Teilautonomie für Korsika spaltet französische Regierung

Die französische Regierung befindet sich in einer Zerreißprobe: Jean-Pierre Chevènement, der Innenminister, hat heute seinen Rücktritt bekanntgegeben, weil er mit der Korsika-Politik des sozialistischen Regierungschefs Lionel Jospin nicht einverstanden ist.

Lionel Jospin verfolgt seit einigen Monaten das Projekt einer Teilautonomie für Korsika. Am 13. Dezember 1999 hatte er zum ersten Mal alle Repräsentanten politischer Parteien der Insel auf seinen Regierungssitz Matignon in Paris eingeladen, um die Zukunft Korsikas zu diskutieren. Neben dem liberaldemokratischen korsischen Präsidenten José Rossi war auch dessen Stellvertreter und Europabeauftragter, Jean-Guy Talamoni, dabei, der gleichzeitig Vorsitzender von Corsica Nazionale ist, dem politischen Arm des "FLNC-Canal historique", einer bewaffneten Separatistenorganisation im Untergrund. Die Bilder dieses Treffens erregten Aufsehen in Frankreich, denn bis dahin hatte sich kein französischer Regierungschef in der Öffentlichkeit mit korsischen Separatisten getroffen.

Seither hat Jospin sein Programm für eine Teilautonomie auf Korsika vorgelegt, das eine Übergangslösung bis 2004 vorsieht. 2004 soll eine Verfassungsänderung der Insel, die seit 1797 zu Frankreich gehört, mehr Selbstbestimmung gewähren, unter dem Vorbehalt, dass bis dahin die Terrorakte aufhören. Das korsische Territorialparlament wird selbständig französische Gesetze bezüglich Infrastruktur, Wirtschaft, Tourismus, Sport und Schulen abändern oder entsprechend neue Gesetze erlassen können, die jedoch bis 2004 noch der nachträglichen Zustimmung durch Paris unterliegen. Die korsische Sprache wird mit der französischen gleichgestellt und vom ersten Schuljahr an gelehrt. Die schon bisher weitreichenden steuerlichen Begünstigungen, zum Beispiel die traditionelle Befreiung von der Erbschaftssteuer, behalten weiterhin ihre Gültigkeit.

Während das korsische Territorialparlament diesen Vorschlägen Ende Juli mit einer achtzigprozentigen Mehrheit zustimmte, mehrten sich die kritischen Stimmen in Paris nicht nur in den oppositionellen gaullistischen Parteien, sondern auch im Regierungslager. Vor allem Chevènement zieht entschlossen gegen das Projekt zu Feld, wobei er von mehreren Mitgliedern der Regierung unterstützt wird.

Chevènement, der als Innenminister für die Regionen, also auch für Korsika zuständig ist, sieht durch das Zugeständnis größerer regionaler Selbständigkeit die Souveränität des französischen Zentralstaats gefährdet. Ein Präzedenzfall könnte geschaffen werden, und das sei "so ansteckend wie der Computervirus I Love You", erklärte er. Er fürchtet ähnliche Autonomiebestrebungen auch seitens der französischen Basken und Katalonen, von der Bretagne, dem Elsass und sogar von Savoyen.

Chevènement ist eine der wichtigsten Stützen für die Jospin-Regierung. Als "linker" Euro-Skeptiker ist er wichtig, um eine ganze Wählerschicht bei der Stange zu halten. Er ist Parteivorsitzender des "Mouvement des Citoyens" (Bürgerbewegung, MDC), die sich 1992 aus Opposition gegen den Vertrag von Maastricht von der Sozialistischen Partei abgespalten hatte. Er war bereits früher zweimal, 1983 als Industrieminister und 1991 als Verteidigungsminister zurückgetreten. 1991 war der Grund seine Opposition gegen den Golfkrieg, das er als rein amerikanisches Unternehmen betrachtete, das den französischen Interessen zuwiderlaufe.

Jospins Teilautonomieplan

Während Chèvenement eine Aufweichung des französischen Zentralstaats durch zunehmende Autonomiebestrebungen der Regionen fürchtet, hofft Jospin, durch beschränkte Zugeständnisse an die korsischen Separatisten deren Aktivitäten eindämmen zu können.

Ein knappes halbes Jahr nachdem Jospin das Amt des Premierministers übernommen hatte, war am 6. Februar 1998 der französische Präfekt auf der Insel, Claude Erignac, erschossen worden. Der Staat reagierte mit äußerster Härte. Als neuer Präfekt wurde Bernard Bonnet, ein Offizierssohn und "energischer Republikaner", eingesetzt, der eine eigene, neue Polizeielitetruppe (GPS) schuf und einen regelrechten Privatkrieg entfesselte, um den "Rechtsstaat" mit allen, notfalls auch illegalen Mitteln wiederherzustellen.

