Streikwelle im französischen Gesundheitswesen

Seit Wochen erlebt Frankreich eine breite Streikbewegung im Gesundheitswesen, die auch mit dem Beginn des Wahlkampfs für die Präsidentschaftswahlen Anfang Februar nicht abgerissen ist.

Nach den Arbeitskämpfen von Polizisten und Gendarmen ist dies nun innerhalb der letzten drei Monate der dritte große Konflikt, mit dem die Jospin-Regierung konfrontiert wird. Zusätzlich formiert sich derzeit im Bildungsbereich eine starke Streikfront. Doch während die Regierung sehr schnell auf die Forderungen von Polizisten und Gendarmen einging, kämpfen die schlechtbezahlten Krankenschwestern und Pfleger schon seit Jahren vergeblich um nennenswerte Tarifverbesserungen.

Für Montag 21. Januar riefen vier Gewerkschaften, die den jüngsten Vertrag über die 35-Stunden-Woche nicht unterzeichnet haben, ihre 780.000 Mitglieder zu einem Streik in allen Krankenhäusern auf. Am Dienstag fand dann eine nationale Demonstration der in der Krankenpflege Tätigen statt.

Am 31. Januar gab es in Paris, Marseille und Bordeaux große Demonstrationen mit jeweils mehreren Tausend Klinikangestellten. In Paris kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Polizei und CRS mit mehreren Verletzten. Auch in Straßburg, Lille und in vielen andern Städten folgten Hunderte dem Demonstrationsaufruf. In Rennes, wo in der Universitätsklinik seit dem 17. Dezember gegen die Umsetzung der 35-Stunden-Woche gestreikt wird, fand schon am 22. Januar eine regionale Demonstration mit 5.000 Teilnehmern statt.

Es ist momentan vor allem das nichtmedizinische Klinikpersonal, das die Streiks anführt. Demonstriert wird für höhere Löhne, für Verbesserungen bei den Einstufungen und vor allem gegen die Art und Weise, wie die 35-Stunden-Woche in den Krankenhäusern umgesetzt wird. Im Zentrum steht die Forderung nach einer "wirklichen 35-Stunden-Woche," die ihren Namen verdient. Zusätzlich richten sich die Streiks im privaten Pflegebereich gegen Versuche, die Tarife trotz ständig wachsender Belastungen einzufrieren.

Die aktuelle Vereinbarung vom 27. September über die 35-Stunden-Woche wurde nur vom kleineren Teil der Gewerkschaften (CFDT, SNCH, UNSA, CFE-CGC) unterschrieben, während FO, SUD, CGC und CFDC unter dem Druck ihrer Mitglieder die Unterschrift verweigerten. Wichtigster Grund: die versprochenen 45.000 Stellen, die im Zuge der Arbeitszeitverkürzung zwischen 2002 und 2004 neu geschaffen werden sollen, reichen nicht annähernd aus. So sieht der Vertrag für das Krankenhauszentrum in Clermont-Ferrand, wo bei 5.000 Beschäftigten zusätzlich 500 neue Stellen geschaffen werden müssten, gerade einmal 73 Neueinstellungen vor.

Im letzten Jahr konnte eine 5,6-prozentige Ausgabensteigerung auf 88,3 Milliarden Euro im gesamten Gesundheitsbereich nicht verhindern, dass die Schwierigkeiten und Belastungen für die Beschäftigten ständig zunahmen. Unter diesen Bedingungen bedeutet die Einführung der 35-Stunden-Woche bloß Ausdünnung des sowieso schon knappen Personals, Verschärfung der Stress-Situation und Verschlechterung der staatlichen Krankenpflege.

Die 35-Stunden-Woche ist wichtiger Bestandteil des Regierungsprogramms von Premierminister Lionel Jospin, der 1997 auf der Welle des Widerstands gegen den Plan Juppé, der drastische Sparmaßnahmen im Sozialbereich beinhaltete, an die Macht gelangte. Doch seither hat die Regierung Jospin mit dem Abbau von Krankenhausbetten und Leistungen sowie der Schließung von Einrichtungen die Vorhaben Juppés weitgehend in die Tat umgesetzt.

Jospins Gesundheitsminister Bernard Kouchner benutzt die Einführung der 35-Stunden-Woche als Hebel, um den Leistungsabbau zu beschleunigen und die Arbeitskräfte flexibler einzusetzen. Ursprünglich als gewerkschaftliche Forderung gegen die Massenarbeitslosigkeit aufgestellt, wird in dem Gesetz inzwischen auf die Verpflichtung zu Neueinstellungen verzichtet, ja es erlaubt sogar Entlassungen. Es wurde in aufeinanderfolgenden Fassungen so aufgeweicht, dass z.B. bis zu zwölf Wochen hintereinander nur zehn Stunden oder bis zu 44 Stunden pro Woche gearbeitet werden kann.

Außerdem begünstigt es den Trend zur Niedriglohnarbeit. Viele Krankenhäuser bereiten sich darauf vor, Krankenschwestern durch billige spanische und portugiesische Hilfspflegekräfte zu ersetzen.

Der krisenhafte Zustand, in dem sich das Gesundheitswesen befindet, unterstützt schließlich die Strategie des Unternehmerverbandes MEDEF, der aus der paritätischen Verwaltung der nationalen Krankenkasse ausgestiegen ist und sich bemüht, private Krankenversicherungen in Konkurrenz zur öffentlichen Versicherung einzuführen.

