Die "Verbrechen" der 68er

Wie die Studentenbewegung versuchte, den braunen Mantel der deutschen Justiz zu lüften

Wie die Studentenbewegung versuchte, den braunen Mantel der deutschen Justiz zu lüften

Wochen lang dauert nun schon die heftige Debatte um die Vergangenheit von Außenminister Fischer und Umweltminister Trittin.

Nicht genug damit, dass "enthüllt" wurde, dass Fischer vor einem Vierteljahrhundert an einer Demonstration wegen des Tods der RAF-Angehörigen Baader, Meinhof und Ensslin im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stammheim teilgenommen hatte und dabei gegen Polizisten tätlich geworden war; dass er in Frankfurt einst gegen Todesurteile des spanischen Diktators Franco und in Algier gegen die Vertreibung und Terrorisierung der Palästinenser durch Israel protestiert hatte. Es reichte auch nicht, dass sich Fischer für alles, was er da getan hat, entschuldigte und Trittin in seiner Bußfertigkeit auch solche Sünden bereute, die er überhaupt nicht begangen hat. Jetzt gehe es um die "Aufarbeitung der Rolle der 68er Bewegung überhaupt", meinen nicht nur CSU- und CDU-Politiker. Auch Ex-Akteure der späten Sponti- und Studentenbewegung wie Thomas Schmid (heute politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), Cora Stephan (heute Kommentatorin von Die Welt) oder Götz Aly (heute Redakteur der Berliner Zeitung) schlagen unter dieser Losung mit dem hysterischen Eifer des Konvertiten auf ihre ehemaligen Glaubensgenossen ein.

Was waren dies für Verbrechen, derer sich eine ganze Generation schuldig gemacht hat? Den Spätgeborenen, den "Nach-68ern" muss sich diese Frage unweigerlich aufdrängen.

Lässt man die in der Kampagne gegen die grünen Minister gerne ausgestreuten dunklen Andeutungen von "kriminellen Gewalttaten" und "Angriffen auf den demokratischen Rechtsstaat" einmal beiseite und untersucht stattdessen die Geschehnisse von 1968 konkret, werden sowohl die Anlässe und Bestrebungen der damaligen Protestbewegung als auch die Zielrichtung der heutigen "Debatte" rasch klarer.

Ein Ereignis in Frankfurt beleuchtet beispielhaft, was sich so oder ähnlich überall in Deutschland abgespielt hat, in Großstadtmetropolen ebenso wie in Provinznestern.

Der Springer-Prozess und seine Richter

Am 11. April 1968 wurde auf den Studentenführer Rudi Dutschke ein Mordanschlag verübt. Wochenlang hatte die Bild -Zeitung zuvor eine regelrechte Pogromhetze gegen die Studentenbewegung und ihre Führer organisiert, Fotos von Dutschke im Stil von Fahndungsfotos veröffentlicht und dazu aufgerufen: "Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg!" und "Man darf nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei überlassen!" Dutschke überlebte schwerverletzt, erlag jedoch elf Jahre später den Langzeitfolgen des Attentats. In den Tagen nach dem Anschlag kam es in vielen Städten Deutschlands zu Protestaktionen gegen den Springer-Konzern, mit Straßenblockaden versuchten Studenten die Auslieferung der Bild -Zeitung zu verhindern. In Frankfurt am Main reagierte die Societas-Druckerei, wo die regionalen Ausgaben von Bild gedruckt wurden, mit Schadensersatzforderungen in Höhe von 72.000 Mark.

Im November sollte vor der II. Zivilkammer darüber verhandelt werden - unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Hans-Werner Giesecke. Doch kurz vor dem Prozess wurde vom Studentenverband SDS in Frankfurt ein Flugblatt mit dem Titel "Der Springerprozess und seine Richter" verteilt, in dem die Karriere von Giesecke im Dritten Reich und nach 1945 enthüllt und auf der Rückseite ein von ihm als NS-Kriegsrichter verhängtes Todesurteil abgedruckt war.

