Dreißig Jahre seit dem Fluglotsenstreik in den Vereinigten Staaten

Teil 4

Die Gewerkschaftsfunktionäre der AFL-CIO behaupteten, jede Ausdehnung des Streiks auf die Arbeiter der Luftfahrtindustrie und noch darüber hinaus sei „Selbstmord“. Sie argumentierten, für den Coup gegen PATCO sei Reagan verantwortlich, und deshalb sei es notwendig, an die demokratischen Kongressabgeordneten zu appellieren und die Republikaner bei den Wahlen im Jahr 1982 zu besiegen. Der Vorsitzende der AFL-CIO, Lane Kirkland ging soweit, den Wahltag als „Solidaritätstag II“ zu bezeichnen.

Die Workers League nahm eine diametral entgegengesetzte Position ein. Ihr Aufruf, Reagans Forderungen zurückzuweisen und den Streik auf die gesamte Luftfahrtindustrie und schließlich zum Generalstreik auszuweiten, entsprach weit mehr dem Denken der Arbeiter, als die defätistische Haltung der Bürokraten. Die Workers League bestand indessen darauf, dass ein Generalstreik einen politischen Kampf gegen die Bürokratie und das Zwei-Parteien-System erfordere. Eine neue, in der Arbeiterklasse verankerte und auf sozialistischen Prinzipien fußende Arbeiterpartei müsse aufgebaut werden. Um dies zu erreichen, setzte sich die Workers League unter den Arbeitern für einen außerordentlichen Arbeiterkongress ein.

Das Bulletin hatte die Bedeutung des Streiks sofort erkannt. Am 4. August erschien eine Erklärung der Redaktion unter der Überschrift: „AFL-CIO muss den Fluglotsenstreik unterstützen: Die Klassenlinien sind gezogen.“ Der Artikel forderte die Gewerkschaftsbewegung auf, „die Stärke der gesamten Arbeiterklasse zu mobilisieren, um die Fluglotsen gegen die gewerkschaftsfeindliche Reagan-Regierung zu unterstützen.“

Streikposten von PATCO Streikposten von PATCO

Weiter heißt es im Artikel: “Die Reagan-Regierung ist seit sechs Monaten dabei, eine ökonomische und soziale Konterrevolution zu vollziehen, um die Sozialgesetze und Sozialprogramme, welche die Arbeiterklasse in den vergangenen fünfzig Jahren erkämpft hat, wieder rückgängig zu machen. Die Massenarbeitslosigkeit wird hochgeschraubt, Einschränkungen kapitalistischer Ausbeutung, wie die Sicherheitsvorschriften, werden aufgehoben, und der in Jahrzehnten von der Gewerkschaftsbewegung erkämpfte Lebensstandard wird vernichtet. Dies alles wird durch die höchste Steuersenkung der Geschichte noch in den Schatten gestellt; sie kommt ausschließlich den Großkonzernen und den Reichen zu Gute.“

Der Artikel forderte die anderen Gewerkschaften der Luftfahrtindustrie, zum Beispiel die Mechanikergewerkschaft International Association of Machinists (IAM), dringend zum Handeln auf und schlug vor, den Kampf zu einem Generalstreik gegen die Politik der Reagan-Regierung auszuweiten.

Reagan “spricht für die gesamte herrschende Klasse“, heißt es in dem Artikel. Das war eine Tatsache, die von vielen Nachrichtenmedien verstanden wurde. Egal ob liberal oder konservativ, alle Medien verurteilten die Fluglotsen. Am 4. August schrieb die Washington Post in ihrem Leitartikel: „Sollte jetzt eine Gewerkschaft, deren Mitglieder direkt im Dienste der Regierung stehen, mit einem illegalen Streik eine spektakuläre Lohnerhöhung erreichen, so wäre dies das Ende des Reaganschen Wirtschaftsprogramms. Investoren, Banker und Kreditnehmer würden allesamt sofort verstehen, dass die Reagan-Regierung, trotz aller großen Worte, die Inflation nicht ernsthaft verringern kann. Deshalb muss Reagan jetzt absolut standhaft bleiben.“

In den Anfangstagen des Streiks glaubten die Fluglotsen, ihr Streik werde ausreichen, um sich durchzusetzen. Viele glaubten, sie könnten die Reagan-Regierung zum Verhandeln zwingen, weil ihre Arbeit so unersetzlich sei. Die ungeheuren Kosten, die ein Ausbildungsprogramm für neue Fluglotsen verschlingen würde, wären doch weit größer, als eine Lohnerhöhung für PATCO, dachten sie.

