an Studiengebühren ab dem ersten Semester erhoben werden. Bisher wurden - zusätzlich zu den von allen Studenten erhobenen Verwaltungsgebühren und Beiträgen für das Studentenwerk - nur von Langzeitstudenten Gebühren erhoben. Künftig kommen für jeden Studenten 500 Euro pro Semester hinzu, für Nicht-EU-Mitglieder oder Studenten mit Zweitstudium sogar bis zu 1.500 Euro pro Semester.

Die Proteste und Demonstrationen reißen nicht ab, seitdem sich die Landesregierung unter Roland Koch (CDU) am 5. Mai für die Studiengebühren entschieden hat. Die Studenten berufen sich auf die hessische Landesverfassung, deren Artikel 59 die klare Aussage enthält: "In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich [...]. Der Zugang zu den Mittel-, höheren und Hochschulen ist nur von der Eignung des Schülers abhängig zu machen." Die Regierung will diesen Passus dadurch umgehen, dass sie sozial Schwachen besondere Darlehen anbietet.

An der Demonstration vom Dienstag nahmen außer den Studenten auch Schüler, Lehrer und Arbeitslose teil. Schüler der Helmholtz-Schule, einem Frankfurter Gymnasium, streiken, weil trotz vieler Zusagen immer mehr Lehrkräfte fehlen. An der Fachhochschule Wiesbaden laufen seit Montag sogenannte Protest-Kulturtage.

Die Demonstration zog vom Hauptbahnhof bis zum Rathaus kreuz und quer durch die Wiesbadener Innenstadt und machte Halt vor dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst, vor dem Kultusministerium, vor der Staatskanzlei und vor der Industrie- und Handelskammer. Kein Politiker ließ sich blicken, stattdessen waren die Tore der Ministerien, wie auch der Hauptbahnhof, von Polizei massiv bewacht.

Die Studenten skandierten: "Bildung für alle - und zwar umsonst!", "Sozialabbau im ganzen Land - unsere Antwort: Widerstand" oder: "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut". Die Forderungen beschränkten sich nicht nur auf die Studiengebühren, sondern richteten sich auch gegen Sozialabbau, Hartz IV, Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, Armut und Krieg.


Auf Transparenten und Plakaten war zu lesen: "Keine Privatisierung von Schulen"; "Für das Recht auf Ausbildung", "Schluss mit ‚Reformen’ gegen die große Mehrheit der Bevölkerung - Demokratisierung jetzt". Eine koreanische Studentengruppe aus Marburg hatte unter Hinweis auf die Semestergebühren für Ausländer auf ihr Transparent geschrieben: "500 x 3 = legalisierter Fremdenhass".

Reporter der World Socialist Web Site verteilten auf der Demonstration Artikel über den Lehrerstreik in Detroit, der auf großes Interesse stieß, und diskutierten mit den Demonstrationsteilnehmern.

Roxanne, Schülerin der bestreikten Frankfurter Helmholtzschule, erklärte, sie finde die Einführung von Studiengebühren "total sozial ungerecht", und dies werde mit Sicherheit dazu führen, dass viel weniger Jugendliche studieren könnten. Zu dem Darlehen, das sozial schwachen Studenten angeboten wird, erklärte sie: "Das muss ja auch verzinst werden. Da verschuldet man sich, bevor man überhaupt einen Beruf hat, und wenn man noch gar nicht weiß, ob man später Arbeit haben wird oder nicht. Ich denke, das ist einfach nur Quatsch. Wer studiert, muss ja auch lernen und kann nicht so viel arbeiten, um das ganze Geld für die Studiengebühren zu verdienen."

Florian, BWL-Student aus Frankfurt, erklärte: "Ich bin generell gegen Studiengebühren, weil sie auch volkswirtschaftlich ganz schlecht sind: Man sieht doch jetzt schon, dass wir viel zu wenig Hochschulabsolventen haben."

Ein weiterer Teilnehmer, Jonathan aus Frankfurt, suchte Kommilitonen, die mit ihm gemeinsam das Kapital von Marx studieren, weil er, wie er sagte, "der herrschenden Lohnarbeit eine im Weltmaßstab organisierte Gesellschaft" entgegensetzen möchte. Ein weiterer Student erklärte: "Bildung ist ein Grundrecht. Mehr muss man eigentlich dazu nicht sagen."

Ein Sprecher wies am Mikrophon darauf hin, dass auch in Berlin und Hamburg erneut Schüler- und Studentenproteste stattfänden, und erinnerte an die Proteste der Jugendlichen in Frankreich vor wenigen Monaten. "Wir sind nicht nur eine Lobby für die Interessen der Studenten. Wir sind gegen Sozialabbau und die neoliberale Umstrukturierung der Gesellschaft", sagte Björn Worthmann, der Sprecher der Protest-Kulturtage an der Fachhochschule Wiesbaden.


Dennoch mangelte es der Demonstration, so lautstark und entschlossen sie auch sein mochte, an einer klaren Perspektive. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf Roland Koch und die Hessen-CDU als Hauptverantwortliche.

Dies kam zum Beispiel in folgendem, auf der Demonstration skandierten Slogan zum Ausdruck: "Was will ich, was willst du? Das Verbot der CDU". Abgesehen von der fragwürdigen Forderung nach "Verbot" einer missliebigen Partei, erlaubt eine solche Konzentration auf die CDU den weiter "links" stehenden Parteien, vor allem der SPD, in eine "oppositionelle" Rolle zu schlüpfen.

Im Hessischen Landtag haben denn auch SPD und Grüne zuletzt gegen die Einführung von Studiengebühren gestimmt, wohl wissend, dass sie ohnehin in der Minderheit sind und dass sie, wären sie an Stelle der Koch-Regierung, ebenfalls solche Gebühren einführen würden.

Um das zu wissen, genügt schon ein Blick auf die Bilanz der vormaligen Schröder-Regierung, auf die Rechtswende der gesamten offiziellen "Linken" und insbesondere auf die Berliner Landesregierung aus SPD und Linkspartei.PDS. Letztere setzt zurzeit ebenfalls drastische Kürzungen im Bildungsbereich durch. Die reformistischen Parteien reagieren auf den Druck der global agierenden Konzerne und Banken nicht anders als CDU und FDP, nämlich mit immer schärferen Angriffen auf die große Bevölkerungsmehrheit.

Die Partei für Soziale Gleichheit, die in ihrem Programm "kostenlose Bildung und Bildungschancen bis zum Universitätsabschluss für alle" fordert, geht davon aus, dass dies den Rahmen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft letztlich sprengt, und kämpft deshalb für eine sozialistische Alternative zu den etablierten Parteien, nämlich den Aufbau der Vierten Internationale.

In ihrem Programm zur Berliner Abgeordnetenhauswahl schreibt sie: "Arbeit, Renten, Krankenversorgung und Bildung sind soziale Grundrechte. Sie müssen Vorrang vor den Profitinteressen der Unternehmen haben.... Eine staatlich garantierte Rente, die jedem ein sorgenfreies Auskommen im Alter ermöglicht, eine umfassende, öffentlich finanzierte gesundheitliche Versorgung und Vorsorge sowie kostenlose Bildung und Bildungschancen bis zum Universitätsabschluss müssen für alle garantiert sein."

Siehe auch:
Berliner Schüler rufen zum Protest gegen Bildungsabbau auf
(13. September 2006)
Hessen: Zehntausend demonstrieren gegen Studiengebühren
( 1. Juli 2006)
Die sozialen Bewegungen in Frankreich: Politische Lehren aus zehn Jahren
( 27.-30. Mai 2006)
Loading