Giesecke hatte als Kriegsrichter zu jener Riege von Schergen gehört, die rund 50.000 Menschen in den Tod geschickt hatten, nur weil sie den Kriegsdienst verweigert oder sich als "Nicht-Arier" irgendwelcher banalen Delikte wie Mundraub oder pazifistischer Äußerungen oder hitlerfeindlicher Witze schuldig gemacht hatten. Er persönlich hatte über 100 Todesurteile zu verantworten. Allein 72 davon können ihm an Hand von nicht vernichteten Akten noch nachgewiesen werden. Von einigen besonders unmenschlichen Fällen sind Schilderungen von Augenzeugen erhalten, die auf eine ausgesprochen sadistische Freude Gieseckes am qualvollen Tod seiner Opfer schließen lassen.

Ein Meilenstein in seiner Karriere war der September 1939. Eine Woche nach Kriegsbeginn erwirkte er damals als Kriegsgerichtsrat und Anklagevertreter die Hinrichtung von 38 polnischen Arbeitern. Diese hatten die unter polnischer Hoheit stehende Post in Danzig gegen den Überfall der deutschen Polizei zur Überraschung der Angreifer erbittert verteidigt. Erst nach mehreren Stunden, nachdem schon einige ihrer Kollegen getötet waren, hatten sie sich, zum Teil schwer verletzt, der Übermacht ergeben, nur um sofort gefangen genommen und nach wenigen Tagen abgeurteilt zu werden. Am 5. Oktober 1939 wurden sie hingerichtet. Vorsitzender des Kriegsgerichts war ein gewisser Dr. Bode, der sich mit diesen Todesurteilen bei der Nazi-Führung für die Stelle des Generalstaatsanwalts in Danzig qualifiziert und es nach 1945 bis zum Senatspräsidenten in Bremen gebracht hat.

Günter Grass schildert den Kampf um die Danziger Post in seinem Werk Die Blechtrommel und hat damit den polnischen Arbeitern ein Denkmal in der Weltliteratur gesetzt. Auch die deutsche Justiz würdigte nach 1945 das Geschehen, freilich auf ihre eigene Weise: Wiederholt waren von Kindern der ermordeten Postbeamten Anzeige gegen Dr. Bode erstattet und Ermittlungen gegen ihn und Giesecke durchgesetzt worden, doch stets waren sie von den zuständigen Staatsanwälten und Richtern in Bremen, Lübeck, Mölln und Frankfurt am Main - es handelte sich meist um alte Kollegen aus der NS-Zeit - erfolgreich niedergeschlagen worden.

Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik

Bode und Giesecke waren freilich keine Einzelfälle, die etwa besonderen lokalen Umständen in Frankfurt oder Bremen zu verdanken gewesen wären.

Kein einziger Richter der NS-Sondergerichte und des Volksgerichtshofs, kein Staatsanwalt oder hoher Justizbeamter ist je zur Rechenschaft gezogen worden. Im Gegenteil. Hans Globke, Verfasser des offiziellen Kommentars zu Hitlers Nürnberger Rassengesetzen von 1936, wurde Kanzleramtschef und wichtigster Berater des ersten Nachkriegskanzlers Konrad Adenauer. Theodor Maunz, unter Hitler ein maßgebender Verfassungsrechtler, verfasste nach 1949 zusammen mit seinem Schüler, dem späteren Bundespräsidenten Roman Herzog den ersten und heute noch maßgeblichen Kommentar zum Grundgesetz. Buchstäblich zur gleichen Zeit beriet er den bekennenden Hitler-Anhänger, DVU-Gründer und Herausgeber der Deutschen National- und Soldatenzeitung Gerhard Frey und unterstützte ihn mit Zeitungsartikeln.

Ganz so wie in allen anderen akademischen Fächern nahmen auf dem Gebiet des Staats- und Strafrechts die führenden Professoren der NS-Zeit auch nach 1945 die wichtigsten Lehrstühle ein und prägten so in den 50er und 60er Jahren Lehre und Leben an den deutschen Universitäten.

Sogar die 1958 eingerichtete "Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen" in Ludwigsburg erhielt als ersten Leiter einen Oberstaatsanwalt, der nicht nur NSDAP-, sondern auch SA-Mitglied gewesen war.

Bundesgerichtshof, Oberlandesgerichte und Landgerichte waren fest in der Hand von NS-Richtern und bildeten eine institutionelle Garantie dafür, dass ihre eigenen Verbrechen und die ihrer Justiz-Kollegen und anderer NS-Staatsbeamter nie gesühnt wurden. Der Witwe des Volksgerichtshofvorsitzenden Freisler wurde von einem Bundesgericht die höchstmögliche Pensionsbezüge einer Beamtenwitwe mit der Begründung zugesprochen, dass ihr Mann zweifellos auch in der Bundesrepublik eine sehr hohe Stellung eingenommen hätte, wäre er nicht im Krieg durch eine Bombe ums Leben gekommen.