“Die Leute mit Geld, die Reichen, sind immer noch am Boden”, konstatierte Norman Hacker, ein Fluglotse mit dreizehnjähriger Erfahrung am La Guardia-Flughafen in New York City, in der ersten Streikwoche zum Bulletin. „Sie streichen Geschäftsflüge und schrauben alle anderen Flüge zurück. 16.000 Arbeiter stoppen 27 Prozent der Ökonomie.“

“Ich würde mir Sorgen machen. Heute würde ich kein Flugzeug besteigen“, sagte Mitch Cook, ein streikender Fluglotse auf LaGuardia, dem Bulletin. „Zurzeit befinden sich gerade mal drei Abteilungsleiter und Berater im Tower. Normalerweise sind dort zehn Personen. Es ist der reinste Hohn zu glauben, sie könnten hier militärische Fluglotsen einsetzen. Die Gewerkschaft kann die Fähigkeiten dieser Männer einschätzen. Unsere Gewerkschaft wird standhaft und einig bleiben.“

Tatsächlich gefährdete die Entlassung der PATCO-Beschäftigten die Passagiere ernstlich.

Die Bundesflugsicherung FAA kreidete ein tödliches Flugzeugunglück in der Nähe von San Jose (Kalifornien) Pilotenfehlern an. Zwei leichte Maschinen, die sich dem Flughafen der Stadt näherten, kollidierten etwa zwei Meilen über der Landebahn, wobei eine Person getötet, zwei andere verletzt wurden. Dieser Zusammenstoß vom 17. August war der erste in der Geschichte des Flughafens von San Jose und auch der erste, bei dem die FAA den Fluglotsen – einen Streikbrecher – innerhalb weniger Stunden von jeder Verantwortung freisprach. Es war auch der erste tödliche Unfall in der jüngsten Geschichte, bei dem PATCO von der Untersuchung ausgeschlossen wurde.

Es gab infolge der Unerfahrenheit oder Inkompetenz der eingesetzten Fluglotsen zahlreiche weitere Beinahe-Unfälle. Während die FAA der Öffentlichkeit diese Informationen vorenthielt, dokumentierte die kanadische Fluglotsengewerkschaft in nur einer Streikwoche 41 Sicherheitszwischenfälle (darunter zahlreiche „Beinahe Unglücke“) auf den Strecken zwischen den USA und Kanada oder nahe der kanadischen Grenze.

Reagan war bereit, das Leben der Flugpassagiere zu riskieren, um PATCO zu zerschlagen. Offenbar stand viel mehr auf dem Spiel als nur die Tarifverhandlungen mit den Fluglotsen. Viele Streikende sagten dem Bulletin, dass sie ihren Kampf stellvertretend für die ganze Arbeiterklasse führten. Falls sie unterlägen, so sagten sie, würde die gewerkschaftsfeindliche Kampagne auf die gesamte Wirtschaft ausgeweitet werden. Aus denselben Gründen erkannten viele Fluglotsen und einfache Arbeiter aus anderen Industriezweigen, dass PATCO in ihrem Kampf nicht allein gelassen werden durfte.

“Wenn Reagan heute so mit PATCO umspringt, dann wird er morgen so mit anderen Streiks und mit der ganzen Arbeiterbewegung umspringen“, sagte Norman Hocker, Fluglotse von LaGuardia dem Bulletin am 5. August. „Wir stellen hier den Vorposten.“

Arbeiter anderer Industrien erkannten schnell die historische Dimension des Anschlags, den die Reagan-Regierung führte und forderten Aktionen. Bulletin und Workers League bestärkten diese Einsicht. Am 7. August erschien das Bulletin mit der Überschrift: “Mobilisiert die Arbeiterbewegung hinter dem Fluglotsenstreik: AFL-CIO muss den Generalstreik ausrufen!”

Am 15. August organisierte Ed Winn, Vorstandsmitglied der Ortsgruppe Local 100 der Transportarbeitergewerkschaft in New York City, eine Versammlung von etwa vierhundert Fluglotsen und Unterstützern in der Nähe des John-F-Kennedy-Flughafens. Winn, zugleich führendes Mitglied der Workers League, las eine Entschließung vor, die zu dringender Unterstützung von PATCO aufrief und von der AFL-CIO einen Generalstreik forderte. Diese Resolution wollte er in der nächsten Vorstandssitzung der Transportarbeitergewerkschaft einbringen.

In derselben Woche schickte der Ortsvorstand von Local 15 der Mechanikergewerkschaft IAM in Houston Telegramme an den AFL-CIO-Vorsitzenden Kirkland und an den IAM-Präsidenten William Winpisinger, in denen ein Generalstreik gefordert wurde.

