Börsenkrise bringt Bush ins Wanken

Im Nachgang der Rede, die George W. Bush am 9. Juli an der Wall Street hielt, wird immer deutlicher, dass seine Regierung in eine politische Krise geraten ist, die ihre weitere Existenz in Frage stellt.

Die Art und Weise, in der die Regierung im letzten Monat ins Schwimmen geriet, hat all die Experten und Meinungsforscher widerlegt, die früher behauptet hatten, die Bush-Regierung sei stabil und unverletzlich. Bush steckte bereits nach seinen ersten neun Monaten im Präsidentenamt tief in der Krise, war durch den Zusammenbruch des Aktienbooms erschüttert und perplex und sah sich einem immer stärker werdenden wirtschaftlichen Abschwung und der zunehmenden internationalen Isolation seiner Regierung konfrontiert.

Die Ereignisse des 11. September waren politisch gesehen ein Geschenk des Himmels. Sie lieferten der Regierung einen casus belli, um die Aufmerksamkeit einer benommenen Öffentlichkeit von den reaktionären Folgen ihrer Politik abzulenken und das Land in ein blutiges Abenteuer in Afghanistan zu treiben. Die Regierung begrub ihre Probleme hinter dem Krieg, gab ständig Warnungen vor neuen Terrorangriffen aus und verschaffte sich so eine zehnmonatige Atempause.

Bushs kriegerische Pose entsprang der Schwäche, nicht der Stärke. Die vorhandenen ökonomischen und politischen Widersprüche gewannen weiter an Schärfe und machen sich nun auf einem höheren und explosiveren Niveau wieder geltend.

Das Urteil der Märkte über Bushs Versuche, seine Regierung von den Unternehmensskandalen zu distanzieren und neues Vertrauen in das System des "freien Unternehmertums" zu wecken, war schnell und brutal. Am Dienstag, dem Tag seiner Rede an der Wall Street, fiel der Dow Jones um 178,8 Punkte, nachdem er am Montag bereits um 104,6 Punkte gefallen war.

Der Nasdaq fiel um 24,5 Punkte, nachdem er am Tag zuvor schon 42,7 Punkte verloren hatte. Der Standard & Poors Index sank um 24,1 Punkte und verdoppelte damit den Verlust vom Montag, der 12 Punkte betragen hatte.

Der Aderlass setzte sich am Mittwoch noch stärker fort, wobei der Dow Jones um weitere 282,6, der Nasdaq um weitere 35,1 und der S&P um 32 Punkte fielen. Als am Mittwoch die Börse schloss, hatten sowohl der Nasdaq als auch der S&P ihren tiefsten Stand seit fünf Jahren erreicht, der Technologieindex Nasdaq hatte annähernd drei Viertel seines Spitzenwertes vom März 2000 verloren.

Diese Verluste wurden angetrieben durch die gleichzeitige politische Krise und finanzielle Kernschmelze, die in ihrem Zusammenspiel die Regierung ins Wanken bringen. Dem Vertrauen in die Wirtschaft wurde am Dienstag ein weiterer Schlag versetzt, als bekannt wurde, dass der Pharmariese Merck seine Bücher gefälscht und mehr als 12 Milliarden Dollar an Einnahmen verbucht hatte, die in Wirklichkeit nie erwirtschaftet worden waren. Am Mittwoch beschuldigte die Staatsanwaltschaft zwei weitere Firmen, KPMG und BDO Seidman, Steuergesetze missachtet und Hunderten Klienten und Unternehmen dabei geholfen zu haben, Steuern in Milliardenhöhe zu hinterziehen.

