Französische Fabrikarbeiter diskutieren die Parlamentswahlen

Drei Tage vor der ersten Runde der Wahlen zur Nationalversammlung am vergangenen Sonntag sprach die World Socialist Web Site mit Arbeitern am Fabriktor von Alstom in La Courneuve, einer Vorstadt im Nordosten von Paris.

Alstom ist ein französischer Industriekonzern, der aus einer Fusion der französischen Alcatel und der britischen General Electric Company hervorging. Er ist in den Bereichen Eisenbahn-, Untergrundbahn-, Schiffs- und Kraftwerksbau, sowie in Stromhandel und -Konversion tätig. Der Konzern hat einen Jahresumsatz von 22 Milliarden Euro und beschäftigt rund 120.000 Menschen in über siebzig Ländern.

Die Fabrik in La Courneuve ist ein älteres Werk mit einer langen Tradition an Arbeitskämpfen, die sich in den letzten Jahren gegen Entlassungen und Schikanen richteten. So protestierten und streikten die Arbeiter im Jahr 2000 gegen einen drohenden Stellenabbau. Die Fabrik ist ein Brennpunkt linker politischer Aktivität: Die lokalen Kandidaten der Parti des Travailleurs und der Lutte Ouvrière arbeiten hier. Auch Mitglieder der Ligue Communiste Révolutionnaire sind in diesem Betrieb vertreten.

Wir sprachen mit Produktionsarbeitern, Betriebshandwerkern und Angestellten, wie auch Passanten. Im Großen und Ganzen hatten sie vor, für die "Linke" zu stimmen - in den meisten Fällen für die Sozialistische Partei (SP). Wir sprachen auch mit einem Sympathisanten der Kommunistischen Partei (KPF) und mit einem jungen Angestellten, der vorhatte, die rechte Koalition, die UMP (Union für eine Präsidentenmehrheit) zu wählen, um "ihnen eine Chance zu geben".

Bei diesen Gesprächen entstand der Eindruck, dass die Arbeiter in Frankreich - wie überall - sehr vielfältige und oftmals konfuse Vorstellungen über die aktuelle politische und wirtschaftliche Lage haben. Es herrscht eine große Unsicherheit darüber, was zu tun wäre, und ein Mangel an Vertrauen in die eigene Fähigkeit, die Entwicklung zu verstehen.

Auf die bevorstehenden Parlamentswahlen reagierten die Arbeiter vor den Toren von Alstom im besten Fall verhalten, obwohl auch hier, wie in Frankreich üblich, jeder oder fast jeder eine Meinung hatte.

Die Arbeiter scheinen nicht allzu viel von den Wahlen oder Parteien, die die kommende Regierung stellen, zu erwarten - weder von der offiziellen Linken noch von der Rechten. Warum sollten sie auch, bei den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit?

Es gibt keine Partei und keine führenden Politiker, die sonderliches Interesse oder gar Begeisterungsstürme hervorrufen würden. Die stärksten Worte werden benutzt, wenn es um Angriffe auf diese oder jene Person oder Maßnahme geht: gegen den rechtsextremen Jean-Marie Le Pen, gegen den amtierenden Präsidenten, gegen die 35-Stundenwoche des ehemaligen SP-Premiers Lionel Jospin, gegen jene linken Parteien, die an der Koalitionsregierung von 1997-2002 beteiligt waren. (Ergänzend muss hinzugefügt werden, dass wir trotz der Bemühungen der sogenannten "radikalen Linken" wenig Begeisterung für deren Programm oder Handeln feststellen konnten.)

Wenn auch die Arbeiter kaum Illusionen über die heutigen politischen Parteien oder Gewerkschaften hegen, so verstehen doch die Wenigsten, was mit der unabhängigen politischen Rolle der Arbeiterklasse gemeint sein könnte oder dass etwas Derartiges überhaupt wünschenswert wäre. Jahrzehnte der Vorherrschaft stalinistischer und sozialdemokratischer Bürokratien und ihre Unterordnung der Arbeiter unter die französischen "nationalen Interessen" haben ihren Tribut gefordert.