Als am 20. April 1999 ein ohne Genehmigung errichtetes Strandrestaurant angezündet wurde und die Spuren direkt zum Präfekten selbst führten, wurde Bonnet, der bis zu diesem Zeitpunkt Jospins volle Unterstützung genoss, unhaltbar - er wanderte ins Gefängnis. Diese Affäre erschütterte die Autorität des französischen Staats auf Korsika mehr als je zuvor und Jospin musste inmitten des Europawahlkampfs in der Pariser Nationalversammlung ein Misstrauensvotum abwehren.

Nun wurden zwei Berichte in Auftrag gegeben, ein Bericht vom Senat und einer vom Parlament, um die politischen Zustände auf der "Schönen Insel" und die Auswirkungen von Frankreichs Korsikapolitik unter die Lupe zu nehmen. Beide Berichte kamen zum Schluss, dass der französische Staat auf Korsika schwere Fehler begangen habe. Sie warfen insbesondere den gaullistischen Ministern Debré und Balladur vor, sie hätten durch Geheimverhandlungen mit den Separatisten und durch Günstlingswirtschaft mit zur Eskalation der Gewalt beigetragen. Die Verwicklung hochrangiger französischer Politiker in Mafiamethoden wie Mord, Drogenhandel und Geldwäsche wurde angesprochen.

An diesem Punkt ergriff Jospin die Initiative zu einer neuen Lösung der "Korsikafrage", lud die Repräsentanten der Insel zu den Matignon-Gesprächen ein und entwickelte sein Teilautonomieprojekt.

Um Kritiker wie Chevènement zu beschwichtigen, geht der Premier in der Korsikafrage eine Gratwanderung: In einem Artikel in der Zeitung Le nouvel observateur verteidigte er jüngst sein Projekt und versicherte, im Grund werde sich für Frankreich nichts Wesentliches ändern. Die Maßnahmen seien nicht auf andere Regionen anwendbar. Eine Amnestie für Terroristen, wie die Mörder des Präfekten Erignac, schloss er aus.

Gleichzeitig darf er die labile Zusammenarbeit der korsischen Nationalisten mit seinem Korsikaprojekt aber nicht aufs Spiel setzen. Auch von dieser Seite droht dem Projekt Opposition. Unmittelbar nach der Annahme der Vorschläge im Territorialparlament kam es zu einer neuen Welle von Anschlägen.

Am 7. August wurden der ehemalige Nationalistenführer Jean-Michel Rossi und sein Leibwächter in ihrem Stammcafé in L'Ile-Rousse erschossen. Nur einen Tag vorher, am Sonntag, den 6. August, fand in Corte, der "historischen Kapitale Korsikas", die sogenannte "Sommeruniversität" der Nationalisten statt. Hier wurden Jospins Vorschläge als Errungenschaft des bewaffneten Kampfs gefeiert. Sie wurden als erster Schritt auf dem Weg zur vollständigen Lostrennung Korsikas aufgefasst und mit der Forderung einer allumfassenden Amnestie verknüpft.

Dem Attentat auf Jean-Michel Rossi folgten weitere Anschläge: Im Hof der Korsischen Agentur für Wirtschaftsentwicklung in Ajaccio explodierte eine Autobombe, und wenige Tage später wurde das Gebäude der Unterpräfektur in Sardène von einer Rakete getroffen. Obwohl es für diese und einige weitere Anschläge keine Bekennerschreiben gab und der seit Dezember 1999 geltende Waffenstillstand nicht offiziell aufgekündigt wurde, geht man nach ersten Festnahmen davon aus, dass die Anschläge von korsischen Separatisten verübt wurden, die mit den Teilautonomievorschlägen nicht einverstanden sind.

Der korsische Separatismus

Die korsischen Separatisten sind in rivalisierende Cliquen zerspalten und haben durch ihre hohe Kriminalität einen großen Teil ihres Einflusses in der Bevölkerung verspielt.

Ihre jüngere Geschichte begann mit der Gründung des FNLC (Front de libération nationale corse - Korsische Nationale Befreiungsfront) im Jahr 1976. Ihr war ein Konflikt korsischer Weinbauern mit den "Pieds-noirs" vorausgegangen, den ehemaligen französischen Siedlern in Nordafrika, die sich teilweise in Korsika niedergelassen hatten, nachdem Frankreich sich 1962 aus Algerien hatte zurückziehen müssen. Aus Protest gegen deren bevorzugte Behandlung hatten korsische Bauern unter Führung von Edmond Siméoni 1975 ein Weingut in Aléria besetzt, worauf es zu blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Die Gründung des FNLC erfolgte in Anlehnung an die gegen Frankreich gerichtete, algerische Befreiungsfront FNL. 1989 wurde die bewaffnete Untergrundorganisation FNLC-Canal historique gegründet.

