US-Truppen töten "versehentlich" afghanische Dorfbewohner und misshandeln Gefangene

Nachdem die Bush-Regierung und das US-Militär vierzehn Tage lang alles bestritten haben, kommt nun allmählich die Wahrheit über die schrecklichen Vorfälle ans Licht, die sich in den frühen Morgenstunden das 24. Januar in dem afghanischen Dorf Hazar Qadam in der Provinz Uruzgan abspielten.

Das Pentagon hatte einen bedeutenden Sieg verkündet. US-Sondereinheiten hätten zwei "Führungsbunker" angegriffen, in denen große Mengen Waffen lagerten. Mindestens fünfzehn Taliban-Kämpfer seien bei "intensiven Kämpfen" getötet und 27 Gefangene zu Verhören in die US-Basis in Kandahar gebracht worden. Pentagonsprecherin Victoria Clarke gab bekannt, unter ihnen befänden sich auch "relativ hohe" Taliban-Führer.

Afghanische Vertreter und Dorfbewohner beschuldigten die USA sofort, das falsche Ziel angegriffen zu haben. Der Gouverneur von Uruzgan, Jan Muhammad Khan, betonte, dass sich in beiden Dörfern keine Taliban- oder al-Qaida-Kämpfer aufgehalten hätten. Einige der Toten, erklärte er, hätten zu seiner eigenen Miliz gehört. Sie hätten Waffen bewacht, die im Rahmen eines Entwaffnungsprogramms der Regierung eingesammelt worden waren.

Das Pentagon wies die Anschuldigungen Khans und anderer jedoch brüsk zurück. Pentagon- Sprecher Konteradmiral John Stufflebeem sagte der Presse, es habe "klare Anzeichen" gegeben, dass es sich bei den Gebäuden um "legitime militärische Ziele" handle. Es gäbe Beweise, dass ein Gebäude dem Anschein nach ein "Versammlungsraum" sei und dass auf US-Truppen geschossen wurde.

Letzte Woche kamen die ersten zögernden Eingeständnisse, dass das amerikanische Militär einen Fehler gemacht habe. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gestand ein, dass bei der Aktion möglicherweise "freundliche" afghanische Truppen getötet worden seien. Er gab keine Erklärung dafür und äußerte keine Entschuldigung, weil er einer Untersuchung des US-Zentralkommandos nicht vorgreifen wolle. Aber ohne Untersuchungsergebnis oder sonstige Beweise erklärte er ungeniert, dass auf die amerikanischen Truppen zuerst geschossen worden sei.

Quasi als stillschweigendes Eingeständnis, dass seine bisherigen Behauptungen falsch waren, hat das Militär alle 27 Gefangenen freigelassen - wiederum ohne Erklärung oder Entschuldigung. Journalisten der New York Times, der Washington Post und anderer amerikanischer Tageszeitungen haben berichtet, dass CIA-Agenten in das Gebiet zurückgekehrt seien und allen Familien von Opfern je 1000 Dollar Entschädigung - oder besser, Schweigegeld - angeboten hätten.

Vier der freigelassenen Gefangenen haben sich aber an die Öffentlichkeit gewandt. Sie haben nicht nur den Überfall detailliert beschrieben, sondern die US-Truppen auch schwerer Misshandlungen während der Untersuchungshaft beschuldigt. Bei den beiden "Führungsbunkern" handelte es sich um eine Schule und um ein Gebäude, das von Regierungsangestellten genutzt wurde, die zur afghanischen Regierung unter Hamid Karzai stehen, unter ihnen der neuernannte Distriktspolizeichef Abdul Rauf. Beide Gebäude wurden als Lagerstätten für Waffen genutzt, die im Rahmen von Karzais Entwaffnungsprogramm eingesammelt wurden, und daher bewacht.

