Ist die Jugend unpolitisch?

Unter Jugendlichen ist der Anteil von Wahlenthaltungen besonders hoch

Zum ersten Mal konnten bei den diesjährigen Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen EU- Ausländer und Jugendliche ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben. Gerade die Jugendlichen allerdings blieben der Wahl fern.

Viele Analysten stellten sich auf den Standpunkt, dass das Fernbleiben der jungen Generation aus deren fehlendem Interesse an Politik zu erklären sei. Der Jugend von heute gehe es materiell zu gut und sie dächte nur an sich selbst. Die alltägliche Erfahrung und diverse Studien belegen, dass es eher umgekehrt ist: Das Fernbleiben der Jugend ist auf das fehlende Interesse der Politik - sprich der politischen Parteien - an ihr und ihren Problemen zurückzuführen. Sie ist am härtesten von der Arbeitslosigkeit und den Auswirkungen der Sparpolitik betroffen und muss Wahl für Wahl feststellen, dass sie daran - egal welche Partei die Wahl gewinnt - nichts ändern kann.

Der Schritt in die Berufstätigkeit ist schwer. Trotz eines zwei Milliarden Mark teuren Sonderprogramms der Bundesregierung, das viele Jugendliche in irgend eine Beschäftigung steckt, sind nach wie vor Hunderttausende arbeitslos. Nach offiziellen Statistiken waren im vergangenen Monat 11,6 Prozent aller Unter-25-jährigen arbeitslos, das sind bundesweit 465.758. Mehr als ein Viertel von diesen waren sogar unter 20. Ende 1997 bezogen gut eine Million Kinder oder Jugendliche unter 18 Jahren Sozialhilfe, das sind mehr als ein Drittel der Empfänger (37,2 Prozent). Damit wurden 6,8 Prozent aller jungen Menschen von der Sozialhilfe unterstützt; dieser Anteil liegt fast doppelt so hoch wie der entsprechende Anteil an der Gesamtbevölkerung (3,5 Prozent).

Nicht nur diese Statistiken weisen darauf hin, daß die Lage der heranwachsenden Generation düster ist. Auch die Betroffenen selbst schätzen ihre Perspektiven pessimistisch ein. Der Ölkonzern Shell finanziert schon seit Jahrzehnten die regelmäßig erscheinenden Jugendforschungsstudien, die daher seinen Namen tragen. Die Erhebung aus dem Jahre 1997 hatte sich den thematischen Schwerpunkt gesetzt, die Voraussetzungen, Motive und Formen sowie das Verständnis des sozialen, gesellschaftlichen und politischen Engagements Jugendlicher zu analysieren.

Schon 18 Prozent der 12- bis 14-jährigen nennen nach dieser Studie die Arbeitslosigkeit als das "Hauptproblem der Jugendlichen heute". Der Anteil der Jugendlichen, die dies ebenso einschätzen, wächst erwartungsgemäß mit steigendem Alter: Bei den 22- bis 24-jährigen beträgt er 62,5 Prozent - also die Mehrheit.

92 Prozent der Befragten sehen die steigende Arbeitslosigkeit als "großes oder sehr großes Problem für unsere Gesellschaft" an, gefolgt von der Umweltverschmutzung.

Da in der Beurteilung der eigenen Perspektiven und der gesellschaftlichen Probleme weder signifikante Unterschiede zwischen Jugendlichen in West- und Ostdeutschland, noch zwischen den Geschlechtern auftreten, ziehen die Autoren der Shell- Studie das Fazit, daß "hier ein Konsens in der gesamten jungen Generation liegt, gewissermaßen eine ‚ prägende Generationserfahrung‘." (Hervorhebung vom Verfasser)

Stärker als die vorangegangenen Generationen wächst die derzeitige in existentieller Unsicherheit auf und in sie hinein. Die Studie "Young is beautiful" der Universität Bremen belegt, daß Jugendliche mit Zukunftssorgen (58 Prozent der Befragten schätzten ihre Perspektiven als gemischt bis düster ein) häufiger krank werden. Der psychische Druck, der auf diesen Heranwachsenden lastet, äußert sich in vermehrter Schlafstörung, Nervosität, Mutlosigkeit und schneller Müdigkeit, sowie Rückenschmerzen. Der Gesundheitsbericht gibt als "grobe Schätzung" an, daß die Unterprivilegierten der Gesellschaft im Vergleich zu den Privilegierten doppelt so häufig erkranken.