Seit Beginn der neunziger Jahre degenerierten die korsischen Nationalisten schnell. Es kam zu internen Kämpfen um die sogenannte "Revolutionssteuer", eine Finanzquelle, die oftmals durch bewaffneten Raub und Banküberfälle eingetrieben wird. Die erbeuteten großen Geldsummen werden in Immobilien, auch in Spielhöllen, von Italien bis Afrika angelegt. Es werden Mafiageschäfte mit Waffen und Drogen sowie Geldwäsche praktiziert. Durch Korruption werden hochrangige Politiker auch auf dem Festland in die Beziehungsnetze der Separatisten eingegliedert. 1995 wurde auf Korsika durchschnittlich jeden Tag ein Attentat verübt, und auch auf dem französischen Festland kam es zu einer Anschlagserie, die acht Tote und 159 Verletzte forderte.

Im Verlauf der neunziger Jahre liefen den Separatistengruppen die meisten Kämpfer aus der Anfangszeit weg und wurden durch schlimme kriminelle Elemente ersetzt. Jean-Michel Rossi, der Anfang August ermordete ex-Führer der Separatistenorganisation "A Cuncolta", der vor wenigen Jahren aus dem bewaffneten Kampf ausgestiegen war, hatte einen Tag vor seiner Ermordung in einem Interview für die Wochenzeitung Marianne erklärt: "Auf die Studenten, Bauern und Lehrer der siebziger Jahre folgte ein Lumpenproletariat, dem man sich wohl hüten musste, das mindeste politische Bewusstsein zu vermitteln." Über den heutigen Zustand erklärte er, die Bewegung habe "weder Kopf, noch Kader, noch ein zusammenhängendes und glaubwürdiges Projekt". Ihre Basis sei "zu jedem Abenteuer bereit."

Auch die sogenannten "linken" Separatisten von "A Manca Naziunale", die von der "Ligue communiste révolutionnaire" (Revolutionäre Kommunistische Liga - LCR) Alain Krivines unterstützt werden, bieten keine fortschrittliche Perspektive. In der LCR-Zeitung Rouge werden sie als "patriotische Linksbewegung" vorgestellt. Ihr Vertreter Serge Vandepoorte kritisiert dort, Jospin habe das wirkliche Ziel einer "Dekolonialisierung" Korsikas verfehlt. "Die nationalen Rechte des korsischen Volkes müssen anerkannt werden!" fordert "A Manca Naziunale" in ihrem Programm.

Ein Zugeständnis an bürgerliche Cliquen

Keine einzige der korsischen Separatistengruppen stellt eine fortschrittliche Kraft dar. Sie vertreten die Ziele der rivalisierenden bürgerlichen und kleinbürgerlichen Cliquen, die durch die französische Dominanz auf der Insel ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen beeinträchtigt sehen. An sie richtet sich der Teilautonomieplan Jospins.

Für die Masse der Bevölkerung wird dieser Plan dagegen keine Verbesserung bringen. Trotz der ständigen hohen Subventionen leben die meisten Korsen in großer Armut. Die Insel, die nach wie vor hauptsächlich vom Tourismus und vom Lebensmittelexport lebt, stand im August 1998 gemessen am Pro-Kopf-Einkommen an 143. Stelle von 196 europäischen Regionen. 95 Prozent aller korsischen Betriebe haben weniger als zehn Arbeitnehmer. Bei einer Gesamtzahl von 250.000 Einwohnern kommen auf 100.000 Berufstätige 15.000 Arbeitslose und 30.000 Beschäftigte mit "prekärem", d.h. niedrig bezahltem oder befristetem Arbeitsplatz.

Frühere Autonomiezugeständnisse haben an diesem Zustand nichts geändert, ja die soziale Polarisierung eher noch verschärft.

So hatte nach einer Welle von Attentaten bereits Alain Juppé, der Vorgänger Jospins im Regierungsamt, Korsika Anfang 1997 zur "Zone Franche", zur steuerlich begünstigten Freihandelszone erklärt. Diese Regelung, die bis Ende 2001 weiterläuft, befreit eine große Zahl korsischer Unternehmer von der Gewerbesteuer und von den Sozialabgaben. Das Territorialparlament stimmte der "Zone Franche" mit knapper Mehrheit (26 gegen 24 Stimmen bei einer Enthaltung) zu. Daraufhin konnten im ersten Jahr allein die Unternehmer der nordkorsischen Stadt Bastia 36 Millionen Francs Steuerersparnisse verbuchen.

