Die französische Nationalversammlung hat im Schnellverfahren ein neues Justizgesetz beschlossen, das Grundsätze außer Kraft setzt, die zum Teil seit der französischen Revolution Gültigkeit hatten.
Nachdem der Entwurf des Justizministers Dominique Perben, das "Gesetz zur Orientierung und Programmierung der Justiz", schon am 26. Juli den Senat passiert hatte, wurde er in der Assemblée Nationale am 3. August, unmittelbar vor der Sommerpause, in einer Sondersitzung diskutiert, noch weiter verschärft und verabschiedet. Die Nationalversammlung wird seit den letzten Parlamentswahlen von einer starken rechten Mehrheit dominiert.
Unter den neuen Maßnahmen stechen folgende besonders ins Auge: In den Vorstädten werden Schnellgerichte eingeführt, die unter dem Vorsitz von Laienrichtern - sogenannten "Nachbarschaftsrichtern" - Straftaten von Minderjährigen wirkungsvoller und rascher ahnden sollen. In zahlreichen Gerichtsverfahren werden künftig anonyme Zeugenaussagen zugelassen. Außerdem werden Jugendstraftaten in Zukunft hart bestraft, während den Familien der jugendlichen Delinquenten zusätzlich das Kindergeld gestrichen werden kann. Der Judikativen Gewalt werden außerordentliche neue finanzielle Mittel zu Verfügung gestellt.
"Nachbarschaftsgerichte"
Bisher wurden Gerichtsverfahren gegen Minderjährige ausschließlich von besonders qualifizierten Jugendrichtern geleitet. Nun aber werden 3.300 neue "Nachbarschaftsrichter" in Arbeitervierteln und sozialen Brennpunkten eingesetzt, die vom Staatspräsidenten persönlich per Dekret ernannt werden. Einzige Vorbedingung: sie müssen zwischen 30 und 75 Jahre alt sein und acht Semester Jurastudium (mit entsprechendem Abschluss) nachweisen können. Es kann sich also auch um pensionierte Juristen oder Hilfskräfte aus der Justizverwaltung handeln, die über keinerlei Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen verfügen.
Zudem wird das Jugendstrafrecht erheblich verschärft: So können Jugendliche, die ihre Lehrer beleidigen oder beschimpfen, ab sofort mit einem halben Jahr Gefängnis und 7.500 Euro Buße bestraft werden, wodurch die Lehrer als staatliche Autoritätspersonen mit Polizisten gleichgestellt werden. Wer beim Graffiti-Sprayen erwischt wird, muss 3.750 Euro zahlen und zusätzlich gemeinnützige Arbeit leisten.
Schon 13-Jährige können in Zukunft bis zu einem halben Jahr interniert werden, wenn sie als "minderjährige Widerholungstäter" gelten. Dafür werden neue geschlossene Erziehungsanstalten geschaffen, die nichts anderes als Gefängnisse für Kinder und Teenagers sind. Bisher durften Jugendliche vor ihrem 16. Lebensjahr nicht inhaftiert werden.
Dadurch wird ein Grundsatz ausgehebelt, der bereits 1791, d.h. während der französischen Revolution, festgeschrieben worden war: dass nämlich ein Mensch das strafmündige Alter erst mit 16 Jahren erreicht. 1906 wurde die Strafmündigkeit auf 18 Jahre angehoben. In der Verfassung von 1945 wurde schließlich der Grundsatz verankert, dass erzieherische Maßnahmen Vorrang vor Bestrafung haben müssen. Dies alles wird heute über den Haufen geworfen. Dieses Gesetz macht erneut klar, was für eine Farce es war, als Jacques Chirac bei seiner Wiederwahl als Staatspräsident am 5. Mai die "Werte der Republik" beschwor.
Das Gesetz sieht bereits gegen 10-13jährige Kinder den Einsatz sogenannter "erzieherischer Maßnahmen" vor. Diese sollen zum Beispiel darin bestehen, dass das Gericht einem Kind verbietet, sich an bestimmten Örtlichkeiten aufzuhalten oder bestimmte Leute zu treffen.
Den Familien der jugendlichen Delinquenten, die in geschlossenen Anstalten untergebracht werden, kann in Zukunft das Kindergeld für das betroffene Kind entzogen werden. Diese doppelte Bestrafung wurde bisher von der rechtsextremen Nationalen Front von Jean-Marie Le Pen gefordert; sie wurde jetzt als Zusatzantrag eines UMP-Abgeordneten der Alpes-Maritimes, Christian Estrosi, eingebracht und sofort angenommen. "Man muss die Eltern in die Pflicht nehmen", lautete die Begründung für diese Maßnahme. Sie hat die Kritik der Liga der Menschenrechte hervorgerufen, deren Sprecher sie zu Recht als "Logik der Bestrafung und des Krieges gegen die Armen" bezeichnete.
Anonyme Zeugen
Die Anwendung von anonymen Zeugen wird ausgedehnt. So wird schon bei Straftaten, die mit drei Jahren Gefängnis oder mehr geahndet werden, eine anonyme Zeugenaussage zugelassen.
In der Nationalversammlung lautete die offizielle Begründung hierfür, dass damit "Delikte aus den Wohnvierteln zur Verhandlung kommen, wo die Zeugen aus Angst vor Repressalien sonst schweigen würden." Dies bedeutet jedoch, dass in Zukunft ein Angeklagter schon aufgrund von Zeugenaussagen eines ominösen "Mister X" beschuldigt und verurteilt werden kann, den er selbst nicht zu Gesicht bekommt, der sich nicht offen vor Gericht zeigt und der somit auch nicht ins Kreuzverhör genommen werden kann. Dies öffnet dem schlimmsten Denunziantentum Tür und Tor und erinnert an die Methoden autoritärer Polizeistaaten.
