Wadim Rogowins "1937 - Jahr des Terrors" im Spiegel der Kritik

Im Frühjahr 1998 veröffentlichte der Arbeiterpresse Verlag "1937 - Jahr des Terrors" von Wadim S. Rogowin. Es ist der vierte Band einer insgesamt sechsbändigen Geschichte der Linken Opposition gegen den Stalinismus. Rogowin, der bereits am Konzept eines siebten Bandes arbeitete, erlag im September in Moskau seinem schweren Krebsleiden.

Seit seinem Erscheinen hat das Buch ein sehr widersprüchliches Echo in Presse und Hörfunk gefunden.

In einer ganzseitigen Besprechung in der Zeitung junge Welt vom 29. April 1998 schreibt Anton Holberg:

"Die Bedeutung des Buches von Rogowin liegt vor allem darin, daß er entgegen der Mehrzahl der erreichbaren Literatur zum Thema von einer kommunistischen Position ausgeht, daß sein Buch ungeachtet seines wissenschaftlichen Charakters u.a. durch den Rückgriff auf literarische Quellen die düstere Atmosphäre der Zeit plastisch werden läßt. Eine Vielzahl von Fotos der im Buch erwähnten Personen verstärken diesen Charakter."

Bernhard Schulz widmet Rogowin im Berliner Tagesspiegel vom 25. Mai 1998 eine halbe Seite und bemerkt zur Debatte um die Zahlen der Opfer des Stalinismus, die von den Autoren des "Schwarzbuches des Kommunismus" begonnen wurde:

"Wichtiger (als die Zahlen) ist die Innenansicht des Terrors, seiner Organisation und seiner Rechtfertigung. In dieser Hinsicht ist die Bearbeitung der Stalin-Zeit immer noch unbefriedigend, zumindest im Vergleich mit dem Kenntnisstand in Sachen SS-Staat... Die Arbeit des russischen Historikers Wadim S. Rogowin wird diesen Kenntnisstand deutlich vertiefen."

Stalin hatte nicht etwa erklärte Feinde, sondern Weggefährten und Gesinnungsgenossen im Visier und zumindest die prominenteren Opfer des Terrors taten alles, den Anschein der Rechtfertigung der Vorwürfe von "Spionage" und "Verrat" aufrechtzuerhalten, so Bernhard Schulz. "Eine wichtige Ausnahmegruppe, so Rogowin, gab es: die Trotzkisten... In der Darstellung der Oppositionstätigkeit trotzkistischer Zirkel - darunter auch blutjunger 'Kader', die bereits ins Sowjetregime hineingeboren worden waren - wird die ganze Dimension der im Westen oft nur als interne Machtkämpfe behandelten Säuberungen deutlich. Rogowin widmet eigene Kapitel seines umfangreichen Buches der Ermordung von Trotzkisten im Ausland, den verheerenden Terrormaßnahmen des NKWD innerhalb der spanischen Republikaner sowie den Haftbedingungen von Trotzkisten in den Lagern des GULAG. Die Schilderung von Hungerstreiks in den Arbeitslagern von Kolyma und Workuta 1936, die im folgenden Jahr durch Massenerschießungen geahndet wurden, setzt den trotzkistischen Widerständlern ein bewegendes Denkmal."

"Ein lesenswertes Buch." Zu diesem Schluß gelangt Bernhard Bayerlein in seiner Rezension am 17. Juni im Westdeutschen Rundfunk.

Er hebt hervor: "Die Stärke dieses Buches liegt zweifellos in der ausführlichen und quellengestützten Darstellung einer bisher wohl in dieser Dichte noch nicht rekonstruierten Ereigniskette, die zwar bekannt ist, doch in ihren einzelnen Bestandteilen eher diffus wahrgenommen wurde...

