Opportunistische Spitzfindigkeiten: Briefwechsel mit einem Mitglied der französischen LCR

Den nachfolgenden Brief erhielt das WSWS von einem Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), einer französischen Organisationen die sich auf den Trotzkismus beruft. Er bezieht sich auf den Artikel "Die Ligue Communiste Revolutionnaire verteidigt ihren Opportunismus". Im Anschluss folgt eine Antwort von David Walsh.

In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 21. April hatte der Kandidat der LCR, Olivier Besancenot, 1,2 Millionen Stimmen erhalten, das entspricht 4,25 Prozent. Das Ergebnis dieser ersten Runde, eine Stichwahl zwischen dem ultrarechten Jean-Marie Le Pen von der Nationalen Front und dem amtierenden gaullistischen Präsidenten Jacques Chirac, löste in Frankreich eine schwere politische Krise aus. Die parlamentarische Rechte und Linke organisierten gemeinsam mit den Medien eine Kampagne zur Unterstützung Chiracs, den sie als "Verteidiger der Werte der Republik" anpriesen. Die LCR schloss sich dieser Kampagne für den Kandidaten der französischen Wirtschaft an, indem sie dazu aufrief, "gegen Le Pen" zu stimmen.

Brief eines Mitglieds der Ligue Communiste Révolutionnaire

Zu eurem Artikel "Die LCR verteidigt ihren Opportunismus":

1) Nicht ein einziger linker Wähler, geschweige denn ein Wähler der radikalen Linken - mit Ausnahme so engstirniger Sektierer, wie ihr es seid - hat den Aufruf, gegen LE PEN zu stimmen, als ein Vertrauensvotum für CHIRAC augefasst.

2) Dieser Wahlempfehlung gingen Warnungen vor den Rechten und vor Chirac, und Aufrufe, sich auf einen Kampf gegen sie vorzubereiten, voraus. Indem euer Artikel das verschweigt, kommt er einer schändlichen Verdrehung der Tatsachen gleich.

3) Eure Unehrlichkeit wird auch deutlich sichtbar, wenn ihr heuchelt, Besancenots Antwort verstanden zu haben. Er hat darin den Unterschied der Aufforderung, gegen Le Pen zu stimmen, zu der Aufforderung zur Stimmenthaltung relativiert - ihr jedoch verleiht seiner Aussage die gegenteilige Bedeutung.

Gerade wegen der realen Gefahr des Neo-Faschismus haben wir uns letztlich für die erstere Formulierung entschieden und uns an der Mobilisierung gegen eine solche [neo-faschistische] Partei beteiligt, wie wir das in der Vergangenheit immer getan haben und auch in Zukunft tun werden.

Abschließend: Naiverweise hatte ich geglaubt, mit euch eine echte Debatte führen zu können, und es für möglich gehalten, zwar getrennt zu marschieren, aber "gemeinsam zuzuschlagen"; eure intellektuelle Unehrlichkeit diskreditiert euch in meinen Augen völlig.

PS: immer noch über Pablo zu reden, der die 4. Internationale schon vor langer Zeit verlassen hat und in der LCR nie ein Bezugspunkt gewesen ist, ist ein weiteres Zeichen eures lächerlichen Verhaltens, eurer schlechten Absichten und eures Wunsches, die Realität zu verfälschen, um einer "trotzkistischen" Schwesterorganisation zu schaden.

Antwort von David Walsh

Deine Antwort auf unsere Artikel zur Politik der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) ist gespickt mit Beschimpfungen, befasst sich aber mit keiner der politischen Fragen ernsthaft, die wir aufgeworfen haben. Ich kann nur vermuten, dass der feindselige und provokative Ton darauf abzielt, eine Diskussion dieser Frage zu verhindern und eure Mitgliedschaft vor unserer Kritik abzuschirmen.

Dein Brief beschuldigt uns "intellektueller Unehrlichkeit", "schändlicher Fälschungen" und anderer Sünden. Die Unterstellung, dass wir die Positionen der LCR und ihres Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot im Besonderen verfälscht hätten, ist absurd. Wir haben uns sogar die Mühe gemacht, den Präsidentschaftskandidaten der LCR am 5. Juni in Paris so ausführlich zu interviewen, wie es ihm möglich war, mit uns zu sprechen, und seine Bemerkungen ungekürzt abzudrucken. Auch einen großen Teil seiner Antwort auf unsere Kritik auf der öffentlichen Versammlung an diesem Abend haben wir abgedruckt. Eine seltsame Methode für "unehrliche Sektierer".

