Das Finanzdebakel bei der Deutschen Bahn

Der Börsengang der Deutschen Bahn AG im Jahre 2004 ist vom Tisch. Wer allerdings diese Ankündigung des Vorstandsvorsitzenden, Hartmut Mehdorn, als Zeichen für einen bedächtigeren Umgang bei der Umwandlung des größten noch bestehenden Staatsunternehmens in ein rein privatwirtschaftliches missversteht, weil der Druck der Börse scheinbar weggefallen ist, der wird in den nächsten Jahren bittere Enttäuschungen erleben. In Wirklichkeit ist dies die Formel des Bahnvorstandes und der Regierung dafür, dass sie auf dem Weg zur Börse einen höheren Gang einlegen wollen.

Anlass für diese Entscheidung ist das nicht mehr zu verschleiernde Desaster bei der Deutschen Bahn. Obwohl seit 1994 mit insgesamt 203 Milliarden Mark öffentlicher Gelder versehen, war sie weder in der Lage, sich zu einem gewinnträchtigen Privatunternehmen zu mausern, noch den Schein eines dem öffentlichen Nutzen dienenden Versorgungsbetriebs aufrecht zu erhalten, geschweige denn, sich als Alternative zum Straßenverkehr zu empfehlen, der seinerseits einem Kollaps entgegenrast.

Der Zustand der Bahn

Seit Anfang November jagt eine Schreckensmeldung über zu erwartende Verluste die nächste. Ging das Bahnmanagement noch im letzten Jahr in seinen Planzahlen von einer jährlich steigenden Gewinnerwartung aus, die beginnend bei 1,2 Milliarden Mark in diesem Jahr 4,2 Milliarden Mark im Jahr 2004 erreichen sollte, so klärte der diesjährige Bericht an das Verkehrsministerium darüber auf, dass in den kommenden Jahren Verluste bis zu 1,2 Milliarden Mark jährlich zu erwarten sind. In der Summe wird die Bahn in den nächsten fünf Jahren etwa 20 Milliarden Mark weniger einbringen, als sie noch vor einem Jahr glauben machen wollte. Die Unternehmensberaterfirma McKinsey schätzt die Gesamteinbuße sogar auf 30 Milliarden Mark.

Begründet werden diese Zahlen mit der Notwendigkeit, die über Jahrzehnte hinweg vernachlässigte Infrastruktur der Bahn auf Vordermann zu bringen. Und wahrlich, die Berichte über ihren gegenwärtigen Zustand vermitteln dem Leser das Gefühl, in einem Geschichtsbuch zu blättern.

Schienennetz und Gütertechnik gelten als hoffnungslos veraltet. Von den existierenden 37.500 Schienenkilometern sind 400 Kilometer wegen technischer Mängel vollständig gesperrt. Über 2000 Langsamfahrstellen zwingen die Züge, ihre Fahrt bis zur Schrittgeschwindigkeit zu reduzieren, weil der Zustand der Gleise ein höheres Tempo nicht mehr verkraftet. 80 Prozent der Stellwerke wurden vor 1960 gebaut, viele werden noch heute von Hand bedient.

Zur Überwindung von Tälern, Flüssen und Straßen wurden für die Eisenbahn 32.000 Brücken gebaut, jede zweite davon allerdings schon vor 75 Jahren. Zwei Drittel der 740 Tunnel wurden gegraben, als Deutschland noch einen Kaiser hatte. Sie stammen aus dem 19. Jahrhundert.

Auf den Gleisen sieht es nicht besser aus. Lokomotiven und Waggons im Güterverkehr sind zwischen 30 und 40 Jahren alt. Kein Wunder also, dass der Gütertransport im heutigen Deutschland Schwierigkeiten hätte, ein Rennen gegen die Postkutschen von einst zu gewinnen. Mit durchschnittlich 18 (!) Kilometern in der Stunde schnauft er durch das Land. Termingebundene Transporte im Güterverkehr sind auf der Schiene praktisch nicht mehr möglich.

