Nach dem Erdbeben:

Türkische Regierung amnestiert Folterer und Kriminelle

Das Erdbeben vor zwei Wochen, bei dem nach offiziellen Angaben über 14.000 Menschen gestorben und mehr als 600.000 obdachlos geworden sind, hat die tiefen Gräben zwischen den herrschenden Kreisen und der einfachen Bevölkerung in der Türkei aufgedeckt. In den Augen von Hunderttausenden, die ihre Angehörigen und Freunde betrauern, stehen die Machthaber in Politik und Wirtschaft als korrupte, profitgierige Bande da, der das Schicksal der Bevölkerung vollkommen gleichgültig ist. Wer sich zwei Tage lang die allmählich verstummenden Rufe verschütteter Kinder anhören musste, ohne dass Hilfe kam, der duckt sich nicht mehr vor der Obrigkeit.

Die Regierung, zusammengesetzt aus der sozialdemokratischen DSP, konservativen ANAP und faschistischen MHP hat auf diese Bedrohung reagiert, indem sie die Reihen geschlossen und in provokativer Weise klargemacht hat, dass sie jenen beisteht, gegen die sich der Volkszorn richtet.

Osman Durmus, der Gesundheitsminister von der faschistischen MHP, ist wegen seiner chauvinistischen Tiraden gegen internationale Hilfe insbesondere aus Griechenland und Armenien von breiten Schichten und den meisten Zeitungen als "ignoranter Rassist" angegriffen und nachdrücklich zum Rücktritt aufgefordert worden - seine Fraktionskollegen bejubelten ihn und der sozialdemokratische Regierungschef Ecevit gab ihm Rückendeckung.

Für die verheerenden Schäden des Erdbebens werden kriminelle Bauunternehmer mit guten Beziehungen zu Staat und Politik verantwortlich gemacht - an die Spitze der parlamentarischen Kommission, die diese Hintergründe untersuchen soll, wurde nach einer Meldung der Zeitung Radikal mit Ersoy Özcan (MHP) ein Abgeordneter gestellt, der als Eigentümer selbst für den Einsturz eines Privatkrankenhauses verantwortlich gewesen sein soll, bei dem neun Menschen umkamen.

Einen regelrechten Aufschrei unter Bevölkerung und Medien lösten eine Reihe von Gesetzen aus, die von der Regierung durch das Parlament gepeitscht wurden, während das Land noch damit beschäftigt war, die Toten zu zählen und die Trümmer wegzuräumen.

Dazu gehört ein Beschluss, nach dem das türkische Arbeitsgesetz zugunsten ausländischer Konzerne außer Kraft gesetzt werden kann, und eine drastische Heraufsetzung des Rentenalters. Besonders letzteres hatte bereits vor der Erdbebenkatastrophe erbitterte Proteste türkischer Arbeiter ausgelöst. Die Vorlagen zu diesen Gesetzen hatte der IWF der Türkei diktiert.

Als Geste des guten Willens an die Europäische Union wurde auch ein "Reuegesetz" verabschiedet, das PKK-Mitgliedern Straferleichterung verspricht. Es enthält aber so viele Einschränkungen, dass es kaum in Anspruch genommen werden kann. Es gilt nur für PKK-Mitglieder, die mit dem Staat zusammenarbeiten, ihre Kameraden verraten, Einzelheiten über Struktur und Strategie der Partei nennen und niemals eine Waffe in die Hand genommen, einen Soldaten getötet oder führende Funktionen in der Partei eingenommen haben. Außerdem ist es auf sechs Monate befristet.

Ganz anders steht es mit einem Amnestiegesetz zugunsten von Mafia-Gangstern, faschistischen Mördern und Folterknechten, das trotz großer Empörung ebenfalls verabschiedet wurde. Berichten zufolge sollen aufgrund dieses Gesetzes 26.538 Häftlinge freikommen und fast 32.000 geringere Strafen erhalten. Viele Verfahren werden außerdem eingestellt.

Das Gesetz war derart provokativ, dass Staatspräsident Süleyman Demirel vorgestern seine Unterschrift darunter verweigerte und es an das Parlament zurückverwies, damit es einige kosmetische Änderungen vornehme. Es solle erst mit "Gerechtigkeit, Grundsätzen der Gleichbehandlung und dem öffentlichen Gewissen" in Einklang gebracht werden. Ein zweites Mal kann Demirel kein Veto einlegen.

Türkische Zeitungen berichteten, wer von der Amnestie profitieren soll. Darunter fallen praktisch sämtliche früheren ranghohen Politiker wie Mesut Yilmaz, Günes Taner, Meral Aksener, Sedat Bucak und Mehmet Agar, die in Korruptionsskandale verwickelt waren, weil sie Beziehungen zur rechten Mafia, zu Todesschwadronen und z.T. - wie der frühere Ministerpräsident und heutige ANAP-Chef Yilmaz - auch zu dubiosen Bauunternehmern unterhielten.

Ungeachtet aller gegenteiligen Beteuerungen Ecevits wiesen türkische Rechtsexperten darauf hin, dass auch Bauunternehmer, insbesondere jene, die nach dem Erdbeben im letzten Jahr an der Mittelmeerküste angeklagt worden waren, unter das Gesetz fallen.

Für die Amnestierung korrupter Politiker soll die ANAP gesorgt haben, während die MHP die Interessen von Mafia-Paten und faschistischen Mördern wahrnahm. Laut einer Meldung der konservativen Hürriyet kommen die Angehörigen von insgesamt 75 Mafia-Banden in den Genuss der Amnestie.