Als wir mit einem ursprünglich aus Afrika stammenden Arbeiter unsere Auffassung diskutierten, dass die Arbeiterklasse den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl hätte aktiv boykottieren müssen, weil sich zwei reaktionäre Kandidaten (Chirac und Le Pen) gegenüberstanden, war dieser ganz klar dagegen. "Man musste Chirac wählen", sagte er, obwohl er selbst politisch gegen den Gaullistenführer war. "Man muss doch wählen gehen!" Es war ihm noch nie in den Sinn gekommen, die Frage zu stellen: Warum müssen Arbeiter in einer bürgerlichen Wahl eigentlich für Kandidaten stimmen, die ihren eigenen Interessen feindlich gegenüberstehen?

Das Absinken im Niveau des Klassenbewusstseins hängt mit dem Verfall der traditionellen Arbeiterparteien zusammen, deren national-reformistische Programme in einer global integrierten Wirtschaft, die von transnationalen Konzernen beherrscht wird, mehr schaden als nutzen. Obwohl die französischen Stalinisten bereits stark in Auflösung begriffen sind, ist ihr reaktionärer Einfluss immer noch zu spüren. Bezeichnenderweise bestritten viele Arbeiter, dass in ihrer Fabrik jemand für Le Pen und die Nationale Front gestimmt hätte, aber das KPF-Mitglied, mit dem wir sprachen, war ehrlich genug zuzugeben, dass er ehemalige KPF-Wähler kenne, die jetzt die Ultrarechten gewählt hätten. Der Nationalismus der französischen Stalinisten, der zuweilen bis zur Fremdenfeindlichkeit reichte, hat verheerende Auswirkungen und hat Arbeiterschichten für die chauvinistische, pseudo-populistische Demagogie von Le Pen empfänglich gemacht.

Die Gruppen der kleinbürgerlichen Linken reagieren auf die Krise der Kommunistischen Partei mit Bestürzung, oder sie sehen sie hauptsächlich als willkommene Gelegenheit, enttäuschte Stalinisten für sich zu gewinnen. In Wirklichkeit diente die KPF jahrzehntelang als Stütze des französischen und europäischen Kapitalismus. Obwohl das Ende ihrer Dominanz mit einer vorübergehenden Beeinträchtigung des politischen Verständnisses in der Arbeiterklasse einhergeht, ist es doch ein durchaus begrüßenswertes Phänomen, das den Weg für eine gründliche Klärung und echte Wiedergeburt einer internationalistischen und sozialistischen Strömung in der französischen Arbeiterklasse freimacht.

Im Folgenden sind einige der Diskussionen wiedergegeben, die wir in La Courneuve führten.

Mamadou, stammt ursprünglich aus Gambia:

Ich glaube, die Leute hier werden die Linke wählen, aber ich bin nicht sicher. Die Kampagne läuft nicht gut, sie ist ziemlich tot.

Meiner Meinung nach hat die Jospin-Regierung den Unternehmern zu viele Geschenke gemacht. Er hat die 35-Stundenwoche sehr schlecht umgesetzt. Die Unternehmer lassen uns jetzt zur Arbeit kommen, wann immer sie wollen. Einige von ihnen haben eine Menge Geld verdient. Die Regierung hat den Betrieben viele Subventionen bezahlt, und dann haben sie doch keine Neuen eingestellt. Leute, die in Rente gingen, wurden nicht ersetzt. Das war ein übler Trick. Die 35-Stundenwoche war doch eigentlich dazu gedacht, Arbeitsplätze für andere zu schaffen. Ich bin nicht damit einverstanden, wie es gelaufen ist.

Die Kommunistische Partei ist hier ziemlich stark. Sie hat hier die größte Gewerkschaft, die CGT. Doch nicht jeder wählt die KPF. Die Leute sind abgestoßen. Die KPF war in der Regierung und hat nichts gemacht.

Zum Beispiel sollten die Kurzarbeiter eigentlich weiter bezahlt werden. Die Unternehmer haben die Situation ausgenutzt und sie einfach entlassen. Ich habe noch nie einen Unternehmer gesehen, der einem Arbeiter ein Geschenk gemacht und ihn freiwillig weiter bezahlt hat, wenn er zu Hause saß.

Die Leute hier stimmen nicht für Le Pen. Nicht die Leute, die hier arbeiten. Le Pen hat in Stadtvierteln Unterstützung, wo es Probleme gibt. Le Pen wird nicht einem einzigen Arbeit geben. Er ist ein Dieb, der seine Taschen damit füllt, dass er die unterschiedliche Herkunft der Menschen ausnutzt.