Am Donnerstag erholten sich der Nasdaq und der S&P ein wenig, und der Dow Jones, der zu Beginn des Handelstages um mehr als 200 Punkte gefallen war, schloss am Ende mit einem kleinen Verlust von 12 Punkten. Aber die Märkte wurden erschüttert, als einer der führenden Finanzberater die Aktie von General Motors von "Kaufen" auf "Halten" abwertete und damit einen Run auf die Aktie des Automobilherstellers auslöste. Die Liste der großen Unternehmen, die überprüft werden, wuchs mit der Ankündigung der Börsenaufsicht (SEC), den Pharmakonzern Bristol-Myers wegen vermuteter Aufblähung seiner Bücher um 1 Milliarde Dollar im vergangenen Jahr einer Untersuchung zu unterziehen.

Ungeachtet der leichten Erholung der Börse am Donnerstag ist die generelle Stimmung unter den Investoren weiterhin trübe. Die Spätnachrichten des Senders ABC zeigten einen Wirtschaftsanalytiker, der die Stimmung als "verzweifelt" beschrieb. Es wurde auch berichtet, dass Investoren in nie gekanntem Ausmaß aus aktienbasierten Investmentfonds fliehen und allein im Monat Juni Gelder in Höhe von 15 Milliarden Dollar daraus abzogen.

In der gleichen Sendung wurde ein Interview mit Kevin Phillips gebracht, dem Autor des neuen Buches Wealth and Democracy (Reichtum und Demokratie), der anmerkte, dass die durchschnittliche Entlohnung der zehn bestbezahltesten Vorstandsvorsitzenden in den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr 155 Millionen Dollar betrug. Das Honorar von Vorstandsvorsitzenden, erklärte er, entsprach vor zwei Jahrzehnten noch dem Zehnfachen eines durchschnittlichen Arbeitslohns, während es heute auf das 410fache eines Durchschnittsgehalts anwachsen ist.

Bushs Rede wurde von großen Teilen der Medien und sogar von einigen Republikanern kritisiert, weil er zwar ein hartes Vorgehen versprach, unter anderem höhere Gefängnisstrafen für illegale Geschäftspraktiken, aber gleichzeitig jeden ernsthaften Vorschlag hinsichtlich einer stärkeren staatlichen Regulierung der Wirtschaftsprüfungsunternehmen oder Maßnahmen zur Unterbindung der gröbsten Missbräuche durch Unternehmen vermied. Bush erwähnte beispielsweise nicht die gängige Praxis von Wirtschaftsprüfern, die gleichen Konzerne zu beraten, für die sie auch als Prüfer arbeiten. Er schloss sich auch nicht der Forderung an, Aktienoptionen zu kontrollieren, die derzeit an Führungskräfte vergeben werden, ohne dass sie als Ausgabe des Unternehmens verbucht werden.

Bezeichnend für Bushs politische Schwäche ist die Tatsache, dass sich am Mittwoch Republikanische Senatsmitglieder mit den Demokraten zusammenschlossen, um einstimmig eine Reihe von Maßnahmen zur Verhinderung von Betrügereien durchzusetzen, gegen die sich die Regierung zuvor gesperrt hatte.

Bushs Rede verschärfte den Konflikt, der in den obersten Rängen der herrschenden Elite Amerikas wütet. Hier fürchtet man, dass das Land sein "Vertrauen in das System des freien Markts verlieren könnte", wie Bush selbst es am Montag in einer Pressekonferenz formulierte. Es breitet sich immer mehr das Gefühl aus, dass die Politik der Bush-Regierung im Innern wie im Äußern zu einer derartigen sozialen und politischen Krise führen könnte, wie sie seit der Großen Depression der 30er Jahre nicht mehr erlebt wurde.

Diejenigen Teile des wirtschaftlichen und politischen Establishments, die noch irgendein Gespür für die Stimmung in der normalen Bevölkerung besitzen und die wachsende Wut über den Schwindel, Betrug und die Selbstbereicherung oder über die obszön hohen Gehälter in den Vorstandsetagen und die jahrzehntelange Verheimlichung der Firmenkriminalität wahrnehmen, wissen, dass Bushs absurde Versuche, die Krise auf einige Übeltäter zurückzuführen, die Sache nur noch schlimmer machen.

