Politische Pattsituation erzwingt Neuwahlen in Israel

In Israel werden am 10. Februar um zwölf Monate vorgezogene Neuwahlen stattfinden.

Bis dahin wird der wegen sechs anhängiger Korruptionsuntersuchungen diskreditierte Ministerpräsident Ehud Olmert trotz seines Rücktritts als Parteivorsitzender die Kadima-Partei weiter führen und auch bis auf weiteres Premierminister bleiben. Er sagte, das Land habe so mannigfaltige Sicherheitsprobleme, dass er sein Amt nicht sofort niederlegen könne.

Damit wird Israel trotz der globalen Finanzkrise und ihren Auswirkungen auf die Region und das Land von einer handlungsunfähigen Regierung geführt. Zum sechsten Mal in Folge finden Wahlen vor dem regulären Termin statt. Keine Regierung hat die reguläre Amtsperiode von vier Jahren durchgehalten.

Die Entscheidung für Neuwahlen erfolgte, nachdem es Tzipi Livni nicht gelungen war, eine Mehrheit für eine Regierung unter ihrer Führung zu finden. Livni war nach Olmerts Rücktritt im September in einer knappen Abstimmung zur Führerin der Kadima-Partei gewählt worden. Kadima verfügt in der 120 Abgeordnete zählenden Knesset über 29 Sitze und regiert mit einer Koalition aus der Arbeitspartei (19 Sitze) und der in zwei Fraktionen gespaltenen Pensionärs-Partei (8 Sitze). Die ultraorthodoxe Partei Shas (12 Sitze) hatte sich geweigert, in der Koalition zu verbleiben.

Die politische Landschaft Israels ist derart zersplittert, dass die Regierung fast immer auf Koalitionen beruht. In den vergangenen zwanzig Jahren waren alle Koalitionen vom Wohlwollen kleiner Parteien abhängig. Diesmal war Shas Königsmacher.

Shas vertritt als größte religiöse Partei verarmte Juden aus Nordafrika und dem Nahem Osten. Sie stand mit Benjamin Netanjahu, dem Vorsitzenden der konkurrierenden Rechtspartei Likud, in Verhandlungen. Dieser hatte auf Grund von Meinungsumfragen, die einen Zuwachs des Likud auf Kosten der Arbeitspartei erwarten ließen, auf Neuwahlen gedrängt. Offensichtlich kam Shas zur Ansicht, dass eine künftige Likud-Regierung ihr bessere Aussichten böte, und versuchte darauf, von Livni unter Androhung von vorgezogenen Neuwahlen Zugeständnisse zu erpressen.

Livni war in den Medien wochenlang als Kandidatin präsentiert worden, die nicht von Korruptionsaffären berührt und in der Lage sei, das Vertrauen in die israelische Politik wieder herzustellen. Sie galt als letzte Chance, ein Verhandlungsabkommen mit den Palästinensern unter Dach und Fach zu bringen. Doch das entspricht nicht der Wahrheit.

Als Außenministerin führte Livni einen Teil der Verhandlungen mit den Palästinensern, die Gespräche mit Ahmad Qurei. Olmert hatte sie bewusst aus den wichtigeren Gesprächen mit Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas herausgehalten. Die Gespräche sollten bis Jahresende zu einem unabhängigen Staat Palästina führen, wurden aber durch die israelische Unnachgiebigkeit blockiert.

Die bisherige Regierung, der Livni angehörte, hat die Besiedlung des Westjordanlandes ausgeweitet, im vergangenen Jahr die Zahl der Straßensperren um 10 Prozent erhöht und im Jahr 2006 einen Krieg im Gazastreifen geführt hat, bei dem Hunderte Palästinenser getötet wurden, und belagert Gaza seit 2007, wobei die grundlegendsten Versorgungseinrichtungen lahm gelegt wurden.

