Frankreich: Sozialistische Partei tiefer gespalten den je

Nach dem Mitgliedervotum über die neue Parteivorsitzende vom vergangenen Freitag ist die Sozialistische Partei (PS) Frankreichs tiefer gespalten denn je. Das Ergebnis fiel denkbar knapp aus und wird von der Verliererin nicht akzeptiert.

Nach der Auszählung der Stimmen lag Martine Aubry, die Bürgermeisterin von Lille, nur 42 Stimmen vor ihrer Konkurrentin Ségoléne Royal, der erfolglosen Präsidentschaftskandidatin von 2007 und Regionalpräsidentin von Poitou-Charentes. Rund 137.000 der 233.000 Parteimitglieder hatten sich an der Abstimmung beteiligt. Die Wahl der Parteivorsitzenden gilt auch als Vorentscheidung über die Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2012.

Royal hat sofort Widerspruch gegen das äußerst knappe Ergebnis eingelegt und sich über die "völlig unerträglichen Methoden des Parteiapparats" beschwert, der die Abstimmung organisiert hatte. Über ihren Anwalt forderte sie eine Wiederholung der Wahl, da es "zahlreiche Proteste" über Unregelmäßigkeiten gebe.

Schon in der Wahlnacht, lange vor Bekanntgabe des Ergebnisses, hatten beide Kandidatinnen den Sieg für sich beansprucht. Als das Ergebnis dann vorlag, nahmen die gegenseitigen Anschuldigungen zu. Manuel Valls, ein Vertrauter Royals, warf dem Aubry-Lager vor, es versuche, "den Sieg zu stehlen". Die Lage wurde vielfach mit dem umstrittenen Ergebnis der amerikanischen Präsidentenwahl im Jahr 2000 verglichen.

In der ersten Wahlrunde vom Donnerstag hatte Royal mit 43 Prozent der abgegebenen Stimmen noch an der Spitze gelegen. Auf Aubry entfielen 35 und auf Benoît Hamon, den dritten Kandidaten, 23 Prozent. Hamon hatte darauf zur Stimmabgabe für Aubry aufgerufen, so dass diese in der Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten am Freitag als Favoritin galt.

Eine endgültige Entscheidung könnte am heutigen Dienstag fallen, wenn der vor einer Woche neu gewählte Parteirat, das höchste Führungsgremium der Partei, zusammentrifft.

Der Wahl der Vorsitzenden war eine lange und teilweise erbittert geführte Auseinandersetzung vorausgegangen. Seit dem Sommer lagen den Mitgliedern sechs Resolutionsentwürfe verschiedener Parteigruppierungen vor, über die in regionalen Versammlungen debattiert und am 6. November in einer Mitgliederbefragung abgestimmt wurde. Vom 14. bis 16. November versuchte dann ein Parteikongress in Reims, die erfolgreichsten Resolutionen zu verschmelzen und sich auf einen gemeinsamen Führungskandidaten zu einigen. Ohne Erfolg.

Nun werden die Flügelkämpfe weitergehen. Auch eine Spaltung der Partei ist nicht ausgeschlossen. "Wir befinden uns am Rande der Explosion. Die Provokationen vervielfachen sich. Die Franzosen könnten Morgen aufwachen und ein bedauernswertes Bild der PS sehen", zitiert der Nouvel Observateur einen Parteiverantwortlichen.

Auf nationaler Ebene wird die zerstrittene Partei, die seit dem Ende der Präsidentschaft François Mitterrands 1995 jede Präsidentenwahl verlor, auf absehbare Zeit kaum mehr eine Rolle spielen.

Untersucht man die programmatischen Differenzen zwischen Royal und Aubry, so scheint die Schärfe der Auseinandersetzung kaum verständlich. Beide entstammen derselben Altersgruppe (55 und 58), beide haben die Elitehochschule ENA absolviert, beide haben sowohl unter Mitterrand wie später unter Lionel Jospin Ministerämter bekleidet, beide gelten als Mitterrandisten und in diesem Lager wiederum als Anhänger der Tendenz Delors. Jacques Delors, der Vater Aubrys, stand von 1985 bis 1995 an der Spitze der Europäischen Kommission und gilt wie kein anderer Franzose als Verkörperung der 1993 gegründeten Europäischen Union.

Royal und Aubry sind also beide erfahrene sozialdemokratische Politikerinnen, verteidigen die Europäische Unon und haben sich als Stützen des bürgerlichen Staats bewährt. Aubry wird zwar oft als "Linke" bezeichnet, weil sie als Arbeitsministerin unter Lionel Jospin für die gesetzliche Verankerung der 35-Stunden-Woche verantwortlich zeichnete, die inzwischen von Präsident Sarkozy weitgehend abgeschafft worden ist. Aber unter Arbeitern stieß diese Maßnahme auf wenig Sympathie, da sie mit empfindlichen Lohnseinbußen und einer erhöhten Arbeitsbelastung verbunden war.

