Das Scheitern des Referendums in Italien

Am 22. Mai fand in Italien eine wichtige Abstimmung über sechs Volksentscheide statt. Doch alle Initiativen scheiterten, da das erforderliche Quorum von 50 Prozent registrierter Wähler nicht zustande kam. Nur 32 Prozent der Stimmberechtigten gingen zur Urne. Trotzdem kennzeichnet dieses Ereignis möglicherweise einen bedeutsamen Moment in der Entwicklung der italienischen Politik. Es gibt uns die Gelegenheit, einen Blick auf ihre andauernde Krise zu werfen.

Die sechs Fragen, die den Wählern zur Abstimmung vorlagen, waren breit gestreut. Die drei wichtigsten Initiativen betrafen das Wahlrecht, das Arbeitsrecht und die Finanzierung der Gewerkschaften.

Die erste Initiative sollte das alte Wahlgesetz durch ein reines Mehrheitswahlrecht ersetzen. Bisher - und nach dem Scheitern des Referendums auch in absehbare Zukunft - werden noch 25 Prozent der parlamentarischen Sitze auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts zugeteilt.

Die zweite Initiative hätte die Streichung des Artikel 18 aus dem "statuto dei lavoratori" zur Folge gehabt, das den allgemeinen Rahmen des Arbeitsrechts und die Rechte der Arbeiter festlegt. Artikel 18 sichert den Anspruch eines unrechtmäßig entlassenen Arbeiters eines Betriebes mit mehr als 15 Beschäftigten auf Wiedereinstellung.

Die dritte Initiative hatte zum Ziel, dass der Gewerkschaftsbeitrag nicht automatisch von der Rente abgezogen werden kann. Diese Initiative war rechtlich umstritten, da ein solcher Abzug in Italien nicht allgemeine Praxis ist.

Die italienischen und ausländischen Medien kommentierten das Scheitern der Volksentscheide mit verächtlichen Platitüden, wie dass "die meisten Italiener wie üblich die Nase voll von Politik" hätten und der Volksentscheide "müde" seien. So Alessandra Stanley in der New York Times, die den Lesern versicherte, dass das Scheitern der Volksentscheide nicht notwendigerweise darauf hindeute, dass die Italiener in Opposition zu den vorgeschlagenen Maßnahmen stünden.

Das ist jedoch eine oberflächliche und fehlerhafte - wenn auch vorhersehbare - Einschätzung der politischen Fragen, die direkt und indirekt durch die Abstimmung aufgeworfen werden. Sie werfen ein grelles Licht auf das Ausmaß der Degeneration der italienischen Linken und auf den undemokratischen und arbeiterfeindlichen Charakter der gegenwärtigen, vielgelobten "Reform"periode.

Es ist bezeichnend, wer die Volksentscheide initiiert und unterstützt hat. Am meisten bemühte sich die Radikale Partei darum, eine kleine, aber lautstarke Gruppe ehemals linker Radikaler. Ihr politischer Niedergang hat jetzt den Punkt erreicht, an dem sie offen die freie Marktwirtschaft verherrlichen.

Erwartungsgemäß unterstützte der Unternehmerverband Confindustria, die Interessenvertretung des italienischen Industrie- und Finanzkapitals, die Vorschläge im sozialen Bereich. Seine Zeitung, Sole 24 Ore -das italienische Äquivalent des Wall Street Journals - begrüßte die Initiativen begeistert.

Die regierenden Linksdemokraten (DS) unterstützten das Referendum zum Wahlrecht, während sie die eindeutig reaktionäre Änderung des Arbeitsrechts halbherzig ablehnten.

Der Oppositionsführer, der Plutokrat Silvio Berlusconi, forderte die Wähler auf, zu Hause zu bleiben, obwohl er über die angestrebte Zersschlagung von Arbeiterrechten nicht unglücklich war. Berlusconi verfolgte diese Taktik, um der Mitte-Links-Regierung einen weiteren Schlag zu versetzen, nachdem die DS bei den jüngsten Regionalwahlen eine herbe Niederlage hatte einstecken müssen. Berlusconis Verbündete dagegen, die neo-faschistische Nationale Allianz (AN) und der rechte Flügel des katholischen Zentrums, unterstützten die Volksentscheide.

Die drei wichtigsten italienischen Gewerkschaften sowie die Stalinisten (Rifondazione Comunista und Comunisti Italiani) lehnten die Volksentscheide ab. Statt die italienische Arbeiterklasse zu mobilisieren, formulierten die Gewerkschaften ihre Opposition vorsichtig mit engen und unpolitischen Begriffen, während die Stalinisten die Abstimmung als Chance betrachteten, die Mitte-Links-Regierung ein klein wenig nach links zu drücken.

Auf den ersten Blick erscheint das Abstimmungsergebnis als Erfolg Berlusconis und lediglich als kleine Delle auf dem Weg der Wahlrechts- und Gesellschafts"reformen", die als unvermeidlich dargestellt werden. Man muss aber das Ergebnis im Zusammenhang mit dem allgemeinen politischen Charakter dieser Reformen betrachten.

Der Volksentscheid zum Wahlrecht war nur die letzte Episode in einer anhaltenden Serie von Reformen, die darauf abzielen, ein "bipolares" politisches System zu schaffen. In solch einem System würden zwei Parteien aus dem Zentrum in der Lage sein, die gesamten Wählerstimmen auf sich zu vereinigen und die "extremen" Enden des politischen Spektrums auszublenden. Dies hätte politische Debatten im amerikanischen Stil zur Folge, bei denen viele wichtige und bedeutungsvolle politische Fragen als indiskutabel gelten. Dieses System, bekommen wir zu hören, sei die beste institutionelle Garantie für "Stabilität" - was immer die Bewahrung des ökonomischen und sozialen Status Quo bedeutet.