Dies sind keineswegs Zahlen, die aus einem vertraulichen internen Bericht der Bahn durchgesickert sind, sondern lange bekannte, öffentlich zugängliche Informationen, die das Erstaunen von Management und Ministerium als Heuchelei charakterisieren. Jeder einigermaßen regelmäßige Benutzer der Bahn weiß, dass er sich einem Unternehmen anvertraut, das von Fäulnis befallen ist. Nicht zu übersehende "blühende Landschaften" auf ehemaligem Bahngelände jenseits der Metropolen, Erfahrungen mit Verspätungen, überfüllten Zügen, verpassten Anschlüssen, überfordertem Personal u.v.m. decken sich mit der nunmehr veröffentlichten Bilanz.

Prestigeobjekte wie der ICE oder der Leipziger Hauptbahnhof, der sich in einen Konsumtempel mit Gleisanschluss verwandelt hat, vermitteln nicht so sehr die Modernisierung der Bahn. Vielmehr wecken sie Erinnerungen an die Wirtschaft der DDR in ihren letzten Jahren, als der Bau des Palastes der Republik den allgemeinen Niedergang verdecken sollte. Es ist daher auch nicht ganz verfehlt, wenn die Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar vom 6. November die Deutsche Bahn AG mit dem Prädikat VEB (Volkseigener Betrieb) versieht, wie es einst die großen Kombinate in der DDR trugen.

Radikale Sanierung

Doch liegt in dem Vergleich mit den ehemaligen VEB nicht nur Witz, um die Bahn der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern wie der Kommentar im Verlauf herausstellt, ist er auch ein Fingerzeig, wie das Unternehmen für den Markt fit gemacht werden soll. Viel Geld und freie Hand - darauf lässt sich die Zielsetzung reduzieren, wie sie der Vorstand, unterstützt durch die Presse, formuliert. Am deutlichsten fasst der Tagesspiegel vom 19. November die Erfordernisse zusammen: "Soll sie aus der Misere herauskommen, braucht sie jetzt zunächst einmal viel Geld... Zweitens muss sie endlich wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen agieren dürfen, ohne sich um Proteste aus der Politik scheren zu müssen."

Für die Beschäftigten und die von einer funktionierenden Bahn abhängige Bevölkerung verheißt das nichts Gutes. Wenn das Management plötzlich "aufzudecken" beginnt, wenn Vokabeln wie "schonungslose Bestandsaufnahme", "radikale Aufklärung" und "Kassensturz" in den Spalten der Presse eine Inflation erleben, und wenn die inzwischen berüchtigte Unternehmensberaterfirma McKinsey zur Tat schreitet, sollte die Belegschaft das als Bedrohung verstehen. Das Eingeständnis leerer Kassen diente in den vergangenen zehn Jahren nicht selten dazu, die Zerstörung der Industrielandschaft in Ostdeutschland durchzusetzen und den letzten Widerstand der Beschäftigten zu brechen.

Der Vorstand des Unternehmens verliert auch keine Zeit. Schon ist eine Reduktion der Beschäftigten auf 120.000 Mitarbeiter bis zum Jahr 2015 in der Diskussion. Gegenwärtig zählt die Bahn noch 240.000 Beschäftigte. Dabei soll bereits im kommenden Jahr z.B. jeder sechste Lokführer eingespart werden. Von etwa 3000 Stellen bleiben nur noch 2500 übrig. Auch die 4700 Zugbegleiter müssen auf 400 ihrer Kollegen verzichten. Die Bild-Zeitung weiß zu berichten, dass in beiden Berufsgruppen zwei Jahre später nur noch je 1700 Menschen beschäftigt sein werden.

Dass dies neben einer Verschlechterung der Bedingungen für die verbliebenen Arbeiter und einer weiteren Verringerung des Nutzwertes der Bahn für die Bevölkerung herbe Konsequenzen für die Sicherheit des bestehenden Zugverkehrs haben wird, steht außer Frage. Katastrophen wie in Eschede 1998 oder in Brühl Anfang dieses Jahres, bei denen zahlreiche Menschen ihr Leben lassen mussten, sind in dieser Hinsicht Warnung genug. Wie zur Bestätigung prallte am 30. November ein Regionalexpress im Bahnhof von Herbrechtingen auf seiner Fahrt nach Ulm mit einem auf demselben Gleis stehenden Güterzug frontal zusammen, wobei 32 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.