Selbst Gewerkschaftsfunktionäre sahen sich genötigt zuzugeben, dass ein Generalstreik notwendig sei. Ralph Liberato, ein Funktionär der AFSCME (Gewerkschaft der Bundes-, Landes- und Kommunalangestellten) antwortete auf die Frage des Bulletins, ob die AFL-CIO in Michigan einen Generalstreik zur Unterstützung von PATCO einleiten werde: „Es gab zahlreiche Diskussionen unter unseren Mitgliedern zu dieser Frage, und viele fordern genau das.“ Ähnlich antwortete am 26. August David Roe, Vorsitzender der AFL-CIO in Minnesota dem Berichterstatter des Bulletin: „Der Ruf nach einem Generalstreik ist stark und nimmt zu.“ Zwar erklärte er, dass er selbst einen Generalstreik unterstütze, verwies aber darauf, dass die endgültige Entscheidung im Bundesvorstand getroffen werde.

Ende September gestand Kirkland ein, dass es an der Basis eine überwältigende Stimmung für einen Generalstreik gebe. „Niemals zuvor in meinem Leben habe ich so viel Post zu einem Thema erhalten. Ich habe eine unbeschreibliche Menge Telegramme, Briefe und Karten erhalten“, sagte Kirkland. „Über neunzig Prozent sprechen sich für die Fluglotsen aus, und über die Hälfte von ihnen kritisieren mich, weil ich keinen Generalstreik ausrufe.“

Bereits am 7. August sandte PATCO-Präsident Robert Poli Telegramme an alle Gewerkschaften der AFL-CIO mit der Bitte, die Streikposten, die sich an Hunderten von Flughäfen im ganzen Land befanden, zu respektieren.

Das geschah aber nicht. Als der Streik begann, tagten gerade der Exekutivrat und der Generalausschuss der AFL-CIO. Als die Tagung am 6. August beendet wurde, gab es keinen Plan, PATCO zu unterstützen. Im Gegenteil: die Gewerkschaftsoberen sandten deutliche Signale an die Reagan-Regierung, dass sie bei der Zerschlagung von PATCO kooperieren würden.

AFL-CIO-Präsident Kirkland wies den Aufruf zu einem Generalstreik öffentlich zurück und erklärte: „Es ist leicht, nach fünf Schnäpsen zu den Waffen zu rufen und den Generalstreik zu verlangen, doch als verantwortungsbewusster Führer muss man die Konsequenzen erwägen.“

Führende PATCO-Mitglieder aus Boston unterstützen Streikposten der Flugzeugmechaniker Führende PATCO-Mitglieder aus Boston
unterstützen Streikposten der Flugzeugmechaniker

In einem Bulletin-Interview mit IAM-Präsident William Winpisinger wurde er auch gefragt, ob die Maschinistengewerkschaft ihre Mitglieder in der Luftfahrtindustrie zu einem Solidaritätsstreik aufrufen werde. Außer den Flugzeugmechanikern waren auch die Piloten, die Flugbegleiter und die Gepäckabfertiger gewerkschaftlich organisiert. Hätte auch nur eine einzige weitere Gruppe von ihnen gestreikt, hätte dies die Position von PATCO unermesslich gestärkt.

Winpisinger indessen erklärte: “Das käme für 40.000 meiner Mitglieder einem Selbstmord gleich”, und ergänzte: “Es könnte sogar das Ende für die gesamte Gewerkschaft einläuten.“ In den folgenden Jahren haben die anderen Gewerkschaften der Luftfahrtindustrie, eine nach der anderen, ihren Mitgliedern umfassende Zugeständnisse aufgezwungen.

Ähnlich äußerte der Präsident der Autogewerkschaft UAW, Douglas Fraser, der Fluglotsenstreik könne „der Arbeiterbewegung großen Schaden zufügen“.

Das Bulletin kommentierte am 7. August: „Welch seltsame Logik! [Reagan] versucht, Millionen Familien der Arbeiterklasse in Armut zu stoßen, aber Fraser warnt vor einem Kampf gegen diese Regierung, da dies ‚der Arbeiterbewegung großen Schaden zufügen könnte’.“

Solidaritätstag in Washington DC am 19. September 1981 Solidaritätstag in Washington DC am 19. September 1981

John J. O’Donnell von der Pilotengewerkschaft (ALPA) unterstützte die Reagan-Regierung öffentlich. Wiederholt versicherte er, dass der Luftverkehr nach dem Streik ebenso sicher sei wie zuvor. Dem widersprach eine Sicherheitskommission seiner eigenen Organisation, die „eindeutige Gefahrenrisiken“ aufgrund unqualifizierter Fluglotsen konstatierte. Im August handelte O’Donnell eine zehnprozentige Lohnkürzung für die Pan Am-Piloten aus und eine Erhöhung der Flugzeiten um dreißig Prozent für die Piloten der United Airlines.