Sie ließ keinen Zweifel an ihrer Absicht aufkommen, Olmerts Politik fortzuführen und mit den Palästinensern ein Abkommen zu schließen, das die Besiedlung des von Israel vor 41 Jahren illegal besetzten Westjordanlandes festschreibt. Wie alle israelischen Premierminister tritt sie offiziell als Anwalt von Frieden und Freundschaft mit den arabischen Nachbarn auf und verfolgt in der Praxis gleichzeitig eine militaristische und expansionistische Politik

Der Versuch einer Koalitionsbildung scheiterte an ihrer Weigerung, zwei der Bedingungen von Shas zu erfüllen. Shas hatte auf der Wiedereinführung von Kinderzuschüssen für große Familien bestanden, die den Kern ihrer Anhängerschaft bilden und von zunehmender Armut bedroht sind. Während Livni dieser Forderung weit entgegen kam, weigerte sie sich, auf die zweite Forderung einzugehen, die beinhaltete, dass Jerusalem ganz unter israelischer Hoheit bleiben müsse.

Die Unterstützung dieser Forderung hätte bedeutet, sofort und für immer sämtliche Möglichkeiten für eine Übereinkunft mit den Palästinensern auszuschließen, an der angeblich auch die Bush-Regierung interessiert ist, an deren Tropf Israel hängt. Dass ein Teil Ostjerusalems die Hauptstadt ihres künftigen Staates sein muss, gehört zu den zentralen palästinensischen Forderungen. Aus Sicht Washingtons erleichtert die öffentlich geäußerte Unterstützung für einen palästinensischen Staat die Unterstützung Ägyptens, Jordaniens und Saudi-Arabiens für die Fortsetzung der Besetzung des Irak und eventuelle zukünftige Angriffe auf den Iran oder Syrien; was letztendlich die Kontrolle über die regionalen Ölvorräte sicherer machen würde.

Es ist zwar äußerst unwahrscheinlich, dass Livni oder ihre zutiefst zerstrittene Partei auch nur eine Handbreit von Ostjerusalem aufgeben werden; würden sie dies jedoch öffentlich zugeben, gingen sie einen Schritt zu weit. Wenn Livni im offiziellen Israel dem Lager der Tauben zugeschlagen wird, so nur aus dem Grund, weil sie nicht wie andere rechte Politiker für die pauschale Ausweisung der palästinensischen Bevölkerung aus Israel und den besetzten Gebieten eintritt

Als Shas aus den Gesprächen für eine neue Koalition ausscherte, soll Livni zornig auf die Forderungen reagiert haben, die ihr von sämtlichen kleineren Parteien präsentiert wurden. Wie sie sagte, stehe sie ohne Regierung da, weil sie nicht nachgegeben habe. Der Zeitung Ha’aretz sagte sie, dass sie nicht willens sei "sich erpressen zu lassen". Die Alternative zu vorgezogenen Wahlen aber seien für sie"die Erpressbarkeit" gewesen. In einer öffentlichen Erklärung stellte sie fest: "Als mir klar wurde, dass alle Parteien die Situation für ökonomisch und diplomatisch nicht legitime Forderungen auszunutzen versuchten, habe ich entschieden, (die Gespräche) abzubrechen und die Wähler entscheiden zu lassen."

Sie sagte: "Es gibt einen Preis, den andere bereit sein mögen zu zahlen, aber ich will ihn nicht zu Ungunsten des Staates und seiner Bürger bezahlen, nur um Premierministerin einer paralysierten Regierung zu sein."

Dazu muss angemerkt werden, dass sie - wie alle bisherigen Regierungsparteien Israels vir ihr, die den Frieden mit den Palästinensern propagierten - auch nur den Gedanken weit von sich weist, arabische Knessetabgeordnete in ihre Koalition aufzunehmen. Arabische Abgeordnete haben üblicherweise mindestens 10 Prozent der Parlamentssitze inne und könnten daher ein Friedensabkommen unterstützen.

Faktisch steht Israel politisch gelähmt da. Die Situation wird sich aber durch Neuwahlen nicht verbessern. Israel hat jetzt drei Monate hinter sich, in denen die Wählerschaft der offiziellen Politik zutiefst entfremdet wurde. Dies wurde auch vom Präsidenten Israels, Schimon Peres eingestanden, als er bei der Eröffnung der Wintersitzungsperiode des Parlaments sagte: "Diese Sitzung der Knesset wird vor dem Hintergrund internationaler und externer Verwerfungen eröffnet. Alle Bürger sind darüber in höchster Besorgnis."