Alle Bereiche des Staatsapparats wiesen dieselbe nahtlose Kontinuität zu den Behörden und akademischen Institutionen des Dritten Reiches auf wie die Justiz. Im Auswärtigen Amt waren 1952 zwei Drittel der höheren Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder, bei den Referatsleitern waren es sogar vier Fünftel. Mit Heinrich Lübke und Kurt-Georg Kiesinger wurden ehemals aktive Mitglieder der NSDAP sogar Bundespräsident bzw. Bundeskanzler.

Die Ziele der Protestbewegung und ihr Schicksal

Erst in den 60er Jahren kam es zu den ersten größeren Enthüllungen und Debatten über den Holocaust, ausgelöst unter anderem durch den Eichmann-Prozess und vor allem den großen Ausschwitz-Prozess. Jüngere, während oder nach dem Krieg geborene Menschen waren zutiefst geschockt über die grauenvollen Verbrechen, die nach fast 20-jährigem Vertuschen und Verschweigen durch die Zeugenaussagen nun ins Licht einer breiteren Öffentlichkeit drangen.

Und so entzündete sich dann in den folgenden Jahren vor dem Hintergrund der ersten großen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit in Deutschland und eines gewaltigen sozialen Aufruhrs in ganz Europa der Protest der Jugend nicht nur an ihrer eigenen sozialen Lage, dem allgemeinen Bildungs- und Ausbildungsnotstand. Angriffsziel waren auch die undemokratischen Traditionen der deutschen Gesellschaft im allgemeinen und die faschistische Vergangenheit ihrer Amts- und Würdenträger im besonderen.

Das Frankfurter Flugblatt gegen den Kriegsrichter Giesecke war nur eines von Hunderten, die plötzlich überall auftauchten. Bislang geachtete Honoratioren wie Oberbürgermeister, Landräte oder Universitätsprofessoren wurden als ehemalige Stützen des Hitler-Staates entlarvt, Gymnasiallehrer als ehemalige Gauleiter, Turnlehrer als ehemalige SS-Marine-Feldwebel, die noch zwanzig Jahre nach der Kriegsniederlage ihre Wut darüber an ihren "verweichlichten" Schülern ausließen.

Der Wunsch breiter Schichten in der Bevölkerung, mit den Verbrechen und den Verbrechern der NS-Vergangenheit aufzuräumen, die Gesellschaft von Grund auf demokratisch zu erneuern, fanden auch in den Gewerkschaften einen starken Widerhall. Als die Große Koalition von CDU/CSU und SPD die Notstandgesetze durchs Parlamente peitschte, kam es zu den größten gewerkschaftlichen Massendemonstrationen seit 1945.

Aber die Führer dieser Bewegung und ihre Programme waren weit davon entfernt, diesen demokratischen Bestrebungen gerecht zu werden, geschweige denn ihnen zum Ziel verhelfen zu können. Politisch orientierten sie sich, ungeachtet aller verbalen Radikalität, entweder an der sozialdemokratischen Bürokratie von SPD und Gewerkschaften oder an der in der DDR bzw. Sowjetunion herrschenden stalinistischen Bürokratie, d.h. den Todfeinden jeder politisch unabhängigen Regung unter Arbeitern und Jugendlichen.

Das Ergebnis war, dass die Unruhen von 1967/68 mit Hilfe von Zuckerbrot und Peitsche rasch eingedämmt werden konnten. Willy Brandt, der soeben noch den Notstandgesetzen und einer rückwirkenden Amnestie für alle NS-Schreibtischtäter zur Mehrheit im Bundestag verholfen hatte, führte 1969 den Wahlkampf mit der Parole "Mehr Demokratie wagen!" und gewann damit die Mehrheit der Jugend und der Arbeiter hinter sich und die SPD. Unter der Kleinen Koalition von SPD und FDP wurden dann nicht nur soziale Reformen verkündet und teilweise angepackt, sondern auf den untersten Ebenen der Gesellschaft auch einige demokratische Freiräume zugestanden, um die rebellische Jugend wieder in den Staat zu integrieren. Gleichzeitig wurden unter dem Vorwand des "Kampfs gegen den Terrorismus" Staat, Justiz und Armee aufgerüstet wie noch nie, um jederzeit ein erneutes Aufflackern einer Massenbewegung niederschlagen zu können.

Kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen die politische Aufbruchstimmung von 1968 rasch in Katzenjammer und Frustration umschlug. Die Straßenkämpfe von Hausbesetzern und Spontis mit der Polizei in Frankfurt in den 70er Jahren stellten nur das letzte, degenerierte Stadium dieses Niedergangs einer spontanen Bewegung dar, oft genug geschürt und provoziert von abenteuerlichen und zwielichtigen Elementen, Spitzeln und Provokateuren der Polizei, die mit ihren Aktionen den Vorwand für eine neue Runde staatlicher Aufrüstung und Unterdrückung liefern sollten.

Was aber geschah nun mit den NS-Verbrechern, Kriegsrichtern und Naziprofessoren, die in den Jahren zuvor an den Pranger gestellt worden waren? Nicht viel. Im Falle Giesecke hatte das öffentliche Aufsehen, das mit dem Flugblatt erregt worden war, das Gericht veranlasst, den Prozess unter einem anderen Vorsitz durchführen zu lassen. Doch für den Landgerichtsdirektor selbst hatten die Enthüllungen keinerlei Folgen. Er blieb unbehelligt im Amt, meldete sich wie zuvor jedes Jahr freiwillig als Oberst der Reserve zu Bundeswehrübungen und nahm auch weiterhin jedes Jahr an den Veteranentreffen der NS-Kriegsrichter teil. Wie früher auch traf er dort unter anderem den Generalrichter a.D. Dr. Lattmann, der als Mitglied des Oberkommandos des Heeres (OKH) Giesecke in den dreißiger und vierziger Jahren gefördert, ihn bei der Aburteilung der polnischen Postarbeiter beraten und dann in den 60er Jahren bei den Ermittlungsverfahren in Sachen Danziger Post zur Seite gestanden hatte. Er traf dort auch Dr. Erich Mantel, Bundesrichter am Bundesgerichtshof, der als Sachbearbeiter im OKH ein Gnadengesuch der zum Tode verurteilten Danziger Postarbeiter abgelehnt und somit ihre Hinrichtung besiegelt hatte.

Giesecke starb allerdings wenige Jahre später, 1971, kurz nachdem er im Alter von 64 Jahren pensioniert worden war. Bode starb erst 1979 und wurde 84 Jahre alt. Die meisten Opfer der beiden Richter hatten nicht einmal das 25. Lebensjahr erreicht.

Abrechnung

Die juristischen Auseinandersetzungen um ihre Taten zogen sich noch Jahrzehnte hin, bis die Realpolitiker der Rot-Grünen Koalition schließlich eine Gelegenheit wahrnahmen, die ganze Angelegenheit ein für alle Mal, wie sie glauben, aus der Welt zu schaffen: Ein Lübecker Gericht hatte sich im Jahre 1996 (!) dazu durchgerungen, den Polen ein Recht auf Verteidigung zuzugestehen und den inzwischen verstorbenen Kriegsrichtern bei ihren Todesurteilen grobe Rechtsbeugung zu bescheinigen. Daraufhin sahen sich die der Bundesregierung unterstehenden Bundesbehörden gezwungen, auf eine seit Jahrzehnten anhängige Klage der Angehörigen auf Entschädigung einzugehen. Sie taten dies Ende Oktober letzten Jahres auf ihre spezielle rot-grüne Art und Weise: Einmalzahlungen von ganzen 10.000 DM für jede Witwe und 5.000 DM für jedes Kind! Entweder, so erklärte ihr Vertreter den Rechtsanwälten der Angehörigen, Hans-Jörgen Groth und Andrzej Remin, entweder sie gingen auf diesen Vergleich ein und seien mit diesem Handgeld zufrieden, oder die Bundesrepublik Deutschland werde als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches durch alle Instanzen prozessieren, d.h. so lange, bis keiner der Angehörigen mehr lebt.

Fast auf den Tag genau 60 Jahre später wurde so die blutige Exekution von Danzig auch juristisch und finanziell abschließend geregelt, jedenfalls nach Auffassung der deutschen Justiz und Regierung.

