Ein neues Kapitel in der von Kriegen geprägten Geschichte Afghanistans

Die massive Konzentration von Truppen an der afghanisch-iranischen Grenze droht ein neues Kapitel in der von Kriegen geprägten Geschichte Afghanistans zu eröffnen. Seit zwei Jahrzehnten ist das Land nun Schauplatz der Intrigen der Großmächte.

Nachdem die Taliban-Miliz im August im Norden Afghanistans neun iranische Diplomaten und einen Journalisten ermordet hatte, zog der Iran an der Grenze 200.000 Soldaten zusammen, die durch Panzer, Hubschrauber und Spezialeinheiten unterstützt werden. Um die fundamentalistische Taliban-Regierung in Kabul unter Druck zu setzen, fanden ausgedehnte Manöver der iranischen Revolutionären Garden und regulärer Truppen statt.

Der Sprecher der Taliban Mohammed Hassan sagte: "Wenn ein Angriff auf uns stattfindet, werden wir uns nicht mit Verteidigung zufriedengeben, sondern dem Gegner nach unseren Möglichkeiten in sein eigenes Territorium nachsetzen."

Die UNO rief die verfeindeten Fraktionen innerhalb Afghanistans zu einem Waffenstillstand und zur Freilassung aller zivilen Gefangenen auf. Die Versammlung forderte das Taliban-Regime auf, eine Untersuchung zu den Massenmorden zuzulassen, von denen während der letzten Kämpfe berichtet worden war. Außerdem soll es Gespräche mit seinen Rivalen aufnehmen, um zu einer Abmachung zu gelangen, wie die Macht geteilt werden kann. Der Sondergesandte der UNO Lakhdar Brahimi sollte die Region bereisen, um mit den Regierungen und den afghanischen Fraktionen zu sprechen.

Bei dieser Sitzung der UNO waren außer den USA und Rußland die sechs Staaten vertreten, die an Afghanistan grenzen (Pakistan, Iran, China, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan). Weder die Taliban, die von der UNO nicht offiziell anerkannt werden, oder sonst eine der afghanischen Gruppen war auf der Konferenz vertreten.

Seit der Gründung der Taliban unter afghanischen Exilanten im Jahr 1994 ist Pakistan ihr wichtigster Unterstützter. Es ist eines der wenigen Länder, welches offiziell die Regierung anerkennt, die die Taliban errichtet haben, nachdem sie 1996 die Hauptstadt Kabul erobert hatten.

Die Taliban-Miliz stützt sich auf die sunnitische Auslegung des Islam und hat Unterstützung unter der ethnischen Gruppe der Puschtunen, welche die Bevölkerungsmehrheit bilden. Nach ihrer Machtergreifung hat die Regierung eine Reihe von reaktionären gesellschaftspolitischen Maßnahmen durchgesetzt, die sich auf ihre Auslegung der islamischen Doktrin stützen. Sie erließ beispielsweise Kleidungsvorschriften für Männer und Frauen und versperrte den Frauen den Zugang zu Arbeit und Bildung.

Der iranische Militäraufmarsch ist eine Reaktion auf eine militärische Offensive der Taliban, der es gelungen ist, eine Reihe von oppositionellen Hochburgen im Norden Afghanistans einzunehmen. Seit Beginn ihrer Offensive im Juli hatten sie Maimana, die Hauptstadt der Provinz Faryab, und die Stadt Shiberghan mit ihrem wichtigen Luftwaffenstützpunkt erobert.

Am 8. August sind die Taliban in Mazar-I-Sharif, die mit über einer halben Million Einwohnern die größte Stadt im Norden ist, einmarschiert und haben die iranischen Diplomaten hingerichtet. Drei Tage später haben sie die Stadt Taloquan erobert.