Amerikanische Sondereinheiten drangen in die Gebäude ein, während die meisten Männer schliefen. Rauf wachte kurz vor drei Uhr durch Geschrei und Schüsse auf, erkannte amerikanische Stimmen und versuchte seine Leute mit den Worten zu beruhigen: "Das sind unsere Freunde." Der Polizeichef, der 60-65 Jahre alt ist, wurde zu Boden gestoßen und mehrmals getreten. Eine Rippe wurde ihm gebrochen und er verlor das Bewusstsein.

Im Regierungsgebäude wurden zwei örtliche Polizisten getötet, Rauf und 26 andere wurden in einen Hubschrauber verfrachtet und nach Kandahar, südlich von Uruzgan, geflogen. Wer in der Schule überrascht wurden, hatte nicht so viel Glück. Ein Reporter der Washington Post beschrieb später die Szene: "Der Schulhof ist jetzt ein Friedhof zerbeulter und von Schrapnells zerrissener Fahrzeuge. Die Fassade weist die Narben hunderter Kugeleinschläge auf. Der Fußboden eines Klassenraumes ist mit Blutflecken übersät. Das Verwaltungsbüro ist völlig verkohlt."

Amanullah, 25, ist einer von 30 Beschäftigten der Entwaffnungskommission, die in dem Gebäude schliefen. Er erklärt, eine Rakete habe das Schulgebäude getroffen, und dann seien die Soldaten hereingestürmt und hätten einen Kugelhagel in den Raum abgefeuert. Er sah seinen Cousin mit Soldaten ringen, rannte davon und versteckte sich in der nahe gelegenen Moschee. Als er am nächsten Morgen zurückkehrte, war sein Cousin tot. Kugeln hatten ihn in Nacken, Bauch und Schultern getroffen. Alle Schüsse schienen von hinten abgefeuert worden zu sein und die Hände seines Cousins waren mit Handschellen aus Plastik hinter dem Rücken zusammengebunden.

Amanullah sagte, acht der Leichen in der Schule seien mit Handschellen gefesselt gewesen. Andere Dorfbewohner erhoben ähnliche Beschuldigungen und zeigten den Reportern zwei der Handschellen, die sie den Toten abgeschnitten hatten. Sie hatten zwei Aufdrucke: "Made in USA" und "Der Anwender trägt die Verantwortung für Verletzungen in Folge von Fahrlässigkeit". Es gab keine offizielle Erklärung dafür.

Ein Bericht in der Los Angeles Times mutmaßte, dass die US-Soldaten "alle augenscheinlich Verwundeten oder Toten gefesselt haben, um sich nicht weiter mit ihnen aufhalten zu müssen". Wenn aber die Handschellen eine Flucht der Gegner verhindern sollten, weshalb wurden die Gefesselten dann einfach zurückgelassen? Warum wurden nur einige gefesselt, andere aber nicht? Wenn nur diejenigen gefesselt wurden, die noch Lebenszeichen zeigten, warum ließ man sie einfach verbluten? Keine dieser Fragen wird gestellt, geschweige denn beantwortet, weil der Zweck der Spekulation in Wirklichkeit darin besteht, den Leser von der ganz offensichtlichen und schwerwiegenderen Frage abzulenken: Wurden diese Männer standrechtlich erschossen?

Unter den Toten war auch der Vorsitzende der örtlichen Entwaffnungskommission. Sein Nachfolger Asis Agha erklärte, dass er bei früheren US-Bombardements neun Familienmitglieder verloren habe, als ein Traktor mit Anhänger der Familie für ein fliehendes al-Qaida-Fahrzeug gehalten worden war. Er erklärte den Reportern zornig: "Amerikaner kommen her und bombardieren, töten Leute, fesseln sie an den Händen und verschleppen sie.... Das ist ein Verbrechen."

Geschlagen und verhört

Der Bericht in der Washington Post beschreibt, was geschah, nachdem die Gefangenen in der US-Basis in Kandahar angekommen waren. "Alle 27 Männer wurden gezwungen, sich auf den Bauch zu legen, ihre Hände wurden auf den Rücken gebunden und ihre Füße in Ketten gelegt, wie die vier freigelassenen Gefangenen übereinstimmend aussagten. Dann wurden sie alle mit einem Seil aneinander gebunden. ‚Sie trampelten auf unseren Rücken herum, als wären wir aus Stein', sagte Rauf. ‚Sie schlugen mir auf den Kopf. Meine Nase wurde hart auf den Boden gestoßen, sodass sie stark anschwoll.'"

