Essener Gymnasiast nahm sich im Unterricht das Leben

Woher kommt die Gewalt an den Schulen?

Der grausame Selbstmord eines 18-jährigen Gymnasiasten in Essen hat nicht nur Entsetzen ausgelöst, sondern auch nach den jüngsten Ereignissen in Erfurt erneut die Frage aufgeworfen, was Schüler dazu treibt, brutale Gewalt gegen sich selbst und/oder andere auszuüben.

Dima K. besuchte die zehnte Klasse der Luisenschule in Essen. Am Dienstag vergangener Woche hatte seine Klasse in der fünften Stunde Deutschunterricht und wie überall in diesen Tagen kurz vor Ende des Schuljahres ging es um Leistungen, Noten und Versetzungen. Als die Deutschlehrerin dem Schüler die Note seiner Klassenarbeit bekannt gab und ihn ermahnte, dass seine Versetzung gefährdet sei, zog Dima K. ein Tranchiermesser mit einer Klinge von 21 Zentimetern aus der Tasche und rammte es sich vor den Augen der Klasse insgesamt zwölfmal in den Bauch. Obwohl umgehend ein Rettungswagen gerufen und im Uniklinikum eine Notoperation durchgeführt wurde, erlag der junge Mann einige Stunden später seinen schweren Verletzungen.

Nach Angaben der Polizei hatte der Gymnasiast das Messer am Vortag mit der Absicht gekauft, sich das Leben zu nehmen; die Quittung fand sich noch in der Schultasche. Zu den Motiven des Selbstmords äußerten die Behörden vage, es habe sich um "schulische und private Probleme" gehandelt. Der Schulleiter Hans Schippmann und befragte Mitschüler konnten keine Erklärung für den blutigen Freitod finden - der ursprünglich aus Moldawien stammende Dima sei kein Einzelgänger gewesen und habe sich in Deutschland gut eingelebt, er sei nicht auffällig gewesen, habe keine Drogen genommen und mit Begeisterung Basketball gespielt. Obwohl er bereits eine Klasse wiederholt hatte und seine Versetzung wieder auf der Kippe stand, sei seine Zukunft an der Luisenschule selbst nicht gefährdet gewesen.

Dima habe schwache, aber auch starke Fächer gehabt, wie viele andere Schüler auch, erklärte Direktor Schippmann und vermutete, dass die Deutschnote vielleicht der letzte Tropfen gewesen sein könnte, der ein Fass von privaten Problemen zum Überlaufen gebracht hat. Weiterhin räumte er Mängel in der Institution Schule selbst ein. "Man müsste sich viel mehr noch um jeden einzelnen kümmern", sagte Schippmann. "Man müsste viel mehr die Leidens- und Lebenswege der Jugendlichen begleiten." Er verteidigte die Deutschlehrerin, die in einer "Standard-Situation" Dimas Leistungen kritisiert habe, und verwies auf strukturelle Gründe für die mangelhafte persönliche Betreuung von Schülern - so werde die Zeit der Lehrer zunehmend von den Verwaltungsarbeiten aufgefressen, die den Pädagogen immer mehr aufgebürdet werden.

Dimas Selbstmord mag dadurch hervorstechen, dass der Jugendliche extreme Gewalt gegen sich selbst verübte und auf besonders grausame und schockierende Art sein junges Leben beendete, aber ein Einzelfall ist er nicht. Es gibt in der Tat gute Gründe, die Ursachen hierfür nicht nur im privaten-zwischenmenschlichen Bereich und der psychischen Verfassung des Jungen zu suchen, sondern einen kritischen Blick auf die Strukturen, d.h. gesellschaftlichen Bedingungen zu werfen, die zu der hohen Zahl an Schülerselbstmorden beitragen.