Und wie sehen einstige Anführer der 68er-Bewegung, die heute als ihre Inquisitoren auftreten, die Abrechnung mit faschistischen Traditionen und Tätern, die damals angestrebt worden war, aber ganz offensichtlich gescheitert ist?

Thomas Schmid, Mitstreiter von Joschka Fischer im Frankfurter "Revolutionären Kampf" der 70er Jahre, spricht von einem "Mummenschanz", bei dem die Gewalt "von den Vätern nicht weg, sondern zu ihnen zurück" geführt habe. Ein Flugblatt des Berliner SDS von 1968 mit dem Titel "Organisieren wir den Ungehorsam gegen die Nazi-Generation" veranlasst ihn zu folgender Diagnose: "Im rasenden Wunsch, alles Naziartige mit Stumpf und Stiel auszurotten, meldet sich ... ein Stück der Endkampf-Mentalität zurück, die die Nazis monströs auf die Spitze getrieben hatten." ("Ein deutsches Wunder", Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Februar 2001).

Ähnlich bescheinigt Götz Aly, der noch vor 10 Jahren eine umfangreiche historische Studie zur Massenvernichtung der Juden in Osteuropa und der Sowjetunion veröffentlicht hat, der Studentenbewegung von 1968, sie hätte mit ihren antifaschistischen und antiimperialistischen Losungen "zweifellos ... an das Denken von Nazi-Eltern angeknüpft", als "seltsamer Zwitter aus Kontinuität und Bruch". "Aber", schreibt Götz Aly, "das Doppelgesichtige hatte auch schon die nationalsozialistischen Studenten in ihrer Kampfzeit zwischen 1930 und 1933 ausgezeichnet. Muff von tausend Jahren. Leider mit Erfolg. So konnte ihr weltverbesserischer Schwung zur konkreten Utopie werden." ("Der Rest ist Schweigen", Berliner Zeitung vom 8. Januar 2001),

Und dem Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele, der es fast als einziger in der ganzen Debatte bislang gewagt hat, an die unglaubliche Eskalation staatlicher Gewalt gegen Demonstranten und unbeteiligte Bürger in den 60er und 70er Jahren zu erinnern, empfiehlt Aly, seine Memoiren ebenso zu betiteln wie der Alt-Nazi Franz Schönhuber seine Erinnerungen an die Waffen-SS: "Ich war dabei".

Die Gleichsetzung von demokratischen Bestrebungen mit dem nationalsozialistischen Terror - muss man da noch lange suchen, was die politische Stoßrichtung einer solchen "Debatte" ist?

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Literatur und Quellen, die der Autor für diesen Artikel benutzt hat und dem Leser zur Lektüre empfiehlt:

Dieter Schenk, Die Post von Danzig - Geschichte eines deutschen Justizmordes. Hamburg 1995.Eine außerordentlich gründlich recherchierte, detailreiche und erschütternde Dokumentation nicht nur der Ereignisse von 1939 in Danzig, sondern der Karrieren von Giesecke und Bode und zahlreicher ihrer Kollegen vor und nach 1945.

Heinrich Hannover, Die Republik vor Gericht 1954 - 1974. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Berlin 1998.Mit seiner Fülle von präzisen Informationen und anschaulichen Schilderungen eines Zeitzeugen, der als demokratischer Anwalt aktiv in das Geschehen eingriff, ist dieses Werk nicht nur ein spannendes Lesebuch zur Nachkriegsgeschichte, sondern ein regelrechtes Nachschlagewerk zur politischen Justiz in Deutschland.

Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie - NS-Täter in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main, 1984.

Ingo Müller, Furchtbare Juristen - Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. München, 1989. Beide Taschenbücher dokumentieren detailliert die gezielte Integration der Holocaust-Täter in den "demokratischen Rechtsstaat" nach 1945.

Gegen Rassismus und Kriegsgefahr. Resolutionen und Dokumente der Frankfurter Konferenz vom 5./6. Dezember 1992, veranstaltet vom Bund Sozialistischer Arbeiter, Vorläuferin der Partei für Soziale Gleichheit und deutsche Sektion der Vierten Internationale. Zu beziehen beim Arbeiterpresse Verlag, Essen.

