Straßburg:

Der "zufällige" Tod eines Vierjährigen

Offiziell war der Tod des vierjährigen Bilals, der am 19. Mai im Straßburger Wohnviertel Meinau in einen Fahrstuhlschacht stürzte, ein tragischer Unfall, für den niemand verantwortlich gemacht werden konnte. Aus der Nähe besehen wirft er jedoch ein bezeichnendes Licht auf die tagtäglichen Wohnbedingungen von Arbeiterfamilien in Frankreich.

Was ist geschehen?

Bilals Familie, die letztes Jahr aus Meinau weggezogen war, besuchte am Pfingstsonntag ihre ehemaligen Nachbarn im ersten Stock eines Meinauer Wohnblocks. Nach dem Frühstück wurden die Kinder losgeschickt, um bei einer Nachbarin im dritten Stock Gries und Minze abzuholen. Sie begannen im Treppenhaus zu spielen und stiegen bis in den fünften Stock hinauf, wo der kleine Bilal die Fahrstuhltür öffnete, um per Lift wieder hinunterzufahren. Doch der Fahrstuhlschacht war leer, und Bilal stürzte fünfzehn Meter in die Tiefe. Schwer verletzt wurde er ins Krankenhaus gebracht, wo er kurze Zeit später seinen Verletzungen erlag.

Noch am gleichen Tag stellten die Männer von Feuerwehr und Polizei entsetzt fest, dass sich die Lifttüren auf allen Stockwerken öffnen ließen. Zuweilen brannte sogar die kleine Kontrollleuchte, als würde der Fahrstuhl auf dieser Etage stehen, obwohl er in Wirklichkeit außer Betrieb im Erdgeschoss stand. Einige Türen war mit Klebeband provisorisch abgesperrt.

Sofort erklärte die Gesellschaft CUS Habitat - Verwalterin der Sozialwohnungen im Großraum Straßburg -, es könne sich nur um einen böswilligen Sabotageakt gehandelt haben. Im übrigen verwies sie darauf, dass die technische Überwachung der Fahrstühle in der Hand der Firma AMS liege. AMS erklärte ihrerseits, es sei keine Pannenmeldung eingegangen. Ihrer Meinung nach sei eine technische Panne in diesem Fall auszuschließen, da sich die Türen überhaupt nur öffnen ließen, wenn der Fahrstuhl auf der Etage halte.

Der Staatsanwalt brachte die Möglichkeit ins Spiel, dass Drogenabhängige oder -Händler ihre Ware im Liftschacht deponiert und deswegen die Türen gewaltsam aufgebrochen hätten. Polizisten mit Drogenhunden tauchten auf und durchschnüffelten das Gebäude - doch ohne Ergebnis.

Die Nachbarn und Anwohner von Meinau reagierten mit spontaner Anteilnahme: Hunderte besuchten die betroffene Familie, versammelten sich noch Tage später vor dem Haus und legten Blumen, Plüschtiere und Karten nieder. Die Haustür wurde mit einer marokkanischen Fahne geschmückt, da Bilals Eltern ursprünglich aus Marokko stammen. Die Schriftzüge lauteten: "Unglücksgebäude", "Bilal, wir lieben dich" oder "Die CUS hat ein Kind getötet" [CUS - Communauté urbaine de Strasbourg, Stadtgemeinde Straßburg].

Anwohner bestätigten, dass die Fahrstühle, die noch aus den späten fünfziger Jahren stammen, sehr oft außer Betrieb sind, und der Lift im betroffenen Haus schon seit Tagen ohne Sicherung stillstand. Eine 29-jährige Bewohnerin des Hauses erzählte, dass sie vierzehn Tage zuvor mit ihrem Babywagen den Aufzug benutzen wollte und erst im letzten Moment merkte, dass sie dabei war, den Wagen ins Leere zu schieben.