"Die Schwierigkeiten, die dieser Regierung schließlich ein Ende setzten, werfen Fragen auf, die alle Menschen in Israel belasten. Es gibt einen Vertrauensschwund in die Amtsführung der Regierungsinstitutionen und darüber hinaus wurde das Vertrauen in ihr Führungspersonal beschädigt. Diese unerfreuliche Wahrheit darf nicht unter den Teppich gekehrt oder übersehen werden, " fügte er hinzu.

Trotz angeblicher Meinungsverschiedenheiten und heftiger Gegensätze sind sich die drei wichtigsten Parteien - Kadima, Likud und die Arbeitspartei - über die grundsätzlichen Fragen einig: die Notwendigkeit einen Staat zu erhalten, der auf religiöser Ausgrenzung basiert und den Interessen einer kleinen Finanzelite dient, der Expansionismus, Militarismus und Unterdrückung der Palästinenser sowie der eigenen Arbeiterklasse zum Ziel hat, und der nur dank seiner Washingtoner Hintermänner überleben kann.

Netanjahu hat erklärt, Likud garantiere im Falle eines Wahlsieges, dass die 1967 besetzten syrischen Golanhöhen bei Israel bleiben. Damit hat er die Aussicht auf ein Friedensabkommen mit Syrien versperrt, über das Kadima verhandelt. Er beharrt auch darauf, große Teile des Westjordanlandes und Jerusalem zu behalten und schloss damit jede Möglichkeit zur Schaffung eines auch nur winzigen palästinensischen Staates und einer Verhandlungslösung mit den Palästinensern aus. "Wir werden nicht über Jerusalem, die 3000 Jahre alte Hauptstadt des jüdischen Volkes, verhandeln. Das habe ich in der Vergangenheit nicht gemacht und werde es auch in Zukunft nicht tun, " erklärte Netanjahu. Er ist Gegner eines palästinensischen Staates, der schnell unter die Fuchtel islamistischer Kämpfer geriete.

Weil die Mehrheit der Israelis für ein Abkommen mit den Palästinensern ist und viele davor warnen, dass die Zeit für eine Zweistaatenlösung bald abgelaufen sein könnte, hat die Weigerung Livnis, den Forderungen von Shas nachzukommen, ihr auf Kosten Netanjahus einigen Beifall eingebracht. Nach Meinungsumfragen könnte Kadima momentan 29 der 120 Parlamentssitze gewinnen, Likud käme mit 26 Sitzen auf Platz 2, die Arbeitspartei lediglich auf 11 Sitze.

Livni versucht auch, mit der der Zulassung der staatlichen Eheschließung in Israel und ihrer Opposition gegen die Ultra-Orthodoxen zu punkten. Diese, wie sie sagt, "prinzipielle Frage" soll in die Wahlplattform Kadimas aufgenommen werden. Ein entsprechendes Gesetz würde etwa 300.000 Israelis "ohne religiöse Bindung", größtenteils Israelis aus Russland, die nicht durch das Rabbinat getraut werden können, eine Eheschließung in Israel ermöglichen. Außerdem strebt sie an, die Gräben zwischen sich und Shaul Mofaz, ihrem innerparteilichen Konkurrenten zuzuschütten, indem sie ihm Platz zwei in der Partei und in künftigen Regierungsbündnissen anbietet.

Selbst wenn Livni bei den Wahlen Erfolg hätte, sie könnte für ihren "Friedensprozess" keine stabile Koalition auf die Beine stellen. Sie wäre gezwungen, sich weiterhin auf rechte und ultraorthodoxe Gruppen zu stützen. Diese lehnen die Errichtung selbst eines aufs äußerste beschnittenen palästinensischen Staates entschieden ab. Viele Kommentatoren rechnen als Ergebnis der Wahl mit einer Regierung der nationalen Einheit aus Kadima, Likud und Arbeitspartei.

Seit Olmert wieder an den Schalthebeln sitzt, hat er das politische Patt genutzt, um sich um die Außenpolitik zu kümmern: Er hat sowohl Gespräche mit den Palästinensern als auch inoffizielle Gespräche mit Syrien und der Türkei auf Eis gelegt.