Die heftigen Differenzen in den herrschenden Kreisen sind der Grund dafür, warum die Medien sich zunehmend auf die persönlichen Geschäfte und Wirtschaftskarrieren von Bush und Vizepräsident Dick Cheney konzentrieren. Nachdem sie jahrelang die dubiosen Wege ignorierten, auf denen es Bush vom gescheiterten Geschäftsmann zum Multimillionär brachte - unter anderem ein Insidergeschäft mit Aktien von Harken Energy, als Bush im Vorstand der Firma saß und von ihr als Berater angestellt war -, sind die großen Zeitungen und Sender jetzt dazu übergegangen, die Vergangenheit des Präsidenten als Geschäftsmann grell auszuleuchten.

Eine Reihe von Artikeln und Fernsehberichten haben Bushs Heuchelei herausgestrichen, wenn er die Kompensationskomitees der Unternehmen auffordert keine Kredite an Führungskräfte zu vergeben, wie er es in seiner Rede an der Wall Street getan hat - schließlich hatte Bush selbst von Harken mehr als 180.000 Dollar in Form eines Kredits erhalten, der ihm später von der Firma "erlassen" wurde.

Die Vorwürfe gegen Vizepräsident Cheney sind vom juristischen Standpunkt aus gesehen möglicherweise noch ernster. Am Mittwoch erklärte die rechte Organisation Judicial Watch, dass sie eine Klage gegen die in Dallas ansässige Firma Halliburton und deren ehemaligen Buchprüfer Arthur Andersen anstrengt. Judicial Watch wirft ihnen vor, Halliburtons Einkünfte auf illegale Weise um mehr als 400 Millionen Dollar aufgebläht zu haben, und nannte direkt Cheney, der von 1995 bis 2000 im Vorstand von Halliburton saß, als einen der Beschuldigten.

Im vergangenen Mai gab die Börsenaufsicht (SEC) die Überprüfung von Halliburton bekannt, da der Verdacht auf Buchhaltungsbetrug aufgekommen war, der die Periode von Cheneys Amt bei der Firma betraf. Diese Ankündigung rief damals in den Medien allgemein kaum eine Reaktion hervor. Aber als am Mittwoch die ziemlich obskure Organisation Judicial Watch die Zivilklage gegen Cheney ankündigte, wurde dies von den meisten Fernsehsendern als Meldung aufgegriffen und sogar in der internationalen Presse ausführlich behandelt.

Am Donnerstagabend zeigten die Spätnachrichten des Senders ABC ein Video, das Cheney zu seiner Zeit als Vorstandsmitglied bei Halliburton gemacht hatte und in dem er die Buchprüfungsfirma Arthur Andersen lobt, die inzwischen wegen Behinderung der Justiz verurteilt wurde, nachdem sie die Akten von Enron vernichtet hatte.

In einem solchen Ausmaß hat sich also der politische Wind in der herrschenden Elite selbst gegen die Bush-Regierung gewendet. Judicial Watch ist als Organisation nicht auf Seiten der Demokratie oder der arbeitenden Bevölkerung. Finanziert von dem äußerst rechten Republikaner und Multimillionär Richard Mellon Scaife spielte sie eine verabscheuungswürdige Rolle bei der Unterstützung der Klage von Paula Jones und der politischen Verschwörung gegen Clinton, die im Monica-Lewinsky-Skandal und dem Amtsenthebungsverfahren gipfelte.

Dass diese Organisation sich dafür entscheidet Cheney zu verklagen und dabei derartige Aufmerksamkeit von Seiten der Medien erhält, ist ein Anzeichen dafür, welche enormen Ausmaße der Konflikt innerhalb des Establishments angenommen hat. Teile der herrschenden Elite haben ihr Vertrauen in die Bush-Regierung verloren und erwägen einen Personalwechsel auf höchster Ebene.