Der zweite Wahlgang der Präsidentschaftswahl? Wir hatten keine andere Wahl, als Chirac zu wählen. Man muss doch wählen! Wir konnten die Wahl nicht boykottieren. Die CGT hat nicht zur Stimmabgabe für Chirac aufgerufen. Sie sagten, wählt wen ihr wollt. Chirac hat achtzig Prozent der Stimmen erhalten, weil die Leute vor Le Pen Angst hatten. Aber diesmal werden sie nicht für Chirac stimmen.

André, der in der Cafeteria der Fabrik arbeitet

Jospin hat Fehler gemacht. Aber ich glaube an [den SP-Vorsitzenden] Hollande. Er ist besser motiviert. Ich glaube nicht, dass er es wie Jospin machen wird. Er ist viel offener.

Es gibt eine Menge Leute, die hier die KPF wählen, auch die SP. Die "äußerste Linke"? Die kenn‘ ich nicht.

Was die Präsidentschaftswahlen betrifft, musste man Chirac wählen. Das war klüger, als Le Pen zu wählen. In Wirklichkeit hatten wir keine Wahl, das stimmt. Aber man musste Chirac wählen. Die Wahl nächsten Sonntag ist wichtig, und auch was danach geschieht. Ich glaube, die Menschen werden zur Wahl gehen.

Ich denke, "Kohabitation" [zwischen Chirac und einer SP-geführten Regierung] könnte eine gute Sache sein. Was die Arbeitszeitverkürzung betrifft, so hat sich dadurch für mich die Lage verbessert, weil ich in der Cafeteria arbeite.

Es kann sein, dass einige Leute hier für Le Pen gestimmt haben, aber sie sagen es nicht offen. Wir sind hier immerhin Metallarbeiter.

Thierry, der Besitzer einer kleinen Consulting-Firma

Ich habe ein kleines Geschäft, eine Consulting-Firma mit weniger als zehn Personen. Ich bin gegen die 35-Stundenwoche, weil es die Arbeitsdynamik schwächt. Im Allgemeinen ist es schwierig, Leute zu finden, die arbeiten wollen. Sie interessieren sich für andere Dinge. Das erste, was ein potentieller Angestellter wissen will, ist: Wie sieht meine Arbeitszeit aus? Wie viel Freizeit werde ich haben? Kleine Unternehmen haben Probleme, die 35-Stundenwoche umzusetzen, und dann werden sie bestraft. Jospin hat der französischen Wirtschaft nicht besonders geholfen.

Die Leute sagen unter anderem, dass das Problem mit der Nationalen Front wegen der Machenschaften der Linken entstanden ist. Das hat schon unter François Mitterrand [ehemaliger Staatspräsident, Sozialistische Partei] begonnen, der sie gegen die offizielle Rechte benutzt hat. Dann wurde die FN immer größer, was nicht beabsichtigt war, und wurde zu einem Problem, das sie jetzt nicht mehr loswerden.

Ein Arbeiter aus Marokko

Ich glaube, es gibt in Frankreich zu viele Freiheiten. Die Jugend macht, was sie will, und dadurch gibt es in den Städten viele Probleme. Das ist wie mit einem Baum, man muss ihn von jung auf gerade wachsen lassen.

Viele interessieren sich für die Wahlen, es gibt Diskussionen darüber. Ich selbst bin nicht so stark daran interessiert. Was Le Pen angeht, so ist er gerade wie die übrigen Politiker, er sorgt in erster Linie für sich selbst. In der Fabrik gibt es drei oder vier Parteien. Ich bin erst 32 Jahre in Frankreich. Ist das lange? Ich habe keine Wahlberechtigung, und so kann ich am Sonntag nicht wählen.

Roger Mansuy, Mitglied der Kommunistischen Partei und Verwaltungssekretär des Vertrauenskörpers

Die Leute merken, dass die 35-Stundenwoche eine Katastrophe war. Es war ausschließlich negativ. Eigentlich sollten die Bedingungen vor Ort ausgehandelt werden, aber die Gesellschaft hat nicht verhandelt. Es wurde einfach eingeführt. Man muss die Situation in einem konkreten Konzern berücksichtigen.

Die Kommunistische Partei war in der Regierung, das ist wahr. Mich stört es nicht, dass kommunistische Minister in dieser Regierung waren. Sie haben versucht, Druck auf die Sozialisten auszuüben, aber die Sozialisten haben ihre Versprechen nicht gehalten. Jetzt lassen die Leute die Kommunisten dafür bezahlen.