Die Spitze eines Eisbergs

Bilals tragischer Tod ist nur die Spitze eines Eisbergs. Die Vernachlässigung und Schlamperei, die in den Arbeitervierteln von Meinau - wie in zahlreichen Wohnvierteln des französischen staatlichen Sozialwohnungsbaus HLM - an der Tagesordnung sind, mussten früher oder später zu einem Unfall führen.

Vor einem Jahr war in Clichy-sous-Bois bereits ein anderes Kind auf dieselbe Weise zu Tode gestürzt: Ein neunjähriger Junge fiel aus der 13. Etage in die Tiefe eines Fahrstuhlschachts, weil sich die Etagentür öffnen ließ, obwohl der Lift unten stand. Da man Beschädigungen an der Tür feststellen konnte, wurden damals die Firma und die Wohnbaugesellschaft mit dem Argument entlastet, es habe sich möglicherweise um einen Sabotageakt gehandelt.

Nur wenige Tage nach Bilals Tod stürzte eine 29-jährige Frau in der Gegend von Montbéliard (Doubs) in den Liftschacht, zum Glück nur im Erdgeschoss, so dass sie keine schweren Verletzungen davontrug.

Die Gewerkschaft CGT der Beschäftigten der Fahrstuhlunternehmen bestätigte am 20. Mai die "extreme Überalterung" vieler im sozialen Wohnungsbau eingebauter Fahrstühle und forderte eine Generalüberholung durch die Wohnbaugesellschaften. Vor einem Jahr hatte eine Überprüfung von sechzig Liften im Raum Straßburg bereits ergeben, dass viele von ihnen extrem baufällig waren. Die CUS Habitat bestätigte, dass seit Anfang des Jahres ein Programm angelaufen sei, um sämtliche 671 Fahrstühle ihrer Wohnblöcke zu überprüfen.

Davon haben die Menschen in Meinau bisher wenig gemerkt. So berichtete Bilals Vater, Zakaria Wahibi, gelernter Schweißer und selbst als Hauswart bei CUS Habitat angestellt, dass die Instandsetzungs- und Wartungsarbeiten in den Häusern "immer nur schnell-schnell" gemacht werden. "Das ist Flickschusterei nach der Methode von Mac Gyver" [MacGyver - Protagonist einer TV-Serie].

Die These, hier könnte es sich um die Sabotage eines Drogenabhängigen gehandelt haben, kommentierte Wahibi: "Das war kein Sabotageakt. Die Spürhunde der Polizei haben gar nichts gefunden. Die wirkliche Sabotage geht von CUS Habitat und von AMS aus. Dieser Fahrstuhl zeigte viele Anomalitäten, das haben auch die Experten bestätigt."

Wahibi sprach am Dienstag mit den Journalisten, als eine Abordnung der Justizbehörde den Ort des Geschehens besichtigte. Wahibi erklärte, er werde selbst Anzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen Unbekannt erstatten.

Am Vortag war ein Firmenwagen der AMS-Fahrstuhltechniker von wütenden Jugendlichen angezündet worden, und in der folgenden Nacht ging ein zweiter Wagen, diesmal von CUS Habitat, in Flammen auf. Wahibi appellierte an die Aufgebrachten: "Das bringt mir meinen Sohn nicht zurück. Ich verurteile Gewalt!"

Erster GIR-Einsatz

Die Antwort der verantwortlichen französischen und Straßburger Politiker auf die Geschehnisse in Meinau erfolgte postwendend. Am 22. Mai - drei Tage nach Bilals Tod - wurde Meinau zum ersten Testfeld der neugeschaffenen Polizeitruppe GIR [GIR- Groupements d'intervention régionaux, Regionale Interventionsgruppe].

Schwer bewaffnete Uniformierte durchkämmten das Viertel und nahmen elf Personen fest. Die Razzia führte zur Beschlagnahmung von Videobändern, 15.000 Euros und zweier Waffen, einer 357er Magnum-Pistole und einem Karabinergewehr. Hernach wurde erklärt, es habe sich um "eine exemplarische Operation gegen die Mafia in den sensiblen Vierteln" gehandelt.

