Die Sozialistische Internationale am Ende des Jahrhunderts

21. Kongress tagt in Paris

Vom 8. bis 10. November versammelten sich in Paris 1200 Delegierte zum 21. Kongress der Sozialistischen Internationale.

Die Wurzeln dieser Organisation gehen auf die 1889 unter dem Banner des Marxismus gegründete Zweite Internationale zurück. 1914 brach sie im Gemetzel des Ersten Weltkriegs auseinander, weil sich die meisten Sektionen auf die Seite ihres jeweiligen "Vaterlands" gestellt und den Krieg unterstützt hatten. Seither fristete sie eine eher unbedeutende Existenz.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie neu aufgebaut. Sie stützte sich auf die sozialdemokratischen Parteien Europas sowie die israelische Arbeiterpartei, die, streng antikommunistisch ausgerichtet, soziale Reformen im Rahmen kapitalistischer Eigentumsverhältnisse anstrebten.

In den achtziger Jahren und verstärkt nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa dehnte sie sich in alle Teile der Welt aus. Sie wuchs von 40 auf heute 143 volle und beobachtende Mitglieder an. Die aus der italienischen Kommunistischen Partei hervorgegangenen Demokratischen Linken gehören ihr ebenso an wie die palästinensische El Fatah Jassir Arafats und zahlreiche, oft eher rechtslastige Parteien aus Lateinamerika.

Unter den Delegierten des Pariser Kongresses befanden sich zahlreiche Staats- und Regierungschefs. Allein in der Europäischen Union führen die Mitgliedsparteien zur Zeit in elf von 15 Ländern die Regierung. Neben anderen sprachen der französische Ministerpräsident Lionel Jospin, der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und der britische Premier Tony Blair zu den Delegierten. Aus Argentinien war der neu gewählte Präsident De la Rúa angereist.

Angesichts dieser Machtfülle hätte man erwarten können, das der letzte Kongress der Sozialistischen Internationale im ausgehenden Jahrhundert ein gewisses Maß an Zuversicht und Optimismus in die Zukunft ausstrahlen würde. Statt dessen war er von Ratlosigkeit, innerer Zerstrittenheit und einer rasanten Entwicklung nach rechts geprägt.

Die Monate vor dem Kongress wurden von einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen der britischen Labour Party unter Tony Blair und den französischen Sozialisten unter Lionel Jospin beherrscht. In Deutschland zog sich der Streit quer durch die SPD hindurch: Während sich Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Blair solidarisierte, ergriff der zurückgetretene Parteivorsitzende Oskar Lafontaine Partei für Jospin.

Anfang Juni hatten Blair und Schröder unter dem Titel "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten" ein gemeinsames Papier veröffentlicht, in dem die von Blair seit längerem vertretenen Floskeln eines "Dritten Weges" noch einmal ausführlich breitgetreten wurden. Im wesentlichen lief es auf eine Absage an die sozialreformistischen Konzepte hinaus, die die Sozialdemokratie früher vertreten hatte.

Die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung sei ignoriert und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit statt mit herausragender Leistung verbunden worden, heißt es in dem Papier über die sozialdemokratische Politik der Vergangenheit. Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit sei mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert worden. Verwaltung und Bürokratie seien überproportional ausgeweitet, Werte wie persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn hinter universelles Sicherungsstreben zurückgestellt, die Schwächen der Märkte über-, ihre Stärken unterschätzt worden, usw.

Insgesamt traten Blair und Schröder ganz im Stile neoliberaler Ideologen für eine stärkere Rolle des Marktes auf Kosten des Staates ein. Sie verlangten niedrigere Unternehmenssteuern, geringere Sozialausgaben, flexiblere Arbeitsbedingungen und die gezielte Förderung von Selbständigen und Mittelstand.

Von den französischen Sozialisten wurde dieses Papiers in zweierlei Hinsicht als Provokation empfunden.

Es erschien unmittelbar vor der Europawahl und kam damit ihrer eigenen Wahlpropaganda in die Quere. Die französischen Sozialisten waren 1997 aufgrund der weitverbreiteten Opposition gegen die Sparpolitik von Jospins konservativem Vorgänger Alain Juppé an die Macht gelangt und hatten sich seither stets bemüht, ein linkes Gesicht zu wahren, auch wenn sich ihre praktische Politik nicht all zu sehr von jener Blairs unterschied.

Noch schwerer wog aber die außenpolitische Signalwirkung des Papiers. Es wurde in Paris als Annäherung Deutschlands an England auf Kosten der Zusammenarbeit mit Frankreich interpretiert. Die Achse Berlin-Paris ist aber grundlegend für die Strategie der französischen Sozialisten, die Europa stärken wollen, um die wirtschaftliche und politische Dominanz der USA zurückzudrängen. Vor allem Oskar Lafontaine hat diesen Aspekt des Schröder-Blair-Papiers hervorgehoben. In seinem Buch "Das Herz schlägt links" schreibt er in diesem Zusammenhang: "Kein Land ist so auf den Fortschritt der europäischen Einigung angewiesen wie Deutschland. Wir können die europäische Einigung nur im Zusammenwirken mit Frankreich vorantreiben. Großbritannien wird auf absehbare Zeit nur eine Sonderrolle spielen."