Die Kommunistische Partei hat Stimmen verloren, weil sie sich nicht im besten Licht präsentiert und die wahren Werte der Kommunistischen Partei nicht in den Vordergrund gerückt hat. Sie ist vollkommen in der linken Koalition aufgegangen. Jetzt sieht es für die Leute so aus, als sei alles dasselbe, Linke wie Rechte. Es gibt Kommunisten, die zur Partei zurückkommen, weil wir weniger als fünf Prozent der Stimmen erhalten haben, was wir eigentlich nicht verdient haben. Sie wollen nicht, dass die Partei von der Bildfläche verschwindet.

Es gibt Leute, die früher kommunistisch gewählt haben und jetzt für Le Pen stimmen. Ich wollte es nicht glauben, aber es kommt vor.

Die "äußerste Linke" [Lutte Ouvrière, Ligue Communiste Révolutionnaire] ist in der CFDT und der FO [zwei Gewerkschaften] organisiert. Im Allgemeinen will ich nicht behaupten, dass sie für die Direktion seien, aber sie sind bereit, alles zu unterschreiben. Arlette Laguiller [Lutte Ouvrière] sagt: "Schaut euch die Linke an, es sind alles Verräter, alles Lügner, stimmt für mich - aber ich werde auch nichts tun, weil ich nichts tun kann."

Die Mehrheit hier ist in der CGT [stalinistisch geführte Gewerkschaft] organisiert. Ein Problem, das wir in Frankreich haben, anders als in Deutschland oder den USA, besteht darin, dass nicht jeder, der in der Fabrik arbeitet, automatisch in eine Gewerkschaft eintritt. Man hat die Wahl, ob man in einer Gewerkschaft Mitglied sein will oder nicht. Oftmals profitieren die Leute, die gar nicht gekämpft haben, von den Dingen, die wir erkämpft haben. Das sind dann die ersten, die sehr stark darauf achten, was sie gewonnen haben.

Was die Sowjetunion betrifft, so kann ich nichts dazu sagen, weil ich meinen Fuß noch nie dorthin gesetzt habe.

Hier arbeiten etwa 500 Leute. In den Sechzigerjahren waren über 3.000.

Patrick, ein Angestellter

Die Jospin-Regierung hat zu viele Kompromisse gemacht. Ich weiß nicht, wie die Parlamentswahlen ausgehen werden, aber es scheint ziemlich wahrscheinlich, dass die Rechte eine Mehrheit erhalten wird.

Ich bin von Natur aus Anarchist, wenn auch keiner, der Bomben schmeißt. Ich bin dafür, dass die Leute sich selbst verwalten, aber es wird wahrscheinlich noch einige Generationen dauern, bis es soweit ist.

Was die Weltereignisse betrifft, und die Bush-Regierung und den Krieg, den die USA führen, so denke ich, dass wahrscheinlich die amerikanische Regierung im besten Fall die Terroristen bei ihrem Anschlag vom 11. September einfach hat gewähren lassen, und im schlimmsten Fall ihnen dabei sogar geholfen hat. Es scheint fast unfassbar, dass die Flugzeuge mit einer solchen Präzision in die Zwillingstürme gelenkt werden konnten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass einer der Gründe für den Krieg gegen Afghanistan in der Tatsache liegt, dass sie Kriegsmaterial und Waffen verkaufen müssen. Das steckt auch hinter den Ereignissen mit dem Irak.

Pierre, ein Ingenieur

Was die Nationale Front betrifft, so bin ich der Meinung, dass tatsächlich die Unsicherheit [Angst vor Kriminalität] dahinter steckt, aber es führt zu nichts, die Immigranten dafür verantwortlich zu machen.

Ich verstehe nicht, warum in Regionen, wo es keine Probleme mit Arbeitslosigkeit oder hoher Kriminalität gibt, wie zum Beispiel in den Alpen, die Leute trotzdem für Le Pen gestimmt haben.

Ich werde die UMP wählen. Ich denke, man sollte ihnen eine Chance für die nächsten fünf Jahre geben. Ich glaube nicht an die "Kohabitation". Aber gleichzeitig bin ich der Ansicht, auch Jospin hat gute Dinge gemacht. Es ist mir nicht ganz klar.

Siehe auch:
Parlamentswahlen in Frankreich: Rechte gewinnen klare Mehrheit in der Nationalversammlung
(12. Juni 2002)
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