Für Rogowin war der Terror nicht vorherbestimmt. Ausgehend von einer relativen Offenheit der historischen Situation, besagt seine These, daß der Terror in erster Linie nicht als Ausfluß der Paranoia des Roten Tyrannen, sondern als Mittel zur Auslöschung einer in erster Linie von Trotzki repräsentierten linken Alternative verstanden werden muß. Diese Situation erforderte jedoch die Vernichtung eines Großteils der alten bolschewistischen Kader. Um dieses Ziel zu erreichen, bediente sich Stalin der Methode des Amalgams, d. h. einer Verbindung von Erfindungen und wahren Begebenheiten...

Positiv hervorzuheben ist: Das Buch spiegelt nicht die vereinfachte monokausale Sicht der Kommunismusgeschichte wider, es hebt sich insofern vom Mainstream der post-sowjetischen Historiographie wohltuend ab."

Ganz anders urteilt Eckhard Jesse in der Zeit vom 20.8.1998, in der dieser neben Rogowins Buch auch den von Hermann Weber und Ulrich Mählert herausgegebenen Band "Terror" bespricht. In zwei kurzen Absätzen regt sich Jesse über Rogowins Äußerung auf, daß viele der ersten Emigranten und die Renegaten des Kommunismus der zwanziger und dreißiger Jahre "die heroische Zeit der russischen Revolution in Mißkredit bringen und mit Schmutz bewerfen". Er wirft Rogowin vor, "neue Legenden mit Blick auf Trotzki zu stricken". "Gift und Galle spuckt er gegen die "offenen Renegaten des Kommunismus", zu denen er Gorbatschow, Jelzin und Jakowlew zählt", die Jesse antritt zu verteidigen.

Obwohl Jesse das Buch Hermann Webers frei von "solchen Nostalgien" wähnt, ist sein Kritikpunkt an diesem Band interessant: "Kritikwürdig erscheint Webers Charakterisierung, die Säuberungen seien 'ein immanenter Teil des Wandels des Kommunismus von einer radikal-sozialen Bewegung in eine totalitäre, diktatorische Organisation' gewesen - als habe dem Kommunismus gleich welcher Schattierung anfangs keine totalitäre Neigung innegewohnt. Auch der Terminus von den 'demokratischen Ansätzen des Kommunismus' ist wenig zwingend, ebenso der Begriff 'stalinistisch' für die Parteisäuberungen."

Eckhard Jesse, der seit der Wende an der Philosophischen Fakultät der Universität Chemnitz lehrt, ist notorischer Antikommunist. Er ist Herausgeber des Jahrbuchs "Extremismus und Demokratie", einer "wissenschaftlichen" Version des Verfassungsschutzberichts. Den Begriff des Stalinismus lehnt er vehement ab, für ihn ist alles Kommunismus, eine Version des Totalitarismus wie auch der Faschismus.

Es ist bezeichnend, daß die Zeit ausgerechnet Jesse zum Rezensenten von Rogowins Buch bestellt hat. Mitherausgeber dieser Zeitschrift ist der frühere sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Gleichsetzung von Kommunismus und Faschismus hat in der SPD Tradition. Dabei benutzte sie stets die Verbrechen der Stalinisten als Vorwand für die Verleumdung wirklicher linker Kritiker. Bereits Kurt Schumacher sprach in Vorbereitung auf das 1956 erfolgte KPD-Verbot von "rotlackierten Faschisten". Man muß sich auch vor Augen halten, mit welchem Eifer die Brandt-Regierung Anfang der siebziger Jahre die Berufsverbote gegen Linke durchsetzte, unter Berufung auf die "Verteidigung der Demokratie gegen den Extremismus".

Die Buchkritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. September, formuliert von Ralf Zwengel, leugnet überhaupt die Wissenschaftlichkeit der Arbeit Rogowins, weil sie einen Standpunkt auf Seiten der trotzkistischen Opposition einnimmt. Der Autor, ein 37jähriger Doktorand aus Berlin, meint das Problem dadurch zu lösen, daß er in Bezug auf Rogowin die Berufsbezeichnung Historiker in Anführungszeichen setzt.