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Leserbrief

Liebe Mitarbeiter des wsws,

es war wahrscheinlich eher nicht das Ziel des Artikels, aber ich stellte mir nach dem Durchlesen selbst die Frage, wieso es nicht thematisiert wurde, was aus den damaligen "Linken" noch so alles wurde neben den Frankfurter Erscheinungen.

Leute wie Rabehl, Oberlercher und Mahler, die damals noch "linke" Phrasen droschen, stehen heute mit zwei Füßen im Lager der NPD. Bedeutet das einen Bruch mit der Vergangenheit? Nein, mitnichten. Liest man sich deren heutige Ergüsse durch, sofern man den Brechreiz bis zu Ende unterdrücken kann, kommt man unschwer zu der Feststellung, dass sich der harte, materielle Kern ihrer Haltung nicht der Hauch einer Spur verändert hat.

Es liegt nach wie vor eine mehr oder minder offene Verachtung für die Arbeiterklasse und die Feindschaft gegen das Großkapital zugrunde. Ihre grundsätzliche Haltung war damals im wesentlichen der reflexhafte politische Ausdruck der vom Donnerhall der 68 bereits spürbar einsetzenden Globalisierung verschreckten kleinbürgerlichen Schichten, nicht mehr. Und anders ist es heute auch nicht, nur dass sie älter und ehrlicher geworden sind und die Globalisierung sich mittlerweile erst richtig entfaltet.

Vielleicht habe ich etwas übersehen, aber mir ist kein Artikel im wsws bekannt, der sich dieses Themas annimmt.

Gruß, Frank U.

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Antwort des Autors

Lieber Frank U.,

vielen Dank für Ihren Brief, den ich gerne beantworte. Wie Sie richtig vermutet haben, war es tatsächlich nicht das Ziel meines Artikels, den ideologischen und politischen Werdegang all jener ehemaligen Radikalen und Linken zu untersuchen, die ins Regierungslager oder gar ins Lager der Faschisten übergewechselt sind. Zu diesem Thema sind im wsws schon viele andere Artikel erschienen, so zum Beispiel Biographien zu Gerhard Schröder und Joseph Fischer, Analysen zur Geschichte der Grünen, zur Rolle Trittins und auch zur Evolution von Horst Mahler.

Der von Ihnen kritisierte aktuelle Artikel hatte ein anderes Thema und ging von folgenden Überlegungen aus:

Dass die Aufregung der CDU/CSU und der rechten Presse über die "Verbrechen" Fischers pure Heuchelei ist, drängt sich jedem nachdenklichen Beobachter der politischen Szene in Deutschland spontan auf. Was aber ist das politische Ziel dieser Kampagne, weshalb ist sie plötzlich vom Zaun gebrochen worden, weshalb wird sie über Wochen hinweg mit ungebrochener Vehemenz nicht nur von den Rechten, sondern auch von den "bekehrten" Alt-68ern geführt?

Um das zu verstehen, bedarf es einigen historischen Wissens über die soziale und politische Bewegung der 60er und 70er Jahre selbst und ihre Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft.

Der Artikel sollte in diesem Zusammenhang an eine wichtige Tatsache erinnern, die in der Auseinandersetzung über Fischer und Trittin systematisch unterdrückt wird und den jüngeren Generationen einfach oft nicht bekannt ist: nämlich wogegen sich der Protest der 68er gerichtet hat. Unter anderem waren dies vor allem die Verbrechen und Verbrecher der Nazizeit, welche auch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs Justiz und Gesellschaft in Deutschland immer noch prägten.

Insofern wurzelte die Revolte der Jugend in einem sehr fortschrittlichen Streben nach einer demokratischen Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Die politische Stoßrichtung der 68er-Debatte heute dagegen besteht darin, diese demokratischen Bestrebungen von damals zu kriminalisieren.

Aus diesem Grund wird plötzlich die schon lange, auch bei seinem Amtsantritt bekannte "Vergangenheit" Fischers ausgekramt und auf seinen Handgreiflichkeiten gegen Polizisten herumgeritten, aber die Ziele der Demonstrationen verschwiegen, an denen er damals teilgenommen und gegen die Polizei und Gerichte mit brutalen Mitteln vorgingen. Der Protest vor dem spanischen Konsulat zum Beispiel richtete sich gegen den faschistischen Diktator Franco und von ihm verhängte Todesurteile, die Demonstrationen nach dem Selbstmord von Meinhof, Baader und Ensslin richteten sich gegen die deutsche Justiz und ihre unmenschlichen Haftbedingungen, welche die gefangenen RAF-Mitglieder in den Tod getrieben haben.