Selbstmord ist bei Jugendlichen in Deutschland nach dem Unfalltod im Straßenverkehr die zweithäufigste Todesursache. Im Durchschnitt unternehmen täglich 40 Jugendliche in Deutschland einen Selbstmordversuch, und drei von ihnen sterben dabei. Eine Studie der Universität Bremen, bei der Jugendliche im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren an 36 Bremer Schulen befragt wurden, brachte kürzlich ans Licht, dass jeder zehnte Schüler zumindest schon einmal an Selbstmord gedacht hat.

Andere Untersuchungen, die ergeben haben, dass Schüler wesentlich öfter Selbstmord begehen als gleichaltrige Auszubildende oder Arbeiter, verweisen besonders eindringlich darauf, dass das schulische System in der Bundesrepublik eine Mitverantwortung für die hohe Selbstmordquote unter jungen Menschen trägt.

Die Institution Schule dient - nicht nur in Deutschland - nicht allein der Wissensvermittlung und Bildung, sondern ist auch ein Instrument zur Leistungskontrolle und Auslese, das starken Druck auf Kinder und Jugendliche ausübt und sie früh zur Anpassung zwingt. Das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland nimmt eine sehr frühe Auslese bereits im 4. Schuljahr vor, teilt durch die Versetzung von der Grundschule auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium bereits Zehnjährige nach Leistungsfähigkeit und -bereitschaft ein und bestimmt dadurch den weiteren Bildungs- und damit in vielerlei Hinsicht auch den Lebensweg von Menschen schon im Kindesalter.

Der Leistungsdruck, der durch die sozialen Bedingungen und vermittels Schule und Elternhaus auf Kindern und Jugendlichen lastet, wirkt sich destruktiv auf sie aus, lässt Talente verkümmern und erzeugt Angst. Viele Schüler fühlen sich der Schule ohnmächtig ausgeliefert und reagieren darauf mit Schulangst, Depression und Aggression. Schulangst ist weit verbreitet und wird bei vielen Kindern mit Medikamenten "behandelt". Gewalt gegen sich selbst oder andere bleibt im Vergleich dazu - trotz der vielen Selbstmordversuche und der zunehmenden Zahl von Angriffen auf Lehrer und Mitschüler - ein Einzelfall.

Durch ihre Auslesefunktion geht von der Institution Schule eine strukturelle Gewalt aus, die in jeder einzelnen Schule gegenwärtig ist - unabhängig davon, ob die einzelnen Pädagogen oder Schulleiter fähig sind oder nicht. Neben der fehlenden Zeit der Lehrer für ihre Schüler durch Arbeitsüberlastung, die auch der Leiter der Luisenschule angesprochen hat, trägt allerdings auch die Lehrerausbildung dazu bei, dass Probleme bei Schülern nicht bzw. nur in Form einer schlechten Note erkannt werden. Die Lehrerausbildung an den deutschen Universitäten konzentriert sich vor allem auf das Fachwissen, die Didaktik spielt eine untergeordnete Rolle und eine psychologische Ausbildung fehlt praktisch vollkommen. Ebenso wie die Schulen unterliegen auch die Universitäten der Sparpolitik, und die Ausbildung an beiden Institutionen ist in erster Linie ökonomischen Überlegungen unterworfen.

Alle Schulen in Deutschland verursachen Probleme bei Schülern, die verschiedene Formen annehmen und im Extremfall, vor allem bei Bluttaten, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit dringen, und ebenso leiden alle Schulen unter eben diesen Problemen. Die Probleme rühren daher, dass die Schule die Funktion der Auslese und Leistungskontrolle ausübt, die Lehrer nicht angemessen ausgebildet sind und die Schüler allein gelassen werden und einem starken Druck ausgesetzt sind. Aber letztendlich ist auch die Institution Schule ein Opfer der Sparpolitik und nicht mehr als ein Spiegel der Verhältnisse in der gesamten Gesellschaft.

Siehe auch:
Der Amoklauf von Erfurt und die Situation an den deutschen Schulen
(4. Juni 2002 )
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