Du behauptest: "Nicht ein einziger linker Wähler, geschweige denn ein Wähler der radikalen Linken (...) hat den Aufruf, gegen Le Pen zu stimmen, als ein Vertrauensvotum für Chirac verstanden."

Das haben auch die Sozialistische Partei (PS) und die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) in den Tagen nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen vom 21. April behauptet, die zur Stichwahl zwischen dem amtierenden Präsidenten Jacques Chirac und dem Ultrarechten Jean-Marie Le Pen führte. Die Verantwortlichen von PS und KPF behaupteten auch, dass ihre Differenzen mit dem Gaullisten-Führer bestehen blieben, und dass ihr Aufruf für Chirac nur eine taktische Maßnahme sei, um dem Neo-Faschisten Le Pen den Weg zu versperren. Auch sie äußerten hohle Warnungen vor den Konsequenzen eines Siegs von Chirac.

In Wirklichkeit waren die Medien und das politische Establishment am 21. April vor allem durch die Tatsache beunruhigt, dass ein großer Teil der Bevölkerung beide parlamentarische Blöcke ablehnte, den linken wie den rechten (54 Prozent enthielten sich oder stimmten für die radikale Linke oder die extreme Rechte). Die Mobilisierung der Jugend und breiter Schichten der Bevölkerung nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl gegen Le Pen erschreckte die herrschende Elite Frankreichs noch mehr. Jedem Beobachter war klar, dass das politische System in einer tiefen Krise steckte und die Situation außer Kontrolle zu geraten drohte. Die Pro-Chirac Kampagne wurde nicht organisiert, um den Faschismus zu besiegen, sondern um die bestehende bürgerliche Ordnung zu erhalten.

Le Pen befand sich nicht in der Position, der französischen Bevölkerung eine faschistische Diktatur aufzuzwingen. Die Gefahr, dass Le Pen an die Macht gelangt, wurde stark übertrieben, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Selbst wenn ein solches Ergebnis eine realistische Möglichkeit gewesen wäre, hätte eine Kampagne zugunsten des bürgerlichen Reaktionärs Chirac nichts dazu beigetragen, die Faschisten zu stoppen.

Erstens gibt es keine grundlegenden Differenzen zwischen Chirac und Le Pen. Wie die PS zwischen den beiden Runden der Parlamentswahlen aufgrund eigener politischer Interessen nachwies, gibt es zahlreiche Fälle der Zusammenarbeit zwischen der Rechten und den Rechtsextremen - und das, als Le Pen offiziell zu einem Paria gestempelt war.

Und zweitens besteht der wichtigste Nährboden für ein Aufleben der Nationalen Front in dem Verrat, den die Sozialdemokraten und Stalinisten in den vergangenen Jahrzehnten an der Arbeiterklasse begangen haben. Die rechte, wirtschaftsfreundliche Politik der Regierung der Mehrheitslinken unter Jospin hatte breite Schichten der Bevölkerung mit Abscheu und Empörung erfüllt. Millionen in Frankreich suchten nach einer politischen Alternative. Deswegen stimmten drei Millionen Wähler für "trotzkistische" Parteien - viele von ihnen auch für eure. Die gemeinsame Kampagne der "Linken" und der Rechten für Chirac nach dem 21. April verschaffte Le Pen in den Augen vieler, die dem Establishment feindlich gegenüberstehen, eine größere Glaubwürdigkeit.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und die WSWS haben die LCR, gemeinsam mit Lutte Ouvrière (LO) und dem Parti des Travailleurs (PT), in einem offenen Brief aufgefordert, einen Boykott der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen zu organisieren. Wir haben diese Organisationen, die am 21. April zehn Prozent der Stimmen erhielten, aufgerufen, ihre Mitglieder und Sympathisanten gegen die zwei bürgerlichen Kandidaten zu mobilisieren und den Arbeitern und Jugendlichen die Wahrheit zu sagen: dass nämlich der "Gauner" Chirac und der "Faschist" Le Pen keine Alternativen sind. Wir gaben persönlich am 3. Mai eine Kopie des "Offenen Briefes" im Büro der LCR ab. Bei der Gelegenheit wurde uns eine Antwort zugesagt. Wir haben aber nie eine erhalten.

Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Prozent der Bevölkerung einem solchen Boykottaufruf Folge geleistet hätten. Nur ein entschlossener Kampf für die Politik, die LCR, LO und PT zurückwiesen, hätte das erweisen können. Wir sind überzeugt, dass dies die politische Atmosphäre merklich verändert, die Arbeiterklasse gestärkt und die Neo-Faschisten geschwächt hätte - die behaupten konnten, sie seien die einzige wirkliche Opposition gegen das Establishment. Außerdem hätte dies die Arbeiter und Jugendlichen auf die kommenden Kämpfe gegen Chirac oder Le Pen vorbereitet.

Das politische Ergebnis der Pro-Chirac Kampagne war für die Linke katastrophal. Der amtierende Präsident wurde mit einer 82-prozentigen Mehrheit wieder ins Amt gehoben. In der ersten Runde der Parlamentswahlen erlitten die linken Parteien eine schwere Niederlage. Der Stimmenanteil für LCR und LO ging gegenüber dem 21. April erheblich zurück.

Die zweite Runde konsolidierte den Sieg der Rechten. Nachdem Chirac in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl nur 14 Prozent der Wahlberichtigten hinter sich gebracht hatte, konnte er am 16. Juni eine überwältigende Mehrheit in der Nationalversammlung erreichen, was nur mit der gnädigen Unterstützung der sogenannten Linken möglich war. Le Pens Partei, die gegenwärtig vom mächtigsten Teil der herrschenden Elite Frankreichs nicht bevorzugt wird, schaffte es nicht, einen einzigen Abgeordneten ins Parlament zu bringen. Chirac und seine Verbündeten haben jetzt weitaus mehr Spielraum und sogar ein gewisses Maß an Legitimität, um einen Angriff auf die historischen Errungenschaften der französischen Arbeiterklasse zu führen.

In ihren öffentlichen Erklärung deutet nichts darauf hin, dass die LCR einen Boykott in Betracht gezogen hätte - obwohl Besancenot uns gegenüber durchblicken ließ, dass es darüber Differenzen gab. Vom 21. April an nahm deine Organisation einen Platz auf dem linken Flügel der offizielle Pro-Chirac Kampagne ein. Zwar habt ihr euch nie dazu durchringen können, "Stimmt für Chirac" zu sagen, aber in diesem Zwei-Mann-Rennen konnte eure Parole "Stimmt gegen Le Pen" nichts anderes heißen.

Dein Versuch, die Sache so hinzustellen, als ob die Parole "Stimmt gegen Le Pen" ein Schritt in die Richtung eines Aufrufs zur Wahlenthaltung gewesen sei, kann man nur als ein Zeichen politischer Unernsthaftigkeit verstehen. In der Öffentlichkeit unterlag die Linie der LCR keinem Zweifel. Wie auch? Besancenot gab in der Woche vor der zweiten Wahlrunde am 5. Mai bekannt, er werde für Chirac stimmen. Associated Press brachte unter der Überschrift "Olivier Besancenot ruft zur Wahl von Chirac auf" am 2. Mai einen Bericht in französisch, in dem es hieß, dass Besancenot die Wähler erneut aufgerufen habe, für Jacques Chirac zu stimmen.

Am gleichen Tag rief Besancenot auf Europe-1 zur Wahl Chiracs auf und fügte hinzu: "Wir empfehlen allen Wählern, sich am Sonntag Abend [d.h. nach der Stimmabgabe für Chirac] die Hände zu waschen, und eine dritte, soziale, Runde zu organisieren und in Massen auf die Straße zu gehen."

In einer der letzten Presseerklärungen der LCR vor der zweiten Wahlrunde hieß es, es sei notwendig, "der Nationalen Front an der Wahlurne den Weg zu versperren, wie wir es auf den Straßen schon getan haben. Stimmt am 5. Mai gegen Le Pen." Die Position der LCR hätte nicht klarer sein können. Eure Organisation hat empfohlen, für den Kandidaten der französischen Wirtschaft zu stimmen. Ob ihr es nun anerkennt oder nicht, ihr habt mitgeholfen, Chirac in den Augen von Zehntausenden zu legitimieren und dem Sieg der Rechten im Mai und im Juni den Weg zu bereiten.

Wenn ihr Arbeiter und Jugendliche aufruft, für Chirac zu stimmen, "um den Faschisten den Weg zu verstellen" und die Demokratie zu verteidigen, was wird euch dann davon abhalten, mit der gleichen Begründung sein Programm zu unterstützen oder sogar in eine Volksfront-ähnliche Regierung einzutreten?