Dass der Trend zur Privatisierung im Gesundheitswesen geht, zeigt auch eine aktuelle Ankündigung des Zeitarbeitsvermittlers ManPower, eine neue Filiale in Paris zu eröffnen, die sich besonders auf Kräfte für den Krankenhaus- und Pflegebereich spezialisieren soll.

Ärzte und Pflegepersonal protestieren schon seit Jahren gegen die unzureichende personelle und materielle Ausstattung der Kliniken.

Vor zwei Jahren war es in Paris zur größten Demonstration seit Beginn der neunziger Jahre gekommen, als unter dem Slogan "Schluss mit dem Sparen - Wir fordern Gesundheit" Schwestern, Pfleger, Ärzte Notärzte, Psychiater, Krankenhausapotheker, Spezialkräfte und Techniker einen Kurswechsel von Jospins Regierung verlangten. Im Januar 2001 fand in Paris eine nationale Demonstration von Tausenden Krankenpflegern und -schwestern statt. Ende 2001 gab es dann in zahlreichen Kliniken Streiks und Protestaktionen gegen die Pläne der Klinikleitungen, die im wesentlichen auf eine Arbeitsintensivierung für das vorhandene Personal hinausliefen.

Inzwischen entsteht in manchen Bereichen ein privater Gesundheitsmarkt, der für einige Wenige lukrativ ist. Das Aufkommen neuer großer Ungleichheiten, nicht nur zwischen Ärzten und anderem medizinischen Personal, sondern auch unter den Ärzten selbst, sorgt für Zündstoff. Ziemlich wenig verdienen die Allgemeinmediziner, besonders wenn sie in ländlichen oder armen städtischen Gebieten praktizieren.

So eröffneten auch die Allgemeinmediziner, deren Honorare jahrelang eingefroren waren, am 15. November die jüngste Streikbewegung. Sie forderten eine Erhöhung ihrer Vergütungen von 17,50 auf 20 Euro für Konsultationen und von 20,60 auf 30 Euro für Hausbesuche.

Am 15. Januar vereinbarte die zweitgrößte Ärztegewerkschaft (MG France) mit der nationalen Krankenkasse (CNAM) für die kommenden drei Jahre eine Aufstocken der Ärztehonorare um insgesamt 732 Millionen Euro. Die größte Ärztegewerkschaft CSMF blieb den Verhandlungen fern und forderte von der Regierung, sich der anstehenden Fragen anzunehmen. Arbeitsministerin Guigou - und anfangs auch Gesundheitsminister Kouchner - erklärten sich jedoch für nicht zuständig.

Am 18. Januar forderte auch die Vereinigung der Privatkliniken, wie auch die Gewerkschaft CGT, die Regierung auf, sich einzuschalten, um die notwendigen finanziellen und organisatorischen Verbesserungen im Gesundheitswesen einzuleiten. Doch auch Premier Jospin verweigerte den Ärztevertretern einen Gesprächstermin.

So kam es am 23. Januar zu einem "arztfreien Tag", an dem die Ärzte in ganz Frankreich zum ersten Mal einen allgemeinen Streik durchführten und die Regierung mit ihrer angestauten Wut konfrontierten. Zwischen 70 und 80 Prozent geschlossene Praxen und Fernsehbilder über riesige Warteschlangen in den Notaufnahmen brachten die Regierung unter Druck. Zahlreiche Fachärzte, Zahnärzte, Bereitschaftsdienste und viele der schlechtbezahlten und überlasteten, meist jüngeren Notärzte schlossen sich an.

In Lothringen wurde der Streik z.B. von 90 Prozent, in Lille von nahezu 100 Prozent der Allgemeinpraxen befolgt. 80 Prozent waren es in Ile-de-France und in Ille-et-Vilaine, wo 126 Mediziner von der Präfektur dienstverpflichtet wurden. Zu offiziellen Dienstverpflichtungen kam es auch in andern Städten.

Während dieses Streiktags handelten die Arbeitsministerin Guigou und der Gesundheitsminister Kouchner zusammen mit MG France und der CNAM neue Vereinbarungen aus: Die Arzthonorare für Konsultationen wurden von 17,5 auf 18,5 Euro erhöht, für umfangreichere Beratungen können jetzt 23 Euro abgerechnet werden. Die voraussichtliche durchschnittliche Verbesserung macht im Monat 350 Euro aus, Bereitschaftsdienste und Wachen werden pro 12-Stundenschicht mit 50 Euro vergütet, Nachtvisiten von 24,5 auf 35 Euro angehoben. Ärzte, die sich in ländlichen und in Problemgebieten niederlassen, bekommen eine Starthilfe von 13.000 Euro.

Während die Gewerkschaft CSMF die Verhandlungsergebnisse als unzureichend bezeichnete und für die kommenden drei Jahre eine Erhöhung des Honoraretats um 1,38 Milliarden anstelle der beschlossenen 732 Millionen Euro forderte, wurden die mit MG France ausgehandelten Abmachungen von Regierungsseite für allgemein verbindlich erklärt.

Claude Maffioli, ein Vertreter der CSMF, rief vorläufig zu weiteren Streiks von Bereitschaftsdiensten auf und kündigte für den 10. März eine nationale Demonstration der freiberuflichen Ärzte in Paris an. Auch die Aktionen des Klinikpersonals in den Krankenhäusern, das noch keine wesentlichen Verbesserungen erreichen konnte, sollen fortgesetzt werden.

Siehe auch:
Weitere Artikel zu Frankreich
Loading