Die Struktur des braunen Sumpfes

Zur Kontroverse um den Tod von Joseph Abdulla

"In Sebnitz wächst die Wut", lautete gestern die Schlagzeile einer großen Tageszeitung. Nicht die Wut auf die Neonazis, die in der Stadt herumpöbeln und ihr Internet-Gästebuch mit rassistischen Parolen und Mordaufrufen gegen Regierungsmitglieder voll schmieren. Auch nicht die Wut auf Polizei und Staatsanwaltschaft, die bei der Aufklärung des Todes von Joseph Abdulla nachweislich geschlampt und die Sache drei Jahre lang verschleppt haben. Und schon gar nicht die Wut auf jene, die nach wie vor im Verdacht stehen, das sechsjährige Kind ertränkt zu haben. Nein, was wächst, ist die Wut auf die Familie Abdulla-Kantelberg, die ihr Kind verloren hat und danach den Mut und die Zivilcourage fand, auf eine lückenlose Aufklärung zu bestehen und auf viele Missstände in der Stadt hinzuweisen.

"Wenn die Familie noch einmal herkommt, kann es kritisch werden", zitiert die Süddeutsche Zeitung einen Dresdner Kripomann, der in Sebnitz ermittelt, und beschreibt die "Wut, die sich in der sächsischen Kleinstadt Sebnitz aufgestaut hat und von der viele fürchten, sie könnte sich entladen: nicht nur in rechtsradikalen E-Mails, die der Familie des 1997 ertrunkenen kleinen Joseph drohen, sondern auch in handfesten Aktionen." Inzwischen hat sich auch die Polizei an diese Stimmung angepasst und ermittelt nicht nur gegen die mutmaßlichen Mörder von Joseph, sondern auch gegen dessen Mutter und drei von ihr aufgebotene Zeugen - wegen falscher Verdächtigung beziehungsweise Anstiftung dazu.

Die Szenen erinnern unwillkürlich an Ibsens Volksfeind. Dort wird Doktor Stockmann, der die Verseuchung der örtlichen Badequelle aufdeckt, von der das wirtschaftliche Wohlergehen des Kurortes abhängt, von der Stadtversammlung zum Feind des Volkes erklärt. Der Pöbel brüllt: "Schlagt ihm die Fensterscheiben ein! Werft ihn in den Fjord!" Die Familie wird gesellschaftlich isoliert und wirtschaftlich ruiniert.

Bisher steht nicht fest, was am 13. Juni 1997 im Freibad vom Sebnitz tatsächlich geschah, und angesichts der dreijährigen Verschleppung der Ermittlungen und der aufgeheizten politischen Atmosphäre ist es höchst fraglich, ob es jemals geklärt werden kann. Selbst wenn man für einen Moment annehmen sollte, dass Joseph tatsächlich an den Folgen eines gewöhnlichen Badeunfalls gestorben ist und sich die Mutter in ihrem Aufklärungsbemühen völlig verrannt hat - was angesichts der bisher zutage getretenen Fakten und Widersprüche höchst unwahrscheinlich scheint -, dann zeigen die Reaktionen auf die Veröffentlichung des Falles, dass das von einigen Zeugen geschilderte Verbrechen hätte geschehen können und weiterhin geschehen kann.

Die Reaktion von Behörden, Politikern und Teilen der Medien auf den Fall sagt mehr über die Struktur des braunen Sumpfes aus, der heute ganzen Landstrichen in Ostdeutschland seinen Stempel aufdrückt, als dies das schreckliche Verbrechen allein - sollte es denn geschehen sein - hätte tun können. Diese Reaktion zeigt exemplarisch, wie und warum Neonazis in der Lage sind, ganze Städte zu dominieren und einzuschüchtern, obwohl sie nur eine unbedeutende Minderheit in der Bevölkerung darstellen.

Als die Bild -Zeitung den Fall am 23. November unter der Schlagzeile "Neonazis ertränken Kind und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen" in die Öffentlichkeit brachte, schien die Geschichte nahtlos in das Muster zu passen, das der von der Regierung geförderten Kampagne gegen Rechts zugrunde liegt: Eine Gruppe jugendlicher "Glatzen", die ein grausames Verbrechen begeht; die Bevölkerung, die "wegsieht"; und schließlich die Behörden und die Regierung, die ihre Verantwortung ernst nehmen und die Bevölkerung zur "Zivilcourage" aufrufen.

Der Familie Abdulla schlug eine Welle der Sympathie entgegen. Der örtliche CDU-Bürgermeister organisierte eine Lichterkette, Kanzler Schröder empfing die Mutter in seiner Funktion als SPD-Vorsitzender und selbst der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) bequemte sich samt Gattin zu einem Gedenkgottesdienst nach Sebnitz. Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen kurz zuvor wieder aufgenommen, drei Verdächtige wurden verhaftet.