Das Magazin Asia Week schrieb dazu: "Wieder einmal scheint die Unterstützung Pakistans eine Schlüsselrolle zu spielen, was die Fragen der Logistik, der strategischen Ausrichtung und sogar des Menschenmaterials angeht. Laut diplomatischer Quellen sind mehr als zwei Wochen vor dem Fall von Shiberghan hunderte Freiwillige aus Pakistan in die im Westen gelegene Stadt Herat eingeflogen und von dort aus an die Front gebracht worden, um die Offensive der Taliban zu unterstützen."

Neben Jugendlichen von religiösen Hochschulen spielten dabei offenbar auch bezahlte Spezialisten aus Pakistan eine wichtige Rolle, beispielsweise Ex-Militärs, die offiziell im "Ruhestand" sind. Im Unterschied zu der gescheiterten Nord-Offensive im letzten Jahr scheint der jüngste Vormarsch professionell organisiert und durch beträchtliche Logistik unterstützt zu sein.

Außerdem konnte die Taliban Streitigkeiten unter den drei großen oppositionellen Gruppen auszunutzen. Das sind folgende:

* Die Fraktion, die vom ehemaligen Verteidigungsminister Ahmad Masood und dem gestürzten Präsidenten der von der UNO anerkannten Regierung, Burhannudin Rabbani vertreten wird. Sie stützt sie hauptsächlich auf die tadschikische Minderheit.

* Die Nationale Islamische Bewegung (Jombesh-i-Milli Islami), die von Abdul Rashid Dostam geführt wird, der früher von der Sowjetunion unterstützt wurde. Ihre Anhänger stammen größtenteils aus der usbekischen Minderheit.

* Hezb-i-Wahdat, geführt von Gulbuddin Hekmatyar. Sie stützt sich hauptsächlich auf die Hazari-Minderheit, die vorwiegend aus Anhängern der schiitischen Auslegung des Islams besteht.

Sowohl Rußland als auch der Iran unterstützen die Gegner der Taliban. Die russische Regierung befürchtet, daß sich der religiöse Konflikt in die angrenzenden zentralasiatischen Republiken ausweiten könnte, was deren ohnehin unsichere Stabilität zusätzlich bedrohen würde. Das iranische Regime, welches sich auch auf die Schiiten stützt, unterstützt Hezb-i-Wahdat. Nach der Eroberung der schiitischen Hochburg Bamiyan am 13. September hat Teheran die Taliban des Völkermords beschuldigt.

Hinter dieser scheinbar religiösen und ethnischen Auseinandersetzung verbirgt sich ein Konflikt um eine internationale strategische Schlüsselposition. Der Iran hat die Gelegenheit ergriffen, sich als regionale Macht zu präsentieren und versucht die Unterstützung der Großmächte, vor allem der USA, zu gewinnen. Aus diesen Gründen hat der iranische Präsident Mohammed Khatami vor den Vereinten Nationen nicht den Einfluß der USA in der Region mißbilligt und sich in der Kritik der israelischen Regierung zurückgehalten.

Außerdem hat Khatami sich für die Aufhebung des Kopfgeldes von umgerechnet 4,36 Millionen Dollar auf Salman Rushdie eingesetzt, das die iranische Regierung 1989 auf dessen Buch Die Satanischen Verse hin ausgesetzt hatte. Teheran hat mittlerweile bekanntgegeben, daß der Bann aufgehoben sei und daß keine Agenten nach Großbritannien entsandt würden, um das Todesurteil an Rushdie zu vollstrecken. Der britische Außenminister Robin Cook hat daraufhin die diplomatischen Beziehungen der beiden Länder aufgewertet.

Khatami ist im Iran mit einer Opposition aus fundamentalistischen islamischen Kräften konfrontiert, die sich um den religiösen Führer Ayatollah Ali Khamenei sammeln. Dieser kontrolliert das Militär, den Nachrichtendienst und die Justizverwaltung. Vor einer Woche versammelten sich 30.000 Männer und Frauen in Teheran auf der Beerdigung der ermordeten Diplomaten, um gegen die Taliban-Miliz zu demonstrieren und um Rache zu verlangen.