Eine andere Form der Kriminalisierung besteht darin, die demokratischen Forderungen der 68er Bewegung auf geradezu groteske Weise mit dem nationalsozialistischen Terror oder "totalitärem Denken und Handeln" gleichzusetzen, wie dies nicht nur rechte CDU-Ideologen, sondern auch Götz Aly, Thomas Schmid und andere Ex-Radikale in der "Fischer-Debatte" tun.

Dieses heftige Eindreschen auf die 68er bereitet den ideologischen und politischen Boden für Frontalangriffe auf demokratische Rechte vor, auch auf die demokratischen Freiräume und Liberalisierungen in der Gesellschaft, die seit den Revolten der 60er Jahre zugestanden worden sind. Es soll einer umfassenden politischen Reaktion den Weg bereiten, wie sie gegenwärtig in den USA bereits im Gange ist. Der wirtschaftliche und soziale Hintergrund dieser Kampagne sind die enormen Kürzungen bei den Renten, an Schulen, Hochschulen, im Gesundheitswesen und in allen anderen sozialen Bereichen. Diese können nicht im Rahmen einer bürgerlichen Demokratie, sondern nur mit diktatorischen Regierungsformen durchgesetzt werden.

Ignoriert man die demokratischen Bestrebungen in den Revolten der 60er und frühen 70er Jahre, ist man diesen politischen Gefahren gegenüber blind, die mit der ideologischen Kampagne gegen die 68er verbunden sind.

Auch Ihr Brief vermittelt den Eindruck, als seien alle damaligen Linken oder gar die 68er Bewegung insgesamt mit jenen reaktionären Positionen gleichzusetzen, die etliche ihrer ideologischen Führer wie Bernd Rabehl oder Horst Mahler heute, 30 Jahre später, einnehmen.

Ebenso erscheint mir Ihre Behauptung, die Haltung der Linken damals, 1968, sei "im wesentlichen der reflexhafte politische Ausdruck" des Schreckens kleinbürgerlicher Schichten über die "68 bereits spürbar einsetzende Globalisierung" gewesen, sehr konstruiert, d.h. nicht aus geschichtlichen und ökonomischen Tatsachen abgeleitet.

Die 68er Bewegung war Bestandteil einer weltweiten politischen Krise der bürgerlichen Herrschaft. In anderen Ländern nahm sie zum Teil noch weit dramatischere Formen an, wie zum Beispiel in Frankreich mit dem Generalstreik vom Mai/Juni 1968, in Griechenland, Portugal und Spanien mit dem Sturz der Diktaturen, in den USA mit der Bürgerrechtsbewegung, den Protesten gegen den Vietnamkrieg und schließlich der Watergate-Affäre.

Ihren wirtschaftlichen und sozialen Hintergrund hatte diese politische Krise im Ende der Wiederaufbauphase der Wirtschaft in den europäischen Ländern und in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Massenfertigung von Waren nach dem Taylor'schen Prinzip, die vor dem Krieg hauptsächlich in den USA konzentriert war, hatte sich nun auch in den Industrien Europas und Japans durchgesetzt. Die Folgen davon waren eine Schwächung der führenden Weltmacht USA gegenüber seinen europäischen und asiatischen Rivalen und ein starker Fall der Profitrate in den kapitalistischen Metropolen. Mit scharfen Angriffen auf die Arbeiterklasse (in Deutschland Zechenstillegungen und Haushaltskürzungen der Erhard-Regierung und Großen Koalition, in Frankreich unter de Gaulle ebenfalls drastische Haushaltskürzungen) wurde von Seiten des Kapitals versucht, dieser Entwicklung zu begegnen.

Die allgemeine Unzufriedenheit und politische Gärung in der arbeitenden Bevölkerung machte sich bald nicht nur in "geordneten" gewerkschaftlichen Demonstrationen, sondern auch in ungeordneten, spontanen Revolten der Studenten und schließlich auch spontanen Streiks und Fabrikbesetzungen Luft. In Deutschland waren die Jahre der Brand-Regierung, angefangen von den Septemberstreiks kurz vor der Bundestagswahl 1969 bis zum Winter 1973/74 von einer Offensive militanter gewerkschaftlicher Kämpfe geprägt, die eine Erhöhung des Lohnniveaus um rund ein Drittel zum Ergebnis hatte.

