Frankreich

Die Sozialistische Partei versucht die Scherben zu kitten

Am Vorabend der Maikundgebungen gegen den Neofaschisten Jean-Marie Le Pen berief die Sozialistische Partei Frankreichs (PS) eine öffentliche Versammlung ein, um ihre politischen Anhänger moralisch aufzubauen. Außerdem diente die Veranstaltung vom 30. April der Vorbereitung auf die Parlamentswahlen, die in zwei Wahlgängen am 9. und 16. Juni stattfinden werden.

Die französischen Sozialisten gestehen sich ein, dass sie in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen eine vernichtende Niederlage erlitten haben. Premierminister Lionel Jospin erhielt nur 15,9 Prozent der Stimmen und landete an dritter Stelle hinter dem gaullistischen Präsidenten Jacques Chirac und dem Vorsitzenden der Nationalen Front Le Pen.

Die sozialdemokratisch orientierte Sozialistische Partei (PS), die stalinistisch eingestellte Kommunistische Partei (PCF), die Grünen und die verschiedenen Teile der Protestbewegung behaupten, es gehe ihnen nun ausschließlich darum, den Neofaschisten "den Weg zu versperren". Ganz ohne Zweifel reagieren unzählige Arbeiter und Jugendliche zu Recht wütend und alarmiert auf die Stimmengewinne der Nationalen Front. Viele verbinden die "Verteidigung der Republik" mit einem echten Glauben an "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" und mit dem Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Diese ehrlichen Überzeugungen werden allerdings von der PS und anderen Kräften missbraucht, um den bestehenden Politikbetrieb abzusichern und die Entwicklung einer wirklich sozialistischen Alternative zu den Gaullisten und zur "pluralen Linken" (PS, PCF, Grüne) abzublocken.

Der neu gewählte Bürgermeister von Paris, Bertrand Delanoë, der im April einen Enthüllungsbericht über die Korruptionspraktiken von Chirac und seiner Familie während der Amtszeit des jetzigen Präsidenten als Pariser Bürgermeister veröffentlicht hat, sprach zwar von der Notwendigkeit einer "Selbstkritik", wich ihr aber geflissentlich aus. Ohne jeden Beweis behauptete er: "Diese Linke stellt nach wie vor die einzige Kraft dar, die in der Lage ist, wieder eine Verbindung zu den Menschen anzuknüpfen, die sich völlig an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen."

Weshalb sollte man das glauben? Was ist die Bilanz nach fünf Jahren Jospin-Regierung? Welche Resultate zeitigte die jahrzehntelange Regierungsbeteiligung der PS? Sechs Millionen Menschen leben in Frankreich unter der Armutsgrenze, und ihre Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren erhöht. Mehr als anderthalb Millionen fallen unter die Kategorie der "working poor", d. h. sie können trotz eines Vollzeit-Jobs ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Teilzeitarbeit, Leiharbeit und vorübergehende Beschäftigungsverhältnisse breiten sich immer mehr aus, besonders die Jugend ist davon betroffen. Die offizielle Zahl der Arbeitslosen beträgt zwei Millionen, doch dabei bleiben die Menschen unberücksichtigt, die nur zeitweise arbeiten, unterbeschäftigt sind oder zwangsweise frühpensioniert wurden. Die soziale Ungleichheit nimmt zu. Die Lebensverhältnisse der arbeitenden Bevölkerung verschlechterten sich oder stagnierten, während die Erträge der großen Unternehmen im Jahr 2001 um 36 Prozent stiegen.

Jospin und seine Koalition aus den Stalinisten, den Grünen, dem Bürgerblock unter Jean-Pierre Chevènement und der kleinen Partei der Radikalen Linken haben mehr Staatsbetriebe privatisiert als ihre beiden konservativen Vorgängerregierungen zusammen. Die viel gepriesene 35-Stunden-Woche hat die Lebensbedingungen der Beschäftigten nicht verbessert, sondern verschlechtert. Der Stress am Arbeitsplatz hat zugenommen und viele Arbeitgeber nutzten die Möglichkeit, flexible Arbeitsbedingungen einzuführen. Jospin und seine Partei setzten im Wahlkampf auf die Law-and-Order-Karte und halfen Chirac und Le Pen auf diese Weise dabei, eher rückständige Teile der Bevölkerung in erster Linie gegen Jugendliche aus Immigrantenfamilien aufzuhetzen.

Wenn die offizielle Linke wirklich so gute Arbeit geleistet hätte, wie sollte man dann die mageren 15,9 Prozent für Jospin und die Wahlenthaltung in Höhe von 30 Prozent erklären? Die implizite Schlussfolgerung aus der selbstzufriedenen Versammlung am 30. April bestand darin, dass die französische Bevölkerung undankbar und der PS unwürdig ist.

Die Bezeichnung selbstzufrieden ist in diesem Fall eine ziemliche Untertreibung. Bei allen Parolen über die Gefahr von Rechts waren weder die Atmosphäre noch die Reden auf der Versammlung von wirklichem Engagement geprägt.