Am Morgen rissen ihnen US-Soldaten die Kleider vom Leib und sie mussten blaue Uniformen anziehen. Als Akhtar Mohammad, 17, bewusstlos wurde, wurde er in Einzelhaft in einen großen Schiffscontainer gesteckt, wo er den größten Teil der Zeit verbringen musste. Es wurde keine Begründung dafür gegeben. Sechs der 27 Gefangenen befanden sich als Kriminelle im Gewahrsam der afghanischen Polizei, als die US-Soldaten ihre Razzia vornahmen. Sie wurden von den anderen getrennt, während die übrigen 20 in einem "Käfig" mit hölzernen Gitterstäben und einer Leinwand als Dach gehalten wurden.

Allah Noor, 40, früher Bauer, jetzt Polizist der neuen Regierung, erklärte, dass ihm in der Militärbasis in Kandahar zwei Rippen gebrochen wurden: "Sie schlugen uns auf Kopf, Rücken und Rippen. Sie schlugen uns mit Fäusten und traten mich. Sie sagten: ‚Ihr seid Terroristen! Ihr gehört zu al-Qaida! Ihr seid Taliban!'" Als den Militärs langsam klar wurde, dass die Gefangenen keine Verbindung zu den beiden Gruppen hatten, besserte sich die Behandlung zwar, aber der Schaden war schon angerichtet. Der betagte Rauf, der sich wegen Schlägen in die Nieren kaum auf den Beinen halten konnte, erklärte der Presse bitter: "Das werde ich ihnen nie verzeihen."

Als die US-Regierung, die Armee und die Medien gezwungenermaßen zugeben mussten, dass ihnen "ein Fehler" unterlaufen sei, bastelten sie eiligst neue "Erklärungen" zur Rechtfertigung für den Mord an unschuldigen Menschen und die brutale Behandlung von Gefangenen.

Zu dem Überfall selbst gab Verteidigungsminister Rumsfeld die Sprachregelung vor: "Es ist keine geordnete, saubere, klare Situation [in Afghanistan]." Pentagon-Sprecherin Victoria Clarke führte das Thema weiter aus: "Die Verhältnisse in Afghanistan unübersichtlich zu nennen, wäre eine Untertreibung. Man kann einfach nicht erkennen, wer auf welcher Seite steht. Die Leute stehen auf zahlreichen Seiten und wechseln die Seiten."

Eine verfeinerte Version dieser Erklärung wurde in mehreren Presseberichten verbreitet: dass den USA von rivalisierenden örtlichen Kommandanten absichtlich irreführende Informationen zugespielt wurden. Die Los Angeles Times z. B. erklärte, dass ein örtlicher Milizkommandeur, Mohammed Yunis, aus Enttäuschung über seine Ablösung als Vorsitzender der örtlichen Entwaffungskommission verschwunden sei.

Es stimmt, dass die Loyalitäten in den paschtunischen Stammesgebieten im Süden und Osten Afghanistans, der früheren Hochburg der Taliban, unklar und verwirrend sind. Aber wenn die Situation so unklar ist, dann ist es umso notwendiger, größte Sorgfalt walten zu lassen, besonders wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen. Bei seinen routinemäßigen Dementis versichert das Pentagon der Öffentlichkeit mit Nachdruck, dass keine Fehler möglich seien, die Ziele seien umfassend geprüft, vielfältige Aufklärungsmethoden würden eingesetzt, örtliche Informanten einbezogen und eine Vielzahl hochentwickelter Überwachungstechniken von U-2-Spionageflugzeugen bis zu unbemannten Predator-Drohnen eingesetzt.