Die USA und Rußland tragen die Hauptverantwortung dafür, daß sich Afghanistan verfeindete religiöse und ethnische Fraktionen aufgelöst hat. Die ehemalige Sowjetregierung hatte nach ihrer Invasion Afghanistans im Jahre 1979 dort ein Marionettenregime installiert, welchem die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung feindlich gegenüberstand. Diese Opposition wurde dann von den USA ausgenutzt. Die USA unterstützten sowohl militärisch als auch finanziell verschiedene rechtsgerichtete islamische Milizen, was zu einem langen blutigen Krieg führte.

Bis vor kurzem hatten die USA Pakistan und damit stillschweigend die Taliban-Miliz unterstützt. Aber seit den pakistanischen Atomtests und den amerikanischen Raketenangriffen auf Stützpunkte in Afghanistan haben sich die Beziehungen verschlechtert. Die US-Regierung hatte behauptet, die Stützpunkte in Afghanistan seien von dem aus Saudi-Arabien stammenden Osama bin Laden unterhalten worden, dem sie die Verantwortung für die Anschläge auf US-Botschaften in Kenia und Tansania zuschrieben. Das Taliban-Regime hat sich geweigert bin Laden an die USA auszuliefern.

Die US-Regierung bewegt sich vorsichtig auf ein Bündnis mit dem Iran zu. Die beiden Länder hatten 1979 ihre Beziehungen abgebrochen, nachdem militante Iraner die US-Botschaft gestürmt und die amerikanischen Diplomaten für 444 Tage als Geiseln gehalten hatten. In einer Rede vor der UNO-Versammlung bezeichnete Clinton nun Mitte September jedoch den Iran als ein Opfer des Terrorismus, während das Regime in Teheran früher immer als staatlicher Schirmherr des Terrors dargestellt worden war.

Während der UNO-Konferenz über Afghanistan brachte US-Außenministerin Madeleine Albright ihr Beileid zum Tod der iranischen Diplomaten zum Ausdruck und rief die Taliban dazu auf, die verbleibenden iranischen Gefangenen freizulassen. Sowohl die USA als auch der Iran haben die Beteiligung der Taliban am Waffen- und Drogenschmuggel kritisiert.

Hinter den diplomatischen Manövern der USA verbergen sich handfeste ökonomische Interessen. Afghanistan nimmt eine strategische Position zwischen dem Nahen Osten, Zentralasien und dem Indischen Subkontinent ein. Der US-Konzern Unocal plant gemeinsam mit der saudi-arabischen Firma Delta Oil für zwei Milliarden Dollar eine Gaspipeline von dem gewaltigen Erdgasfeld Dauletabad in Turkmenistan aus über Afghanistan nach Pakistan und Indien zu bauen. Der Konzern schlägt außerdem vor, eine Ölpipeline entlang der selben Route zu bauen, um den Zugang zu den Ölfeldern in Kasachstan und womöglich in Westsibirien zu erschließen.

Im Januar 1998 hatte die Talibanregierung ein Abkommen unterzeichnet, das den Bau der Ergaspipeline erlaubt. Aber im Juni hat der russische Konzern Gasprom auf seine Beteiligung von 10% verzichtet. Am 21. August, also einen Tag nach dem amerikanischen Raketenangriff auf Afghanistan, hat Unocal die vorübergehende Aufhebung des Projekts bekanntgegeben und darauf bestanden, daß das Projekt nur dann fortgesetzt wird, wenn eine Regierung eingesetzt ist, die sowohl von den USA als auch den Vereinten Nationen anerkannt wird.

Im letzten Jahrhundert, während der britischen Herrschaft in Indien, war Afghanistan in ständige diplomatische und militärische Intrigen verwickelt, weil Großbritannien versuchte, dieses wichtige Bindeglied zwischen dem indischen Subkontinent und dem Nahen Osten zu kontrollieren. Heute ist die Region erneut zu einem Pulverfaß geworden, da die Großmächte und ihre Stellvertreter sich um die ökonomische und politische Kontrolle streiten.

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