Die Regierung Jospin hat diese Steuervorteile für korsische Unternehmen nicht angetastet. Sie erwiesen sich als wesentlich attraktiver als die Zugeständnisse, die mit der von ihr eingeführten 35-Stunden-Woche verbunden sind. Von den 360 Unternehmen, die auf Korsika dafür in Frage kämen, haben daher nur 13 die 35-Stunden-Woche eingeführt. 1998 konnte die korsische Wirtschaft eine Steuererleichterung von 250 Mio. Francs verbuchen.

Es zeichnet sich bereits ab, dass die Territorialversammlung ihre erweiterten Befugnisse nutzen wird, um dem freien Markt weiter zum Durchbruch zu verhelfen, auch wenn es gegen die Lebensinteressen der Bevölkerung geht.

Dies zeigt der Konflikt um die Privatisierung der korsischen Seeschifffahrt. Am 1. Januar 2001 werden die staatlichen Schiffslinien zwischen Korsika und dem Kontinent SNCM (Société nationale Corse-Méditerranée) und CMN (Compagnie méridionale de navigation) für private Investoren freigegeben. Aus diesem Grund haben im Mai die Belegschaften der Schiffslinien schon zum dritten Mal in fünf Monaten gestreikt, da von 2.500 Arbeitsplätzen im Zuge der Privatisierung 700 wegfallen werden. In ihrem Arbeitskampf standen die korsischen Seeleute Seite an Seite mit ihren Kollegen aus Marseille, von denen die Initiative für den Streik ausgegangen war.

Auch ein Streik bei den Luftfahrtgesellschaften im vergangenen Dezember, ebenfalls gegen die Auswirkungen der Privatisierung, zeigte dasselbe Bild: Die betroffene Fluglinie CCM (Compagnie aérienne Corse Méditerranée) gehört zu sechzig Prozent der Territorialversammlung und ist faktisch in der Hand von korsischen Nationalisten, die sie nach der Liquidation von Air France auf Korsika neu gegründet haben. Die streikenden 476 CCM-Beschäftigten und 150 Angestellten von Air France erhielten Unterstützung von den Seeleute der SNCM und CMN.

Schon anhand dieser beiden Ereignissen wird deutlich, dass die Förderung der Autonomiebestrebungen auch dem Zweck dient, die Solidarität zwischen korsischen und französischen Arbeitern zu unterhöhlen, die ihre Interessen nur gemeinsam verteidigen können.

Die geplante korsische Selbstverwaltung unter Führung der Nationalisten droht auch ethnische Spannungen zu provozieren. Dies wurde spätestens deutlich, als im Hauptquartier der Separatistenpartei "Conculta" Zukunftspläne erörtert wurden. Großzügig erklärten die "Conculta"-Führer, jene Hälfte der Inselbewohner, die keine korsische Abstammung hätten, könnten auch in Zukunft auf der Insel bleiben, sofern sie sich "in die korsische Schicksalsgemeinschaft" einfügten.

Jospins Entgegenkommen gegenüber den korsischen Separatisten hat also wenig mit einem Zugeständnis an die korsische Bevölkerung zu tun. Wenn er dafür eine Krise in der eigenen Regierung in Kauf genommen hat, dann vor allem deshalb, weil die Situation auf Korsika für den französischen Staat unhaltbar geworden ist.

Der Staat unterhält umfangreiche Sicherheitstruppen auf der Insel, vom einfachen Polizisten bis zur paramilitärischen CRS (Compagnie républicaine de sécurité) und zum Geheimdienst. Auf Korsika kommt ein Polizist auf 241 Einwohner, während der nationale Durchschnitt bei einem Polizeibeamten pro 437 Einwohner liegt. Die Gendarmerie, das Kernstück der Staatspräsenz auf der Insel, hat sogar doppelt so viele Beamte pro Einwohner im Einsatz wie auf dem Festland - und das alles, obwohl Korsika in Bezug auf "gewöhnliche" Delikte keineswegs zum "sensiblen Bereich" zählt.

Für den Staat und die korsische und französische Bourgeoisie kann es so nicht weitergehen. Instabilität infolge terroristischer Aktivitäten sowie die Tatsache, dass die massiven Subventionen aus Paris und Brüssel in den Kanälen der rivalisierenden Cliquen versickern, gelten als negative Standortfaktoren. Sie sind einfach nicht mehr haltbar.

Chevènement dagegen befürchtet, dass ein Nachgeben gegenüber den korsischen Separatisten die Autorität des Staates auch in Frankreich selbst schwächen könnte, wo er immer stärker unter den Druck sozialer Proteste gerät.

Siehe auch:
35-Stunden-Woche in Frankreich - oder wie eine progressive Idee bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird
(15. Februar 2000)
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