Der Angriff auf Hazar Qadam zeigt dagegen, dass sehr wenig Sorgfalt auf die Identifizierung des Ziels verwandt wurde. Das ganze elektronische Hexenwerk des US-Militärs war nicht in der Lage, die politische Loyalität der Männer in den zwei Gebäuden zu erkennen. Bestenfalls konnte es ganz allgemein "verdächtige Aktivitäten" feststellen. Informationen über die politische Zugehörigkeit hätten nur von örtlichen Informanten kommen können. Das Pentagon hat sich geweigert, seine Quelle zu nennen, aber es ist klar, dass es nicht der Gouverneur von Uruzgan oder andere örtliche Beamte waren. Diese haben die offensichtliche Frage gestellt - warum wurden wir nicht gefragt?

Was die Misshandlung der 27 Gefangenen angeht, so wurde sie von Generalstabschef Richard Myers auf einer Pressekonferenz gestern schlicht und einfach geleugnet. "Ich glaube ganz einfach nicht, dass die Festgenommenen... geschlagen oder grob behandelt wurden", sagte er. Um das zu unterstreichen fügte er hinzu: "Die Tatsache, dass sie festgenommen und nicht getötet wurden, zeigt doch, wie professionell, diszipliniert und engagiert unsere Männer da unten sind." Er vermied es, die 21 Afghanen zu erwähnen, die nicht so viel Glück hatten, und einen Kommentar dazu abzugeben, was ihr Tod über die Aktivitäten des US-Militärs aussagt.

Der Überfall in Uruzgan ist nur einer von mehreren bekannt gewordenen Zwischenfällen, bei denen unschuldige Afghanen von amerikanischem Militär getötet wurden. Die steigenden Opferzahlen und die nicht überzeugende offizielle Reaktion haben mehrere Kommentatoren in der "liberalen" Presse zu der Frage veranlasst, ob die Bush-Regierung nicht einen Kurswechsel vornehmen sollte. Offenbar befürchtet man in den herrschenden Kreisen der USA, dass das Bekanntwerden der brutalen Methoden des amerikanischen Militärs die Unterstützung der Öffentlichkeit für den Krieg gefährden könnte.

Die Washington Post kommentierte zum Beispiel: "Es mag sein, dass einige oder sogar alle dieser beunruhigenden Berichte teilweise oder insgesamt ungenau sind. Aber was im Moment am meisten Sorge bereitet, ist das Zögern des Pentagon, ernsthaft auf sie zu reagieren. Verteidigungsminister Rumsfeld gab die Richtung vor; in seinen Fernsehpressekonferenzen tat er Berichte über zivile Opfer als terroristische Propaganda ab."

Die Zeitung merkte an, dass "tragische Fehler, denen die Falschen zum Opfer fallen, in einem Krieg unvermeidlich sind" und drängte das Pentagon, "entschlossen zu untersuchen, klare und offene Erklärungen abzugeben und Fehlverhalten zu ahnden."

Eine Bilanz dessen, was über den Überfall in Uruzgan bekannt ist, legt eine einfachere Erklärung der Operation sowie der Reaktion des Pentagon nahe. Der Angriff der Sondereinheit war kein "Fehler" und kein "tragisches Versehen". Die Militärplaner, das CIA-Personal und die Aufklärungsoffiziere, die die "Führungslager" als Ziele festlegten, waren schlicht und einfach nicht sonderlich daran interessiert, wer zwischen die Fronten geriet. Ob nun al-Qaida oder Taliban-Kämpfer gefangen wurden, in jedem Fall diente die Operation der Terrorisierung der Bevölkerung, die früher mit den Taliban sympathisierte und der Anwesenheit von US-Truppen zunehmend ablehnend gegenübersteht.

Siehe auch:
US-Gräuel gegen Taliban-Kriegsgefangene: Wo bleibt die Genfer Konvention?
(1. Dezember 2001)
Die Genfer Konvention und das US-Massaker an Kriegsgefangenen in Afghanistan
( 11. Dezember 2001)
Afghanistan: USA weisen Kapitulation in Tora Bora zurück
( 22. Dezember 2001)
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