Chiracs neuer Innenminister Nicolas Sarkozy hielt sich persönlich in Straßburg auf, um den ersten Einsatz der GIR, einer aus Polizei, Gendarmerie, Zoll- und Steuerbehörde kombinierten Sondertruppe zu überwachen, deren Existenz erst zwei Tage später - am 24. Mai - in einer "interministeriellen Erklärung" offiziell beschlossen werden sollte. Sarkozy besichtigte bei dieser Gelegenheit das neue Polizeipräsidium von Straßburg, bezeichnete die Stadt des Europaparlaments als "durch das Verbrechen geschädigt" und kündigte an, die Nachbarschaftspolizei (police de proximité) mit Gummigeschossen auszurüsten.

Die Intervention war als Teil des Wahlkampfs der Rechten für die bevorstehenden Parlamentswahlen ausgelegt. Die Rechten haben die Innere Sicherheit, die Aufrüstung des Staatsapparats und ein hartes Durchgreifen in "Problemvierteln", zum zentralen Thema gemacht.

Sarkozy will für die nächsten fünf Jahre sechs Milliarden Euro zusätzlich für Innere Sicherheit locker machen. Seine 28 Regionalen Interventionsgruppen (GIR) werden als Speerspitze im Kampf gegen Schattenwirtschaft und Kriminalität angepriesen. Sie verfügen über uneingeschränkte Handlungsvollmachten und sollen "das permanente Gefühl von Unsicherheit, das in der Bevölkerung vorherrscht," bekämpfen.

Ein Gefühl der Sicherheit zu schaffen, das ist ihnen bei den Bewohnern von Meinau wohl kaum gelungen. Stattdessen fühlen sich die Anwohner verletzt und provoziert. Viele befürchten, dass es jetzt erst recht zu gewaltsamen Reaktionen kommet.

Rudi Wagner, Direktor des Nachbarschaftsvereins Prévention et action sociale à Meinau konnte nur den Kopf schütteln: "Das ist hier wohl nicht der richtige Moment, noch eins draufzusetzen. Man hätte Rücksicht darauf nehmen müssen, dass der Tod dieses Jungen Emotionen hervorgerufen hat, die das Gefühl der Anwohner noch verstärken, dass sie hier der letzte Dreck sind."

Edmond Stenger, der Staatsanwalt von Straßburg, der sowohl für den Fall Bilal als auch für die Festgenommen bei der GIR-Intervention zuständig ist, versuchte zu beschwichtigen: Die Razzia sei das Ergebnis einer langen gerichtlichen Untersuchung und durchaus nicht bloß Herrn Sarkozys Initiative. "Das Team ändert sich, aber die Praktiken bleiben dieselben", sagte er.

Gleichzeitig merkten Zeitungen an, dass Sarkozy mit der GIR nur das vollende, was sein sozialdemokratischer Vorgänger Daniel Vaillant von langer Hand vorbereitet habe. Dieser habe bereits vor einem Jahr sogenannte "gezielte Operationen" eingeführt und sie dreißig Mal praktiziert. Das Departement Straßburg und Umgebung sei seit langer Zeit zum ersten Operationsfeld erklärt worden.

In Meinau werden wie in einem Prisma die Faktoren deutlich, die zum Ergebnis der jüngsten Präsidentschaftswahl führten. Die Wut über die Arroganz und Gleichgültigkeit der etablierten Politiker, der rechten wie der linken, die einst funktionierende soziale Einrichtungen - zu denen auch der staatliche Sozialwohnungsbau HLM gehört - vernachlässigt und heruntergewirtschaftet haben, drückte sich in der Wahl in einer massiven Stimmenthaltung und hohen Ergebnissen für die Nationale Front aus. In Meinau entsprach das Ergebnis dem nationalen Durchschnitt. Die extreme Rechte erzielte 19 Prozent bei einer Wahlenthaltung von 28 Prozent.

Siehe auch:
Die soziale Lage in Frankreich
(7. Juni 2002)
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