Ironischerweise fallen dieselben Methoden, die zur Hexenjagd auf Clinton benutzt wurden, jetzt auf die Bush-Regierung zurück. Ein Wendepunkt in der Kampagne der Republikaner gegen die Clinton-Regierung war die einstimmige Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Jahre 1997 zugunsten von Paula Jones, die damit durchsetzte, dass ihre Klage umgehend vor einem Gericht verhandelt wurde und nicht bis zum Ende von Clintons Amtszeit zurückgestellt werden durfte. Auf der Grundlage dieses Präzedenzfalles können weder Cheney noch Bush eine Immunität in Bezug auf Klagen wegen ihrer vergangenen Geschäftspraktiken geltend machen, und beide können dazu gezwungen werden unter Eid auszusagen.

Die Auflösungserscheinungen in der Bush-Regierung sind Ausdruck einer wachsenden Krise der bürgerlichen Herrschaft und des Profitsystems selbst. Sie sind das Ergebnis von Jahrzehnten, in denen die Widersprüche des amerikanischen und des weltweiten Kapitalismus zugenommen haben, auch wenn sie zum Teil nicht sichtbar waren und durch ein explosives Anwachsen von fiktivem Kapital ausgeglichen wurden. Dieselben Methoden, mit denen Reichtum und Profite erzeugt wurden - Buchhaltungstricks, aufgeblähte Einkünfte und ein generelles Ausplündern der amerikanischen Bevölkerung - haben die vorhandene Krise nur verschärft. Die soziale Ungleichheit und Klassenspaltung in Amerika hat ein beispielloses Niveau erreicht.

Im Zusammenspiel mit dem wirtschaftlichen und sozialen Niedergang ist das politische System soweit degeneriert, dass es mit demokratischen Rechten und den grundlegendsten Bedürfnissen der großen Bevölkerungsmehrheit nicht mehr zu vereinbaren ist. In diesem Prozess spielt die Demokratische Partei eine ebenso üble Rolle wie die Republikaner. Beide haben die Plünderung der amerikanischen Wirtschaft durch die Unternehmenseliten und die große Umverteilung des Reichtums in die Händen einiger Weniger unterstützt. Der größte politische Vorteil der Bush-Regierung ist heute die Mittäterschaft und Feigheit der "oppositionellen" Demokraten.

Die derzeitige Situation ist durch und durch von der Krise geprägt. Sie bietet der Arbeiterklasse eine kritische Gelegenheit, zu Gunsten ihrer eigenen Interessen einzugreifen. Aber die Bush-Regierung ist verwundet und daher gefährlich. Sie wird zurückschlagen, nach politischen Sündenböcken Ausschau halten und versuchen sich herauszuwinden. Es besteht eine enorme Gefahr, dass sie angesichts der Kongresswahlen im Herbst und möglicher katastrophaler Verluste, ein neues Ablenkungsmanöver in Form eines Krieges startet - dabei ist der Irak das wahrscheinlichste Ziel.

Sollte die Arbeiterklasse nicht als unabhängige Kraft eingreifen, d. h. unabhängig von den Demokraten und mit ihrer eigenen politischen Partei, so wird sie das Opfer einer rücksichtslosen internen Umgruppierung durch die herrschende Elite. Gibt man ihm die Möglichkeit, wird das wirtschaftliche Establishment eine Lösung auf Kosten der Arbeiterklasse ausarbeiten. Die dringende Aufgabe, die sich jetzt den arbeitenden Menschen stellt, besteht darin, ihre eigene Partei aufzubauen, die mit einem sozialistischen Programm bewaffnet ist, das demokratischen Rechte und soziale Gleichheit über die private Anhäufung von Reichtum stellt.

Siehe auch:
Bush wird von seinen alten Geschäften eingeholt
(11. Juli 2002)
Washington verlangt Straflosigkeit: Die USA setzen Europa wegen Internationalem Gerichtshof unter Druck
( 6. Juli 2002)
Washingtons Vorwand für eine Invasion im Irak
( 4. Juli 2002)
Der drohende Zusammenbruch von WorldCom wirft das politische Establishment in eine Krise
( 3. Juli 2002)
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