Doch bald wurde deutlich, dass die in Sachsen allein regierende CDU und die Behörden nicht an einer sachlichen Aufklärung des Falles interessiert waren und auf eine Gelegenheit zur Gegenoffensive lauerten. Sie kam, als die Staatsanwaltschaft die Verdächtigen unter Hinweis auf die angebliche Unglaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen wieder auf freien Fuß setzte. Justizminister Manfred Kolbe (CDU) trat gemeinsam mit den ermittelnden Staatsanwälten vor die Presse und setzte jene Kampagne in Gang, die der "Wut" gegen die Familie Abdulla schließlich freien Lauf ließ.

Kolbe richtete scharfe Angriffe gegen die Bild -Zeitung und warf ihr vor, sie habe eine ganze Stadt vorverurteilt. Den Sebnitzern empfahl er, Überlegungen über Schadenersatzforderungen anzustellen. Der Familie Abdulla unterstellte die Staatsanwaltschaft, sie habe Zeugen bezahlt und gekauft.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Ermittlungen noch in vollem Gange. Viele Zeugen waren noch gar nicht verhört worden. Zwei der zuvor Verhafteten standen nach Aussage der Staatsanwaltschaft weiterhin unter Verdacht. Neben den von der Familie Abdulla gesammelten Zeugenaussagen gab es auch zahlreiche weitere Hinweise darauf, dass Joseph keines natürlichen Todes gestorben ist. Sie reichen von den Gerüchten, die unmittelbar nach seinem Ertrinken in der ganzen Stadt zirkulierten, ohne dass die ermittelnden Behörden ihnen nachgegangen wären, bis zum Hämatom am rechten Ohr des Kindes und den Beruhigungsmittelrückständen im Blut, die erst bei der zweiten, von der Familie finanzierten Autopsie entdeckt wurden. Der im Blut gefundene Wirkstoff kommt nicht nur im Beruhigungsmittel Ritalin vor, er wird in der ostdeutschen Jugendszene auch als Ecstasy-Ersatz verwendet.

Hinzu kam die 23-seitigen Fallanalyse des renommierten Kriminologen Christian Pfeiffer, der zum Schluss gelangt war, dass die Zeugen im Prinzip glaubhaft seien, die Polizei dagegen "mit Desinteresse und Unprofessionalität" vorgegangen sei. Der für den Fall zuständige Kriminaloberkommissar aus Pirna ist in der Zwischenzeit wegen anderer Verstöße vom Dienst suspendiert worden.

Unter diesen Umständen bedeutete das Auftreten des Justizministers, des Dienstherrn der ermittelnden Staatsanwälte, einen unzulässigen Eingriff in ein laufendes Verfahren. Es lässt sich unschwer vorstellen, welche Auswirkungen dieses Auftreten auf die Ermittler, die Zeugen und vor allem die rechte Szene in Sebnitz hat.

Die Dresdner Generalstaatsanwaltschaft kann kaum mehr als objektive Instanz betrachtet werden. Ihr ist auch deshalb wenig an einer Aufklärung gelegen, weil sie sich damit selbst diskreditieren würde. Im Sommer 1998 hatte sie die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Pirna gegen eine Beschwerde der Familie Abdulla verteidigt, obwohl die Schlamperei bei den Ermittlungen offensichtlich war.

Die Zeugen, die teilweise noch minderjährig sind, müssen damit rechnen, dass es ihnen ergeht wie der Familie Abdulla, wenn sie an ihren Aussagen festhalten. Jeder, der die Mordversion unterstützt, gilt in der aufgeheizten Atmosphäre in Sebnitz als Netzbeschmutzer und Querulant und muss nicht nur mit gesellschaftlicher Ächtung und Isolation rechnen, sondern auch mit Morddrohungen aus der rechten Szene.

Diese rechte Szene schließlich kann die Wende in dem Fall Abdulla nur als uneingeschränkten Triumph und Bestätigung empfinden. Nicht sie steht jetzt am Pranger, sondern jene, die mit dem Finger auf sie gezeigt haben. Ihre Drohungen gegen die zugezogene Familie haben schließlich Wirkung gezeigt. Wie bei Ibsen tritt der rechte Abschaum nun Seite an Seite mit den ehrenwerten Bürgern der Stadt, denen das Geschäft mit den Touristen wichtiger ist als die Aufdeckung der Wahrheit, gegen den "Volksfeind" auf.

Selbst wenn man von der unwahrscheinlichen Hypothese ausgeht, dass Joseph ohne Fremdverschulden gestorben ist und die Mutter in ihrem Schmerz über das Ziel hinausgeschossen ist, muss man immer noch die Frage stellen, warum sie schließlich fest von einem Mord überzeugt war und nahezu 30 beglaubigte Zeugenaussagen sammeln konnte, die diese Überzeugung bestätigen.