Die Auseinandersetzung zwischen Royal und Aubry dreht sich um die Form und die Mittel, derer sich die Partei in Zukunft bedienen soll.

Royal bevorzugt plebiszitärer Methoden. Ihr Vorbild ist die Demokratische Partei Barack Obamas. Sie setzt ganz auf die eigene Person, nutzt dabei die Medien und versucht, den Einfluss der Partei und ihres Apparats zurückzudrängen. Sie bedient sich des Internets, um jüngere Wähler zu erreichen, und würde am liebsten - wie die italienischen Demokraten Walter Veltronis - auch Nichtparteimitglieder über wichtige Parteiangelegenheiten abstimmen lassen. So hat sie vorgeschlagen, den Mitgliedsbeitrag zu senken, was ihr den Vorwurf einbrachte, sie wolle sich von "20-Euro-Sozialisen" wählen lassen, die der Partei anschließend den Rücken kehren.

Der bekannte Journalist Alain Duhamel charakterisierte sie in Libération mit den Worten: "Sie glaubt an Leadership, an ihr Charisma, an ihren neoreligiösen Einfluss auf einen Teil der Franzosen. Sie verkörpert die Meinungsdemokratie, gestützt auf Werte und moralische Grundsätze, auf Gefühle und Emotionen..."

Aubry dagegen ist die Frau des Apparats, der mit großer Mehrheit hinter ihr steht. Sie steht für die traditionelle, sozialdemokratische Bürokratie. Sie "verkörpert die repräsentative Demokratie, gestützt auf Ideen und Übereinkunft, auf Verantwortung und Kontrolle, auf Delegierung und Überwachung", schreibt Duhamel.

Royal tritt für eine Öffnung nach rechts, für eine Zusammenarbeit mit der rechtsliberalen Demokratischen Bewegung (MoDem) François Bayrous ein. Aubry lehnt dies offiziell ab und befürwortet eine Neuauflage des Bündnisses mit Kommunistischer Parte und Grünen. Doch in Lille hat sie als Bürgermeisterin längst eine Koalition mit dem MoDem gebildet.

Letztlich sind die heftigen Flügelkämpfe, die die Sozialistische Partei zerreißen und lähmen, die Folge des politischen Bankrotts dieser Organisation, die drei Jahrzehnte lang eine Schlüsselrolle dabei gespielt hat, den französischen Kapitalismus gegen die Arbeiterklasse zu verteidigen.

Entstanden als Reaktion auf die revolutionären Erschütterungen vom Mai/Juni 1968 gelang es der PS in den 1970er Jahren, im Bündnis mit der Kommunistischen Partei Illusionen in einen Sozialismus durch schrittweise Reformen zu wecken. Diese Illusionen zerstoben schnell, nachdem Mitterrand 1981 als erster Sozialist zum Präsidenten der Fünften Republik gewählt worden war. Die aufeinander folgenden Linksregierungen brachten keinen Sozialismus, sondern immer schärfere Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung.

Die Folge war der sukzessive Niedergang der Sozialistischen Partei und ihres stalinistischen Bündnispartners. Er gipfelte in der Präsidentenwahl 2002, als der sozialistische Kandidat Lionel Jospin in der ersten Runde dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen unterlag. Seither kämpft die PS ums Überleben.

Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hat den Illusionen über eine friedliche Reform des Kapitalismus einen weiteren Schlag versetzt. Daraus erklärt sich das Paradox, dass in der Bevölkerung eine deutliche Radikalisierung und Linkswendung stattfindet, während sich der Niedergang der offiziellen "Linken" beschleunigt. Daran können weder ein Populismus à la Royal noch eine Stärkung des Apparats durch Aubry etwas ändern.

Kurzfristig stärkt die Schwäche der PS die Stellung des rechten Präsidenten Sarkozy. Doch langfristig betrachtet die herrschende Elite den Niedergang der Sozialistischen Partei mit Sorge. Angesichts einer deutlichen Radikalisierung der Arbeiterklasse und der Jugend kommt ihr eine wichtige Stütze abhanden.

Siehe auch:
Frankreich: Alain Krivine äußert sich zur Rolle der "Neuen Antikapitalistischen Partei"
(20. November 2008)
Frankreich: Sozialistische Partei wählt neue Führung
( 12. November 2008)
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