Die Sozialistische Partei ist eine bürgerliche Partei, die sich der Verteidigung des Profitsystems verschrieben hat. Ihr Personal besteht hauptsächlich aus Angehörigen der Mittelschichten und der oberen Mittelklasse. Sicherlich gibt es in der PS auch Mitglieder, die die Bedrohung durch Le Pen ernst nehmen, doch weiten Teilen des Parteiapparats geht es in erster Linie um die Auswirkungen des Wahlergebnisses auf ihre Karriere und ihre persönlichen Aufstiegschancen. Die Sozialistische Partei kümmert sich deshalb nicht weiter um die Korruptionsvorwürfe gegen Chirac, weil ihre eigenen gewählten Vertreter ihre Ämter ebenfalls als Lizenz zur Selbstbedienung auffassen.

Keiner der Sprecher ließ erkennen, dass ihn die Stimmabgabe für den langjährigen politischen Gegner, Chirac, in die geringsten inneren Konflikte stürzen würde. Delanoë verkündete unter lautem Applaus: "Meine Hand wird nicht zittern, wenn ich nächsten Sonntag für Chirac stimme... Mit dieser Abstimmung können wir uns für unsere republikanischen Überzeugungen aussprechen."

Die Film- und Fernsehschauspielerin Sophie Duez brachte es fertig, die Wahl Chiracs als "linke Tat" darzustellen. Dabei unterlief ihr ein ungewolltes Eingeständnis: "Die Stimmabgabe für Le Pen bedeutet in gewissem Sinne, noch einmal für Lionel Jospin zu stimmen." Die Vorsitzende der Jugendbewegung der PS, Charlotte Brun, schloss sich dieser Aussage an.

Der letzte Redner war François Hollande, der Parteivorsitzende mit dem Charisma eines Buchhalters. Er erklärte den Versammelten: "Für die Rechten anstatt für die Schlimmsten zu stimmen, ist eine moralische Pflicht, eine Bürgerpflicht... Wenn wir für Chirac stimmen, dann nicht für seine uns nur allzu bekannte Person, nicht für seine Politik - die wir bekämpfen - sondern weil wir wissen, dass Jacques Chirac, wenn er am 5. Mai mit überwältigender Mehrheit gewählt wird, kein anderes Mandat haben wird als die Verteidigung der Werte der Republik."

Diese Haltung bedeutet, der französischen Bevölkerung eine gefährliche Passivität einzuflößen. Der ehemalige Gesundheitsminister Bernard Kouchner erklärte während der Veranstaltung gegenüber einem Reporter: "Jacques Chirac wird von der Linken gewählt werden, und es wird notwendig sein, ihn so oft wie möglich daran zu erinnern." Eine solche Aussage ist einfach lächerlich.

Chiracs Lager seinerseits hat deutlich gemacht, dass der Präsident nicht zögern wird, sein gegen die Arbeiterklasse gerichtetes Law-and-Order-Programm uneingeschränkt zu verwirklichen. Weit entfernt, Chirac zu schwächen, stärken die offizielle Linke und ihre Anhängsel seine "moralische" Position und verschaffen ihm mehr Raum für politische Manöver, als er selbst je für möglich gehalten hätte. Die Sozialistische Partei und die übrigen Organisationen, die Wahlkampf für Chirac machen, liefern die Masse der französischen Bevölkerung im Wesentlichen dem Großkapital und seinen politischen Vertretern ans Messer. Auf diese Weise erhalten die Entfremdung und Empörung, die Le Pen Anhänger in die Arme treiben, nur weitere Nahrung.

Die Versammlung der Sozialistischen Partei zeigte eine privilegierte, selbstzufriedene und zutiefst konservative soziale Schicht, die von den Sorgen der breiten Bevölkerungsmassen meilenweit entfernt ist. Mit seinem Schock über Le Pens Wahlerfolg ließ das sozialdemokratische Establishment in Politik und Medien auf seine Weise erkennen, wie stark es sich von der Mehrheit der Bevölkerung abgehoben hat. Dieses Milieu hat nicht die geringste Vorstellung von der Unzufriedenheit und Wut der Millionen Franzosen, die kaum noch über die Runden kommen. Den Amtsträgern der PS und ihren Medienlakaien ging es in den letzten sieben Jahren schließlich nicht schlecht.

Das ungewöhnliche Wahlergebnis - nicht nur der Erfolg Le Pens, sondern auch die zehn Prozent Stimmenanteil für die Parteien der sogenannten "äußersten Linken" - ist ihnen ein reines Rätsel. Die Einstellungen und das Verhalten dieser Schicht in Frankreich widerspiegelt eine allgemeine Tendenz, die in jedem Land erkennbar ist: die zunehmende Selbstisolierung des gesamten politischen Establishments, "links" wie "rechts". Das unvermeidliche Ergebnis wird sein, dass die kommenden politischen Krisen und Klassenkonflikte explosive Formen annehmen werden.

Siehe auch:
1. Mai in Frankreich: 1,5 Millionen demonstrieren gegen den Neofaschisten Le Pen - Die Sozialistische Partei und die Gewerkschaften machen Wahlkampf für Chirac
(3. Mai 2002)
Nein zu Chirac und Le Pen! Für einen Boykott der französischen Wahlen! Ein offener Brief an Lutte Ouvrière, Ligue Communiste Révolutionnaire und Parti des Travailleurs
( 30. April 2002)
Für einen Boykott der Wahlen in Frankreich - Erklärung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale
( 27. April 2002)
Wer hat Le Pen gewählt?
( 26. April 2002)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - Mai 2002 enthalten.)
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