Angesichts der Lohnoffensiven in Europa setzte eine Welle massiver Kapitalexporte in die Länder Südamerikas, Asiens und Afrikas ein, wo sich Industriekonzerne durch die Ausbeutung der Billiglohnarbeit höhere Profitraten versprachen. Diese Entwicklung fand in den 70er Jahren ihren Höhepunkt, spielte sich zunächst aber immer noch im Rahmen nationalstaatlich organisierter Wirtschaftsräume ab. Erst die technischen Revolutionen der Computer- und Kommunikationstechnik in 70er und 80er Jahren sprengten diesen Rahmen und leiteten die Globalisierung der Produktion selbst ein.

Natürlich kann ich diesen komplexen ökonomischen und gesellschaftlichen Prozess hier nur sehr grob umreißen. Aber es ist wichtig, ihn in seinen unterschiedlichen Stadien zu erfassen. Warum? Weil man nur so die grundlegende objektive Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen verstehen kann, die sich innerhalb der letzten 30 Jahre weltweit vollzogen hat, und auch die abstoßende Metamorphose einst "radikaler" oder "alternativer" Politiker, Parteien und Programme.

In den 60er und 70er Jahren verfügten nationale Reformprogramme auch im Rahmen der kapitalistischen Profitwirtschaft noch über eine gewisse Glaubwürdigkeit und zumindest kurzfristige Tragfähigkeit. Deshalb konnte Brandt 1969, kaum hatte er in der Großen Koalition gegen alle Massenproteste die Notstandsgesetze und eine Amnestie für sogenannten "Schreibtischtäter" des Holocausts durchgesetzt, die Bundestagswahl im Herbst mit der Parole "Mehr Demokratie wagen!" gewinnen und daran gehen, die Revolte der Jugend und der Arbeiter mit einer Reihe sozialer und demokratischer Reformen aufzufangen.

Durch Lohnzugeständnisse, eine massive Ausweitung des öffentlichen Dienstes an Schulen, Universitäten, Krankenhäusern usw., soziale und politische Verbesserungen für Frauen, Kranke, Arbeitslose und Rentner wurde die Gesellschaft wieder stabilisiert und die jüngeren Generationen mit den bestehenden Verhältnissen versöhnt. Der von Rudi Dutschke der außerparlamentarischen Opposition vorgeschlagene "Marsch durch die Institutionen" wurde gewissermaßen zur Regierungspolitik erhoben - und führte Leute wie Schily, Fischer, Trittin und Vollmer schließlich in die höchsten Staatsämter.

Heute ist diesen nationalen Reformprogrammen durch die Globalisierung völlig der Boden entzogen. Im Namen der "Wettbewerbsfähigkeit" werden stattdessen alle Reformen der Vergangenheit wieder rückgängig gemacht. Immer schneller wächst die soziale Kluft zwischen einer kleinen Schicht von Reichen und der arbeitenden Bevölkerung, die in ihrer großen Mehrheit immer mehr verarmt. Und kein Programm ist in der Lage, im Rahmen der kapitalistischen Marktwirtschaft diese Kluft wieder zu schließen und den erneuten Ausbruch heftiger Klassenkonflikte zu verhindern.

Der Wechsel einiger Ex-Radikaler ins faschistische Lager ist nur der abstoßendste Ausdruck dieses allgemeinen Rechtsschwenks in der bürgerlichen Politik - und der daraus resultierenden Gefahr von neuen Kriegen und diktatorischen Regierungen.

Ich hoffe, Sie verstehen meine Antwort auf Ihren Brief so wie sie gemeint war, nämlich als Plädoyer für eine differenzierte historisch-materialistische Analyse der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unserer Zeit. Sie ist die Grundlage für eine prinzipielle, tragfähige Opposition gegen den allgemeinen Sozialabbau und gegen die gesellschaftlichen und staatlichen Kräfte der Reaktion, die gegenwärtig mit der Kampagne gegen die 68er mobilisiert werden.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang Weber

Siehe auch:
Die Auseinandersetzung über die 68er (10. März 2001)
Die politische Instrumentalisierung der Justiz ( 23. Februar 2001)
Viel Lärm um Fischer (12. Januar 2001)

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