Aktivisten der MHP hatten seit ihrer Gründung Ende der sechziger Jahre unter aktiver oder passiver Unterstützung der Sicherheitskräfte mit zahllosen Morden und Massakern einen regelrechten Bürgerkrieg gegen die Arbeiter- und Studentenbewegung sowie religiöse und nationale Minderheiten geführt. Nicht wenige waren gewöhnliche Mafiosi und Verbrecher. Nach der Machtübernahme der Militärs 1980 waren zunächst einige von ihnen eingesperrt worden. Schon bald darauf kamen die meisten Faschisten aber wieder frei, und viele MHP-Kader wurden von "Anti-Terror"-Spezialeinheiten, dem Geheimdienst und anderen "Ordnungskräften" übernommen.

Natürlich nutzten diese von niemandem kontrollierten und vor nichts zurückschreckenden Gangster ihre Machtstellung auch gründlich für Aktivitäten zur persönlichen Bereicherung wie Korruption und Drogenhandel aus. Bekannt wurde die enge Verflechtung von Staat, Mafia und Faschisten im sogenannten "Susurluk"-Skandal vor drei Jahren - alle darin Verwickelten fallen unter das Amnestiegesetz. (Nach einem Unfall am ägäischen Ort Susurluk zog man neben der Leiche eines beinahe zwanzig Jahre lang gesuchten faschistischen Killers einen hochrangigen Politiker der konservativen "Partei des Rechten Weges", DYP, der ehemaligen Regierungspartei unter Tansu Ciller, schwerverletzt aus dem Autowrack. Ein gutes Jahr später kam der Berichterstatter der zu diesen Verquickungen eingesetzten parlamentarischen Untersuchungskommission, Richter Akman Akyürek, ebenfalls bei einem schwer erklärlichen Autounfall ums Leben.)

Neben einigen gewöhnlichen Verbrechern erhalten eine Amnestie auch Polizisten, die wegen Folter angeklagt oder verurteilt sind. Von der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV sind allein seit Anfang der neunziger Jahre über 3.000 Fälle von Folter dokumentiert worden, wobei diejenigen Opfer noch gar nicht eingerechnet sind, die sich aus Angst, Scham oder Unwissenheit nicht melden. Laut Amnesty International sind seit 1980 über 400 Menschen sogar zu Tode gefoltert worden. All ihre Peiniger sollen nun nichts mehr zu befürchten haben.

Für deren Gegner sieht es anders aus. Bekannte Anwälte und Menschenrechtsaktivisten wie Esber Yagmurdereli und Akin Birdal werden im Gefängnis bleiben. Birdal sitzt eine Haftstrafe wegen eines Aufrufs zu einer friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts ab. Er musste sie trotz schwerer Schussverletzungen durch ein Attentat rechtsradikaler Terroristen antreten. Die Attentäter sollen jedoch amnestiert werden.

Von über 60 verurteilten Journalisten werden gut die Hälfte auf freien Fuß gesetzt, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie in den nächsten drei Jahren nicht wieder etwas Kritisches schreiben. Alle "Verbrechen", die etwas mit Opposition zum oder auch nur Kritik am Staat zu tun haben, werden von der Amnestie ausgeschlossen, was im wesentlichen die inhaftierten Aktivisten von Menschenrechtsgruppen, der PKK, islamistischer sowie linker Organisationen betrifft.

Es gibt verschiedene Motive für das Amnestiegesetz. Der offizielle Grund ist die Leerung der überfüllten Gefängnisse, um die Kontrolle der Haftanstalten wieder zu erleichtern. In den letzten Jahren war es besonders unter politischen Gefangenen immer wieder zu erbitterten Protesten gegen die vielfach menschenunwürdigen Haftbedingungen gekommen. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sind allein seit 1994 durch Hungerstreiks und bei der Niederschlagung von Gefängnisaufständen an die zwei Dutzend Insassen gestorben. Erst vor kurzer Zeit beendeten maoistische Gruppen eine Geiselnahme, um die Verlegung von Gefangenen in Isolationshaft zu verhindern.

Viele Medien waren aber auch der Ansicht, dass mit der Amnestie besonders die MHP und ANAP einfach ihre Klientel vor Verfolgung schützen wollen.

Die Amnestie begleitet ein brutales Programm von Sozialabbau und Privatisierung. Die konservative Frankfurter Allgemeine(30. August ) lobte zufrieden: "Mit dem Amnestiegesetz schließt das türkische Parlament eine der produktivsten Phasen in seiner jüngeren Geschichte ab... Mit der Verabschiedung dieser Gesetze hat die Regierung Ecevit ihre erste Feuertaufe bestanden... Zudem ließ sich die Regierung nicht von populistischen Erwägungen leiten und hat selbst eine Konfrontation mit den Gewerkschaften ohne Abstriche durchgestanden."

Die Botschaft ist absolut eindeutig: Alles, was als Opposition gegen die bestehende Ordnung gilt, wird gnadenlos verfolgt. Gerade deshalb gilt umgekehrt für den Staat, wie der Generalsekretär der türkischen Menschenrechtsvereinigung IHD gegenüber der Turkish Daily News meinte: "Die Regierung hat alle Verbrechen vergeben, die von ihren Organen oder Banden begangen worden sind, welche - legal oder illegal - für sie [die Regierung] arbeiten."

Siehe auch:
Politische Nachbeben in der Türkei
(27. August 1999)
Tausende Tote bei Erdbeben in der Türkei
( 19. August 1999)
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