Karl Grobe sieht in seiner Rezension in der Frankfurter Rundschau vom 2. Oktober die Bedeutung von Rogowins Arbeit in der Diskussion im heutigen Rußland: "Die Diskussion, die er (Rogowin), Mitglied der Akademie der Wissenschaften, wieder angestoßen hat, sollte vor allem seine russischen Kollegen in Atem halten - zwecks Vermeidung neuer politischer Irrwege."

Im Neuen Deutschland lehnt einer der Theoretiker der PDS, Wladislaw Hedeler, die These Rogowins ab, daß "die Moskauer Prozesse der Gegenschlag Stalins in einem zugespitzten politischen Kampf waren". Ihm ist die Arbeit Rogowins zuwider, weil er genau wie der Rezensent der FAZ Rogowins Parteinahme auf Seiten der Opposition ablehnt. Er spricht ihm von daher die Wissenschaftlichkeit ab, ohne allerdings die angeführten Fakten und Argumente widerlegen zu können.

Ulrich Schiller hat in seiner Besprechung im Hessischen Rundfunk am 20. September den Fall Tuchatschewski in den Mittelpunkt gestellt: "Der Fall Tuchatschewski, obwohl er nun über 60 Jahre zurückliegt, hat auch nach Dutzenden von Untersuchungen nicht aufgehört, Russen und Nichtrussen gleichermaßen zu beschäftigen, ja zu faszinieren... Der russische Historiker Wadim Rogowin hat die parteiinternen und internationalen Verwicklungen des Falls Tuchatschewski mit großer Akribie nachgezeichnet...

Das Buch "1937 - Jahr des Terrors" liest sich streckenweise wie ein Krimi. Nicht die Foltern und Verhörmethoden des NKWD, um Geständnisse angeblicher Trotzkisten und Parteifeinde zu erpressen, werden beschrieben, sondern mehr die teuflischen Mechanismen, mit denen Stalin und sein damaliger Geheimdienstchef Jeschow zu Werke gingen...

Wenn heute oft gesagt wird, die Russen gehen noch immer der 'Bewältigung' ihrer Vergangenheit aus dem Wege, so muß man Rogowin dafür preisen, daß er mit seinen Stalin-Abrechnungen aus nunmehr geöffneten Archiven der russischen Gesellschaft einen kritischen Spiegel vorhält - selbst wenn in diesem Spiegel deutliche Züge Trotzkis zu erkennen sind. Rogowin hat vor allem eins gezeigt: daß es in Stadt und Land immer wieder mutige Menschen gab, die Stalin die Stirn boten, seinen Sprachrohren widersprachen, auch wenn sie ihr Leben riskierten."

In der österreichischen Zeitschrift für Betriebs- und Gewerkschaftsbüchereien stellt Kurt Lhotzky Rogowins Buch den Werken von Pipes und dem "Schwarzbuch des Kommunismus" gegenüber: "Ideologisch und kommerziell ist es zur Zeit sehr en vogue, den Stalinismus mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen, auf die Russische Revolution zurückzuführen und gleich auch noch Marx und Engels zu den Stammvätern jedweder Form des Terrorismus zu erklären..

Rogowin weist unter Einbeziehung einer Fülle von Dokumenten und Protokollen nach, daß dieser Terror keineswegs die Fortsetzung der Methoden der Revolution, sondern ihre Negation war... Dabei kristallisiert sich deutlich heraus, daß der Widerstand gegen den Stalinismus bei weitem umfangreicher war, als oft angenommen wird...

Wer sich ernsthaft für die Geschichte der Arbeiterbewegung interessiert, wird um die Lektüre dieses Buches kaum herumkommen. Der Rezensent sieht mit Spannung den Folgebänden entgegen."

Der nächste Band, "Die Partei der Hingerichteten", erscheint im Februar 1999.

Siehe auch:
Wadim Rogowin im Arbeiterpresse Verlag

Loading