Der Grund ist nicht schwer zu finden. Die deutsch-irakische Apothekerfamilie, die 1996 nach Sebnitz gekommen war, um den Golfkriegen zu entfliehen und einen ruhigen Platz zum Leben zu finden, stieß auf eine Atmosphäre der Feindschaft und Intoleranz. Im Bericht des Kriminologen Pfeiffer heißt es dazu: "Weitere Aussagen beschreiben eine den Ort Sebnitz belastende dumpfe Atmosphäre aus... Fremdenfeindlichkeit, gemeinschaftlich organisiertem Mobbing gegenüber den Eltern und Angst."

Hätte die Familie nach dem Verlust ihres Kindes jenes menschliche Mitgefühl erfahren, das in solchen Fällen eigentlich selbstverständlich sein sollte, hätte sich der Fall - so oder so - schnell aufklären lassen. Statt dessen musste sie sich drei Jahre lang in ihrer Wohnung verbarrikadieren und konnte sich kaum auf die Straße wagen. Nun, da der Fall öffentlich bekannt geworden ist, wird sie wohl endgültig aus Sebnitz vertrieben.

Es ist seit langem bekannt, dass die Sächsische Schweiz, in der Sebnitz liegt, eine Hochburg der Rechten ist. Die gewaltbereite rechte Szene hat hier ihr Zentrum. Die NPD verfügt über mehr Mitglieder als die SPD und sitzt in zahlreichen Stadträten - auch in Sebnitz. Glatzen gehören wie in vielen ostdeutschen Orten zum Stadtbild. Der Fall Abdulla macht nun deutlich, wie die offizielle Politik den Nährboden schafft, auf dem die Rechten gedeihen können.

Einen Tag nach seinem Justizminister trat auch Ministerpräsident Biedenkopf vor die Presse und schlug in dieselbe Kerbe: Sebnitz habe Schaden genommen, ganz Ostdeutschland sei verunglimpft worden. Er griff Bundeskanzler Schröder an, weil er Josephs Mutter empfangen hatte, und verstieg sich zu der Behauptung, private Fernsehsender hätten grölende Rechte vor dem Haus der Abdullas bezahlt. Nicht die Familie, die gemobbt wurde und ihr Kind verloren hat, war nun das Opfer, sondern die "Sebnitzer" und die "Ostdeutschen" ganz allgemein.

Es ist nicht zum ersten Mal, dass Biedenkopf mit Verständnis auf rechte Umtriebe reagiert. Als 1991 in Hoyerswerda ein prügelnder Mob Asylbewerber aus der Stadt trieb und die Polizei tatenlos zusah, war vom Landesvater kein Wort des Protests zu vernehmen.

Die sächsische Landesregierung, die Biedenkopf seit zehn Jahren führt, gilt seit langem als Hort rechter Politiker. Von 1990 bis zum September dieses Jahres wurde das Justizministerium von Steffen Heitmann geleitet, der schon 1993 durch fremdenfeindliche Äußerungen in die Schlagzeilen geraten war. Bundeskanzler Kohl hatte den ostdeutschen Kirchenjuristen damals überraschend zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten nominiert.

Heitmann hatte nach einem Besuch Stuttgarts und anderer westdeutscher Städte geäußert, angesichts des hohen Ausländeranteils, des "kulturellen Gemischs von verschiedensten Menschen" und "des merkwürdigen Erscheinungsbildes in den Innenstädten" empfinde er "bis zum Bedrohlichen die Fremdheit, die einem entgegenschlägt." Er sei zum Schluss gekommen: "Die Deutschen müssen vor Überfremdung geschützt werden!"

Nach Bekanntwerden dieser Äußerungen musste er seine Kandidatur zum höchsten Staatsamt zurückziehen, sächsischer Justizminister durfte er bleiben. Er übte diese Funktion auch aus, als Joseph Abdulla starb und die Ermittlungen im Sande verliefen. Er musste schließlich zurücktreten, als bekannt wurde, dass er Informationen über ein laufendes Verfahren an einen Parteifreund weitergeleitet hatte.

Heitmanns Nachfolger Manfred Kolbe kommt aus der bayrischen CSU. Er stammt aus einer sächsischen Familie, die 1959 in den Westen übersiedelte, und begann seine politische Karriere in München. In den achtziger Jahren bekleidete er dort hohe Regierungsämter. 1990 kehrte er nach Sachsen zurück und vertrat einen sächsischen Wahlkreis im Bundestag.

Siehe auch:
Der Tod des sechsjährigen Joseph Abdulla
(30. November 2000)
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