Die Perspektive der AFL-CIO, Druck auf demokratische Politiker auszuüben, damit sie den Streik unterstützen, führte lediglich zur Demoralisierung der Streikenden und Desorientierung der Arbeiterklasse. Einige Demokraten äußerten Sympathie für den Streik, aber ebenso viele verurteilten ihn. Der demokratische Bürgermeister von Detroit, Coleman Young, den die UAW für einen besonderen „Arbeiterfreund“ hielt und der früher selbst Autoarbeiter gewesen war, beschuldigte die Streikenden, sie nähmen „die Nation in Geiselhaft“, um „überzogene“ Forderungen durchzusetzen. Er verstieg sich sogar dazu, Reagan für seine Festigkeit gegen PATCO als „Helden“ zu feiern.

Die gewaltige Massenkundgebung am Solidaritätstag in Washington bezeugte, dass die Arbeiterklasse gegen Reagans Politik kämpfen wollte. Doch diese Veranstaltung blieb der erste und einzige ernsthafte Schritt, den die AFL-CIO gegen den gewerkschaftsfeindlichen Kurs und die Klassenkriegspolitik der Regierung unternahm.

Als der Gewerkschaft Ende Oktober offiziell die Vertretungsbefugnis aberkannt wurde, kapitulierte die AFL-CIO öffentlich. “Der Krieg ist aus“, resignierte UAW-Chef Fraser. Das Bulletin reagierte mit dem Aufruf, Fraser bei der im November anstehenden nationalen Jahresversammlung der AFL-CIO „zur Ordnung zu rufen und seine Haltung als Defätismus zurückzuweisen“.

Das Bulletin schrieb: “Die Versammlung muss der Tatsache ins Auge blicken, dass es keinen Kampf gegen Reagan geben kann, ohne dass entschieden mit der Demokratischen Partei gebrochen wird, und ohne dass die Arbeiterklasse gegen kapitalistische Politik mobilisiert wird. Dazu ist es notwendig, eine Arbeiterpartei zu gründen, die auf den Gewerkschaften fußt.“

Die zweitägige Tagung ging jedoch zu Ende, ohne dass konkrete Schritte zur Unterstützung der Fluglotsen eingeleitet wurden. Damit besiegelte die Bürokratie, wie das Bulletin feststellte „den totalen Bankrott ihrer Politik der Klassenzusammenarbeit. Diese ist historisch erledigt.“ Weiter heißt es dort: „Je klarer es wird, dass die Verteidigung der Grundrechte, welche die Arbeiterklasse sich erkämpft hat, die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus erfordert, desto verzweifelter klammert sich die Bürokratie an kapitalistische Politik.“

Im Dezember schrieb Poli an Kirkland und flehte ihn an “PATCO nicht sterben zu lassen“. Kirkland antwortete nicht, und am 31. Dezember trat Poli zurück.

Ausgabe des Bulletin mit Bericht über den Offenen Brief von Gary Greene an den Vorsitzenden der AFL-CIO, Lane Kirkland Ausgabe des Bulletin mit Bericht über den Offenen Brief
von Gary Greene an den Vorsitzenden
der AFL-CIO, Lane Kirkland

Am 29. Januar 1982 schrieb Gary Greene, ein Fluglotse aus Texas, der für seine Rolle im Streik verurteilt worden war, einen Offenen Brief an Kirkland und verlangte von ihm, einen Generalstreik auszurufen.

“Präsident Reagan gewinnt seinen Kampf gegen PATCO und wird zukünftige Kämpfe gegen alle Gewerkschaften gewinnen, solange die Arbeiterschaft es ihm erlaubt. Der einzige Weg, diesen Kampf zu beenden und die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaftsführer wiederherzustellen, ist ein NATIONALER STREIK“, schrieb Greene. Dieser Brief erhielt die Unterstützung eines Treffens von 180 Fluglotsen in San Francisco und der Bay Area.

Kirklands Büro behauptete, für einen Generalstreik gäbe es keine Unterstützung. Stattdessen lautete der Vorschlag, die Gewerkschaften sollten angesichts der Wahlen im Jahr 1982 ihre Unterstützung für die Demokratische Partei verdoppeln.

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