Es ist schon fraglich, ob ein normales Mehrheitswahlrecht als demokratisch bezeichnet werden kann, da die relative Zusammensetzung der Legislative in der Regel stark vom Wählerwillen abweicht. Das Wahlsystem, das bei einem Erfolg des Volksentscheids in Kraft getreten wäre, wäre jedoch alles andere als normal gewesen. Aufgrund der bereits geltenden Wahlverfahren wäre ein derart undemokratisches System entstanden, dass es (dem italienischen Politikwissenschaftler Roberto D`Alimonte zu Folge) möglich gewesen wäre, mit absoluter Gewissheit die Anzahl der Sitze von Mitte-Rechts in der nächsten Wahl vorherzusagen.

Die beiden wichtigsten Stützen der kapitalistischen Ordnung Italiens - Berlusconis Forza Italia und die DS - haben hinsichtlich der Wahlreform bisher nur Gezänk und Misserfolge vorzuweisen. Die Streitigkeiten zwischen den beiden beruhen nicht auf einer grundlegenden Unstimmigkeit über das "bipolare" Ergebnis, sondern auf rein taktischen Überlegungen sowie der Opposition der kleineren Parteien. Die Mitte-Links-Regierung will aber trotz des ungünstigen Abstimmungsergebnisses noch in dieser Legislaturperiode an einer Wahlrechtsreform festhalten.

Die Volksentscheide über soziale Fragen waren nur die bisher letzte Runde von Angriffen auf die politischen und sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse Italiens. Die DS, die größte politische Organisation, die sich aus der Asche der alten Kommunistischen Partei Italiens erhoben hatte, stand an der Spitze dieser "Reformen".

Nicht zufällig wurden die jüngsten und fortgesetzten Angriffe auf den "Sozialstaat" - in Italien wie den meisten westlichen Ländern - nicht von offenen reaktionären Kräften durchgeführt, sondern von jenen "linken" Parteien, die in der Arbeiterklasse noch bis zu einem gewissen Grad als "fortschrittlich" gelten. Im Hinblick auf diesen Zusammenhang hat die DS alle politischen Diskussionen mit dem Zauberwort "Flexibilität" überschwemmt. Dieses Etikett dient lediglich als Feigenblatt für eine Serie von reaktionären Maßnahmen, die weitreichende Privatisierungen, tiefe Einschnitte im Gesundheits- und Rentensystem, die Eliminierung der Lohnangleichung an die Inflationsrate bis hin zur Aufgabe der Arbeitsplatzregelung umfassen.

Es ist möglich, das Scheitern des Referendums als kraftvolle, wenn auch größtenteils stille Opposition zu diesen politischen Entwicklungen zu interpretieren. Dies trifft insbesondere für die Initiative zur Streichung des Kündigungsschutzes zu. Dies war die einzige Frage, in der die Zahl der Nein-Stimmen überwog, und zwar mit großer Mehrheit.

Fast 10 Millionen Wähler wiesen diese Initiative zurück, und darin ist die unbekannte Anzahl von Personen nicht enthalten, die mit "Nein" stimmten, indem sie einfach zu Hause blieben. Beim "Anti-Gewerkschafts"-Volksentscheid überwogen dagegen die Ja-Stimmen bei weitem. Viele Abstimmungsteilnehmer, die für die Erhaltung der Arbeiterrechte stimmten, äußerten so gleichzeitig ihre Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften.

Wie im Fall der Wahlrechtsreform sollen jetzt, angesichts des Referendumsdebakels, die "Reformen" im sozialen Bereich sogar noch schamloser durchgesetzt werden. Da durch den Volksentscheid nichts erreicht wurde, kamen nur einen Tag nach der Niederlage derselben die Confindustria mit den drei größten Gewerkschaften zusammen, um sich über "flexible Entlassungen"- die Freiheit, Arbeiter beliebig zu entlassen - zu verständigen. Nur die Opposition einer Gewerkschaft in allerletzter Minute verhinderte eine schnelle Übereinkunft.

Zusammengefasst entlarvt das Ergebnis der Volksentscheide die Arroganz der herrschende Klasse, die liebend gern gesehen hätte, wie die italienischen Arbeiter glücklich für die Verschlechterung ihrer eigenen politischen und sozialen Bedingungen stimmen. Es hat langfristig die Krise der italienischen Linken vertieft und kurzfristig den bereits kritischen Zustand der Mitte-Links-Regierung.

Auch wenn das unmittelbare Ergebnis der Abstimmung nur willkommen geheißen werden kann, bleiben die sozialen und politischen Fragen, mit denen die Arbeiterklasse in Italien konfrontiert ist, dringend und ungelöst. Die bestehenden politischen Kräfte - angefangen bei den Politikern der ehemaligen Kommunisten Partei und den Radikalen über die Stalinisten hin zur Gewerkschaftsbürokratie - zeigen keine Lösung auf. Ihr Anspruch, die Interessen der Arbeiter zu repräsentieren, ist unhaltbarer denn je zuvor. Ein prinzipieller und effektiver Kampf gegen die jetzige Krise erfordert die Wiederbelebung einer revolutionären, internationalistischen und sozialistischen Perspektive durch die Arbeiterklasse und deren politische Unabhängigkeit.

Siehe auch:
Reform des italienischen Wahlrechts gescheitert
(21. April 1999)
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