Wir machen kein Geheimnis aus unserer Auffassung, dass die LCR und ihre Führung unter Alain Krivine in diese Richtung treibt. Wie anders kann man die Äußerungen Krivines in einem Interview mit Le Figaro am 30. April verstehen: "Die Führung der Grünen und der KPF haben die LCR zu einem Treffen eingeladen, was wir natürlich akzeptiert haben. Die Kommunistische Partei ist bei der Wahl implodiert und viele ihrer Mitglieder haben vermutlich für Besancenot gestimmt. Langfristig könnte die Implosion der Kommunistischen Partei zur Entstehung einer neuen feministischen, ökologischen, antikapitalistischen Partei führen, die nicht auf die heutige radikale Linke beschränkt ist. Auch Tausende politisch Heimatloser, Mitglieder von Gewerkschaften und anderer Aktionsgruppen könnten einen Platz in ihr finden."

Wir glauben, eine solche Umgruppierung wäre eine politische Falle für die französische Arbeiterklasse und ein weiterer Versuch, die weitverbreitete Opposition gegen und Unzufriedenheit mit dem Status Quo in die alten reaktionären Kanäle zurückzulenken; das wäre ein Kurs mit extrem gefährlichen Konsequenzen. Eine solche notwendigerweise völlig impotente und zahnlose, von den erfahrenden Verrätern der stalinistischen KPF dominierte linke Formation würde noch mehr Wähler in die Arme der nationalen Front treiben, der einzigen Partei, die entschiedene Aktionen verspräche.

Du behauptest zwar, Michel Pablo (1911-1996) sei "niemals ein Bezugspunkt" in der LCR gewesen, eure politische Linie heute verrät aber etwas anderes. Mitglieder der Kommunistischen Partei, denen Stalinismus vorgeworfen wird, weisen oft darauf hin, dass Stalin schon seit geraumer Zeit tot sei. Wir selbst nennen uns Trotzkisten. Politische Systeme und Theorien überleben ihre Gründerväter.

Pablo war in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren ein Führer der Vierten Internationale, der unter den schwierigen Bedingungen, mit denen die marxistische Bewegung damals konfrontiert war, die Theorie entwickelte, dass der Trotzkismus niemals die Führung der Arbeiterklasse gewinnen könne und sich mit der Rolle eines Beraters der bestehenden sozialdemokratischen, stalinistischen und kleinbürgerlich-nationalistischen Organisationen begnügen müsse.

Eine solche liquidatorische Linie in der trotzkistischen Bewegung durchzusetzen, erforderte, dem historisch entwickelten Kader der Vierten Internationale den Krieg zu erklären. Pablo organisierte 1951-52 eine durch und durch undemokratische Kampagne gegen die Mehrheit der französischen Sektion, die gegen seine Politik kämpfte, um eine Führung zu installieren, die sich seiner Fraktion in der internationalen Führung unterordnete. Diese Pro-Pablo-Minderheit in der französischen trotzkistischen Bewegung ist der Ursprung der Tendenz, die heute die LCR ist. Nur das Eingreifen James P. Cannons und der Socialist Workers Party mit dem "Offenen Brief" von 1953, der den Kampf gegen Pablo aufnahm und zur Gründung des IKVI führte, verhinderte die Auflösung der trotzkistischen Bewegung.

Mag es dir auch nicht gefallen, an Pablo erinnert zu werden, so ist doch deine Linie ein Ausdruck pablistischen Liquidatorentums.

Du nennst uns "Sektierer". Damit meinst du offensichtlich, dass wir uns nicht der Hysterie angeschlossen oder uns mit ihr abgefunden haben, die das französische Establishment geschürt hat, um den Sieg Chiracs und der Rechten sicherzustellen. Wir halten es für ein elementares Prinzip des Marxismus, solchem Druck zu widerstehen, wozu ihr nicht in der Lage wart, und für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse zu kämpfen, was ihr aufgegeben habt. Das war die Linie unseres Eingreifens in Frankreich und unserer Kritik an euren Positionen. Diese Arbeit werden wir fortsetzen.

Siehe auch:
Die Ligue Communiste Révolutionnaire verteidigt ihren Opportunismus
(11. Juni 2002)
Ein Interview mit Olivier Besancenot
( 11. Juni 2002)
Kandidat der Ligue Communiste Révolutionnaire
( 22. Mai 2002)
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