Weitere in Angriff genommene Konsequenzen aus der Finanzkrise sind der Rückzug aus der Fläche. So geht die Verantwortung für den Nahverkehr auf die Bundesländer über, der "Interregio", das bisherige Zwischenglied zwischen dem Nahverkehr und den Hochgeschwindigkeitstrassen des ICE, wird Mitte des kommenden Jahres gestrichen und der Güterverkehr konzentriert sich auf das Großkundengeschäft. Jede zweite Güterverkehrsstelle mit Gleisanschluss steht zur Disposition. Lediglich das profitable Geschäft mit Chemie- und Stahltransporten soll ausgebaut werden. "Wir machen nur noch, was sich rechnet," so der Vorstandsvorsitzende Hartmut Mehdorn.

Die Rolle der Gewerkschaft

Die 330.000 Mitglieder zählende Gewerkschaft Transnet, ehemals Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED), hat eine bundesweite Protestkampagne angekündigt. Eine Halbierung der Bahn lasse man sich nicht bieten, tönte ihr Vorsitzender Norbert Hansen großspurig, auf das Kurzzeitgedächtnis der Bevölkerung vertrauend.

Tatsächlich hat sich die Gewerkschaft eine Halbierung der Bahn längst bieten lassen, und das in viel kürzerer Zeit. Seit 1990 hat das Staatsunternehmen mehr als die Hälfte ihrer damals 500.000 Mitarbeiter ausgegliedert oder an die Luft gesetzt. Allein seit ihrer Umwandlung in die Deutsche Bahn AG 1994 mussten 100.000 Mitarbeiter den Konzern verlassen.

Außerdem sind die Pläne zum Arbeitsplatzabbau höchstens in ihrer Größenordnung neu. Seit Anfang des Jahres ist bekannt, dass die Bahn 8,4 Milliarden Mark in den nächsten fünf Jahren an Personalkosten sparen will, was dem Abbau von etwa 70.000 Stellen entspricht.

Fragt man angesichts dieser Zahlen nach den Aktivitäten der Gewerkschaft, stellt sich heraus, dass sich diese Entwicklung nicht etwa hinter ihrem Rücken, sondern mit ihrer Zustimmung vollzogen hat und sich auch weiterhin vollzieht. Ihre letzte angekündigte bundesweite Kampagne zum Jahreanfang ließ sie fallen, weil die damit verbundenen Auswirkungen auf die in Hannover stattfindende Weltausstellung "Expo 2000" mehr öffentliches Aufsehen erregt hätten, als ihr recht sein kann.

In einer jüngst im Fernsehen ausgestrahlten Talkshow verwahrte sich Hansen gegen einen Vorwurf des früheren Vorstandsvorsitzenden der Bahn, Johannes Ludewig, die Gewerkschaft würde durch überzogene Tarifforderungen die Konkurrenzfähigkeit der Bahn gegen private Bahnbetreiber im Nahverkehr untergraben. Ludewig als ehemaliger Verhandlungspartner der Gewerkschaft wisse sehr genau, warf ihm der aufgebrachte Hansen vor, dass die Gewerkschaft zum Beispiel bei der S-Bahn GmbH in Berlin oder Hamburg einer Anpassung an die regionale Tarifstruktur zugestimmt habe.

Noch deutlicher wurde er auf dem Gewerkschaftstag, der ihn gerade mir 99,4% als neuen Vorsitzenden bestätigt hatte. Er kündigte an, dass es keinen Personalabbau geben würde, der nicht durch Investitionen hinterlegt sei, was den Umkehrschluss geradezu provoziert, dass bei Modernisierung der Bahn keine Veranlassung besteht, an der bisherigen Belegschaft festzuhalten.

Wer könnte angesichts dieser Worte und der Erfahrungen mit der Rolle der Gewerkschaft zweifeln, dass das Bahnmanagement in ihr einen zuverlässigen Partner bei der anstehenden Sanierung haben wird? Sollte sie sich tatsächlich zu Protestaktionen hinreißen lassen, werden diese vor allem dazu dienen, die Kontrolle über den zu erwartenden und völlig berechtigten Widerstand der Belegschaft zu behalten.

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