Im Oktober veröffentlichten die französischen Sozialisten unter dem Titel "Auf dem Weg zu einer gerechteren Welt" ihre Antwort auf das Schröder-Blair-Papier. Sie beschwören darin die sozialdemokratische Tradition, die Identifikation mit Demokratie und sozialem Fortschritt und sogar den "Kampf gegen den Kapitalismus". Die Marktwirtschaft sei zwar in der Lage, unvergleichlich viel Reichtum zu schaffen, sie sei aber auch ungerecht und häufig irrational. Man bejahe die Marktwirtschaft, nicht aber die Marktgesellschaft. Eine menschliche Gesellschaft müsse das Ziel haben, Ungleichheiten jeder Art zu verringern. Der Markt müsse in die Schranken gewiesen und globale Regeln aufgestellt werden: "Je globaler die Welt, desto mehr Regeln werden nötig."

Der Unterschied zwischen dem Jospin-Papier und dem Schröder-Blair-Papier liegt zwar mehr im Ton als in der Substanz. Auch die französischen Sozialisten treten für eine Steuerpolitik ein, die für die Unternehmen ein günstiges Umfeld schafft, oder befürworten die Förderung eines privaten Dienstleistungs-, sprich Billiglohnsektors. Trotzdem setzen sie deutlich andere Akzente.

Doch auf dem Kongress fand keine Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Konzepte und keine politische Klärung statt. Statt dessen erstellte ein Ausschuss unter Vorsitz des früheren spanischen Ministerpräsidenten Gonzalez eine "Synthese" der beiden Dokumente, in der die gegensätzlichen Standpunkte verbal verkleistert und in nebulöse Phrasen aufgelöst werden. Selbst bürgerliche Kommentatoren sprachen von "dehnbaren Formulierungen" und "Kautschukformeln".

Was schließlich als "Deklaration von Paris" das Licht der Welt erblickte, ist ein Dokument der Ratlosigkeit angesichts weltweiter Veränderungen, die in dem Dokument selbst anschaulich beschrieben werden. "Die Menschheit", lauten die ersten Sätze, "erlebt den Übergang in eine neue Ära, die durch das Phänomen der Globalisierung gekennzeichnet ist. Die Verwandlung der Industriegesellschaft in eine Informations- und Wissensgesellschaft findet in einem Tempo und in einem Ausmass statt, die bei früheren historischen Veränderungen unbekannt waren."

Die Sozialistische Internationale ist unfähig, auf diese globale Herausforderung eine gemeinsame Antwort zu geben. Sie beschwört zwar gemeinsame Begriffe oder "Werte" wie Solidarität, Gerechtigkeit und Fortschritt. Aber was damit gemeint ist, wird in jedem Land anders interpretiert.

"Jede unserer Parteien strebt nach Modernität, jede tut es auf ihre Art, jede mit ihren eigenen Bezügen, ihrer eigenen Geschichte und politischen Kultur. Und das ist gut so," erklärte Jospin in seiner Eröffnungsrede. Schröder ergänzte, dass die Sozialisten zwar die selben Werte anstrebten, jedoch auf unterschiedlichen Wegen. Der Sozialismus sei kein "Glaubensgebäude" mehr und das Erfolgsgeheimnis der Linken liege gerade in ihren verschiedenen nationalen Ansätzen.

Anders ausgedrückt, jede Sektion dieser sogenannten Internationale tut was sie will, passt sich an die nationalen Bedingungen an und reagiert pragmatisch auf den Druck der führenden Finanz- und Wirtschaftskreise. Von einer gemeinsamen politischen Linie kann noch nicht einmal in Ansätzen die Rede sein. Sie ist, wie ein Zeitungskommentar bemerkte, nichts weiter als eine "informelle Kontaktbörse der internationalen Politik". Zu einer Antwort auf die brennenden sozialen und politischen Probleme, mit denen heute weltweit Millionen von arbeitenden Menschen konfrontiert sind, erweist sie sich dagegen als untauglich.

Trotz der Anpassung an die nationalen Bedingungen - oder gerade wegen dieser Anpassung - sieht die Politik der verschiedenen sozialdemokratischen Parteien immer ähnlicher aus. Die Globalisierung lässt keinen Spielraum für soziale Zugeständnisse im nationalen Rahmen, und die Verteidigung des nationalen Interesses im globalen Konkurrenzkampf bringt die Sozialdemokraten unweigerlich dahin, dass sie dieselbe Politik wie ihre konservativen Gegner vertreten: Sparprogramme, Sozialabbau und Flexibilisierung. Die französischen Sozialisten bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme. "Was so verschieden klingt, ist sich im Alltag ziemlich ähnlich", kommentierte ein Teilnehmer des Kongresses.

Mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten Antonio Guterres wählte der Kongress einen neuen Vorsitzenden. Er löste den Franzosen Pierre Mauroy ab, der 1992 die Nachfolge von Willy Brandt angetreten hatte. Brandt selbst hatte 16 Jahre lang an der Spitze der Sozialistischen Internationale gestanden.

Guterres personifiziert den opportunistischen Charakter der Organisation, der er jetzt vorsteht. Der überzeugte Katholik und Abtreibungsgegner begann seine Karriere in der katholischen Studentenbewegung und trat 1974, unmittelbar nach dem Sturz der Salazar-Diktatur, in die Sozialistische Partei ein. Dort galt er als Mann des rechten Flügels. 1995 wurde er erstmals zum Premierminister gewählt. Mittels einer liberalen Wirtschaftspolitik schuf er die Voraussetzungen für Portugals Beitritt zur Europäischen Währungsunion. Im Ost-Timor-Konflikt setzte er sich intensiv für die Interessen der ehemaligen Kolonialmacht Portugal ein.

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