Er hat drohende Universitätsschließungen verhindert, indem er die Forderung nach besserer Finanzierung unterstützte. Er warnte jedoch vor Kürzungen der Regierungsausgaben und sagte, dass die globale Finanzkrise Israels Wirtschaft unvermeidlich beeinträchtigen werde. Die israelischen Märkte müssten sich darauf einstellen, "auch wenn wir nur eine Übergangsregierung haben und eine Knesset-Wahl vorbereiten". Er gelobte: "Wir werden keinen Leichtsinn dulden und weiterhin strengste Finanzdisziplin einhalten. Von jedem Mitglied dieses Hauses erwarte ich zur Durchsetzung dieses gemeinsamen Zieles ein einheitliches Miteinander."

Die Kürzungen drohen, während die soziale Ungleichheit ständig zunimmt. Avda ist ein Zentrum für Sozialpolitik in Tel Aviv. Es veröffentlichte kürzlich einen Bericht unter dem Titel Die Kosten der Besatzung. Darin wird festgestellt, dass derzeit 20 Prozent der israelischen Familien als arm gelten, während es in den 1970er Jahren nur zehn Prozent waren. Zum Teil tragen hierzu die Ausgaben für die Besatzung des Gazastreifens und des Westjordanlandes und die Einschnitte bei den Sozialausgaben in Folge des steigenden Verteidigungsetats bei: Ausgaben der Sozialversicherungen, insbesondere Kinderzuschläge, Arbeitslosengeldzahlungen und Beihilfen zu Lohnzahlungen wurden von 2001 bis 2005 merklich gekürzt.

Dieser Bericht widersprach der Ansicht, dass Israels Wirtschaft trotz des andauernden Konfliktes mit den Palästinensern Erfolge zu verzeichnen habe. Das Wirtschaftswachstum betrug zwar in den vergangenen drei Jahren fünf Prozent oder mehr. Obwohl ein Großteil des Verteidigungshaushalts geheim ist, kann man sagen, dass in den vergangenen 20 Jahren über acht Milliarden Dollar an Kosten für die Besatzung zusammengekommen sind, mehr als das diesjährige Budget für Bildung.

In dem Adva-Bericht wird festgestellt: "In Wahrheit hängt der Konflikt mit den Palästinensern wie ein Mühlstein am Halse Israels: er untergräbt das Wirtschaftswachstum, belastet seinen Haushalt, schränkt seine soziale Entwicklung ein, besudelt seine Visionen, ist eine schwere Belastung seines Selbstbewusstseins, beschädigt seine internationale Stellung, bringt seine Armee zur Erschöpfung, spaltet es politisch und bedroht seinen Fortbestand als jüdischer Nationalstaat."

Mit seinen finanziellen und wirtschaftlichen Problemen hat sich Israel zu einem sozialen Pulverfass entwickelt. Es gibt wachsende Spannungen zwischen jüdischen und arabischen Einwohnern, die von religiösen Parteien und Siedlerparteien angeheizt werden. Als ein Araber angegriffen wurde, weil er mit seinem Auto an Jom Kippur (dem höchsten jüdischen Feiertag A.d.Ü.) durch ein jüdisches Viertel gefahren war, kam es in Akra zu einem tagelangen Aufruhr. Hunderte Araber gingen auf die Straße, warfen die Scheiben jüdischer Geschäfte ein, zerstörten Autos und bewarfen jüdische Häuser mit Steinen. Tags darauf setzten tausende Juden arabische Wohnhäuser, Läden und Bürohäuser in Brand und zerstörten sie

Der arabischen Rechtshilfeorganisation Adalah zufolge, nehmen die Spannungen seit 2006 ständig zu, als jüdische Siedler in der Stadt eine Religionsschule gründeten,.

Ultranationalistische Siedler stießen mit israelischen Soldaten und Polizisten zusammen, als ein von der Regierung nicht genehmigter Außenposten der Siedler abgebaut worden war. Angriffe von Siedlern auf Palästinenser im Westjordanland und in Jerusalem nehmen ebenfalls zu, Siedler aus Kirjat Arba zogen durch ein palästinensisches Dorf und verwüsteten es. Letzten Monat legten militante Rechte eine Bombe vor dem Haus des Peace-Now-Aktivisten Professor Ze’ev Sternhell.

Siehe auch:
Tiefes Unbehagen zu Israels 60. Geburtstag
(10. Mai 2008)
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