Wenn also nicht die "klassischen Lehrbuchprobleme der Identitätsfindung, Partnerwahl und Verselbständigung" (Shell- Studie) die junge Generation beschäftigen, sondern die gesellschaftliche Situation und die Angst vor einem Leben in Armut, kann das Fernbleiben von den Wahlen nicht mehr mit Schlagwörtern wie "Politikverdrossenheit" etc. erklärt werden. Vielmehr sieht die Generation der Heranwachsenden die führenden Politiker nicht mehr als Vertreter ihrer Interessen: "Relativ am wenigsten Vertrauen bringen junge Leute unserer Studie den ‚klassischen‘ politischen Institutionen entgegen. Den schlechtesten Vertrauensbonus überhaupt haben ‚politische Parteien‘, kaum weniger Bundesregierung und Bundestag."

Nur 7 Prozent der Befragten der Shell-Studie halten es für "wahrscheinlich", dass die Regierung die Arbeitslosigkeit abbauen kann und für jeden einen angemessenen Arbeitsplatz zu schaffen in der Lage ist. Als sicher sieht dies nur noch 1 Prozent der Befragten an. Die Jugendlichen stellen der Politik das denkbar schlechteste Zeugnis aus, wenn sie urteilen, daß "Massenarbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, Sozialabbau, Verarmungsprozess von der Politik nicht angegangen werden". Dies, folgert die Studie, "macht sie skeptisch und betroffen; sie fühlen sich von der Politik und den Erwachsenen im Stich gelassen und einflusslos."

Für die Autoren der Studie hat die gesellschaftliche Krise die Jugend erreicht. Doch gleichzeitig sieht die junge Generation keine Möglichkeit, in ihrem Interesse Einfluß zu nehmen. Die vorhandene Engagementbereitschaft findet kein Betätigungsfeld: "Die Strukturen und Akteure des politischen Systems sowie die darin gegebenen Möglichkeiten scheinen ihnen offenkundig nicht geeignet, um ein für sie befriedigendes Ergebnis erwarten zu lassen. Wenn aber zwischen der Motivation zu gesellschaftlichem Engagement und dem politischen Verhalten keine signifikante Beziehung mehr besteht, dann wird der Gebrauch des Etiketts ‚unpolitisch‘ oder ‚politikabstinent‘ zur Beschreibung dieses Phänomens nicht nur unscharf, sondern geradezu irreführend."

Die niedrige Wahlteilnahme war kein Zeichen fehlenden politischen Interesses, sondern vielmehr bereits eine politische Artikulation. Heranwachsende haben in vielen Bereichen identische Interessen mit Älteren - wie sollte es anders sein -, wozu vor allen Dingen die Perspektive auf eine gesicherte und menschenwürdige Existenz gehört. Keine der etablierten Parteien kann glaubhaft weismachen, diese Interessen vertreten zu wollen und zu können.

Zum ersten Mal in der Geschichte der BRD wächst eine Generation heran, die sich in ihrer Mehrheit nicht mehr in der Lage sieht, im Rahmen der althergebrachten politischen Institutionen ihre Interessen zu realisieren. So zeigt sich auch hier der Bruch zwischen der vergangenen und der jetzt beginnenden Periode. Im Angesicht der scharfen Angriffe des herrschenden Establishment auf die Masse der Bevölkerung, darunter die Jugend, haben die politischen Institutionen der Bundesrepublik ihre Fähigkeit verloren, Mittel des sozialen Konsens zu sein. Die junge Generation erfährt die scharfen Klassengegensätze am eigenen Leib. Ein Enthalten aus der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung wird ihre Probleme nicht lösen, im Gegenteil. Jugendliche sind daher - wohl oder übel - genötigt, die drängenden Fragen zu beantworten.

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