Die Menschenrechtsliga kritisierte, solche Bestimmungen hätten erst gar nicht zur Debatte kommen dürfen, da sie sowohl die international garantierten Kinderrechte, als auch die europäische und universelle Menschenrechtskonvention verletzten. Michel Tubiana, Präsident der Liga der Menschenrechte, erklärte: "Im Gegensatz zu dem, was die Europakonvention zur Verteidigung der Menschenrechte enthält, verallgemeinert das Gesetz eine Praxis, die die Rechte der Verteidigung nicht garantiert, indem es die Gegenüberstellung mit dem Zeugen und das Kreuzverhör vor Gericht verhindert."
Während elementare Rechte der Angeklagten mit Füßen getreten werden, soll der Schutz der Opfer angeblich verbessert werden: Jedes Opfer, das eine Straftat zur Anklage bringt, wird in Zukunft kostenlos einen Rechtsanwalt gestellt bekommen. Der berechtigte Opferschutz wird als Vorwand missbraucht, um den Staat schon bei kleinsten Vergehen einzuschalten.
Die Tatsache, dass das Gesetz die Inhaftierung von Verdächtigen - Jugendlichen wie Erwachsenen - in Zukunft wesentlich erleichtert, bedeutet außerdem die Aushöhlung einer Bestimmung, die erst vor zwei Jahren eingeführt wurde. Im Jahr 2000 verabschiedete die Jospin-Regierung auf Druck der EU mit den Stimmen der Opposition ein Gesetz, das die Unschuldsvermutung bis zum Schuldbeweis garantierte. Das neue Gesetz geht genau in die gegenteilige Richtung. Die Verurteilungen im Schnellverfahren und die harte Bestrafung schon geringer Vergehen wird in Zukunft die Gefängnisse anschwellen lassen.
Zwei weitere Zusatzanträge wurden letztendlich nicht angenommen, sind jedoch symptomatisch für die Atmosphäre, in der das Gesetz verabschiedet wurde, als sich viele Abgeordneten darin überboten, es noch zu verschärfen. Der erste Zusatzantrag verlangte, dass die Nationalhymne ("Marseillaise") obligatorisch in der Grundschule erlernt werden müsse. Der zweite sah gewissermaßen eine Wiedereinführung des Straftatbestandes der Majestätsbeleidigung vor: Im Falle einer Beleidigung des Staatspräsidenten sollte eine Strafe von 80.000 Euro plus zwei Jahren Gefängnis fällig werden.
Im Justizbereich sind für die Zeit von 2003-2007 zusätzlich 3,65 Milliarden Euro bewilligt worden, davon 1,75 Milliarde Euro für neue Investitionen. Insgesamt sollen im Justizbereich 10.100 neue Stellen geschaffen werden.
Parlamentsdebatte
In der Parlamentsdebatte war sich selbst die rechte Parlamentsmehrheit keineswegs einig. Vor allem die UDF von François Bayrou argumentierte teilweise gegen das neue Gesetz, ohne es jedoch in der Abstimmung abzulehnen: "Alles in allem war dieses Gesetz unumgänglich", sagte der UDF-Sprecher Pierre-Christophe Baguet. Seine Kritik bezog sich darauf, das Gesetz greife zu kurz und versäume es, erzieherische Maßnahmen im Schulbereich zu fördern. Außerdem befürwortete er eine Art gerichtlicher Versöhnungsstelle zwischen Täter und Opfer.
Sogar einige Abgeordnete der Präsidentenpartei UMP erhoben kritische Stimmen: Laut Le Monde bezeichnete Xavier de Roux, Abgeordneter aus der Charente-Maritime, die Maßnahme im Parlament als eine "Ungeheuerlichkeit", und Claude Goasguen fügte hinzu: "Seit 1789 haben auch die autoritärsten Regimes es nicht gewagt, so etwas zu machen." Dennoch stimmten auch diese Abgeordneten dafür, angeblich um "in der Öffentlichkeit ein Zeichen zu setzen".
Die Sozialistische Partei (SP) stimmte gegen das Gesetz und drohte damit, vor dem Verfassungsgericht dagegen zu klagen. André Valini, der Fraktionssprecher der SP, erklärte die "frontale, totale und durchdachte Opposition" der SP und warnte davor, "durch eine Überbestrafung ein Übermaß an Gewalt hervorzurufen".
Doch ist diese Opposition der Sozialistischen Partei durch und durch unglaubwürdig. Noch im Wahlkampf hatte ihr Kandidat Lionel Jospin in seinem Programm genau solche Vorschläge gegen jugendliche Straftäter gemacht. Außerdem hat die SP diesen Maßnahmen selbst den Boden bereitet. Ihr "Gesetz über Sicherheit im Alltag", das von der Jospin-Regierung eingeführt wurde, hatte Grundrechte schon beträchtlich eingeschränkt und u.a. Gefängnisstrafen wegen Schwarzfahrens eingeführt. Die Justizministerin von Lionel Jospin, Marylise Lebranchu, hatte nach dem 11. September 2001 anonyme Zeugenaussagen zugelassen, wenn auch nur als Ausnahme und für besondere Fälle wie Schwurgerichtsprozesse.
Auch die Nachbarschaftsrichter sind - wie die Nachbarschaftspolizisten - zuerst auf dem Mist der Sozialistischen Partei gewachsen. Julien Dray, ein ehemaliges Mitglied der pablistischen Ligue Communiste Révolutionnaire, der heute im nationalen SP-Vorstand sitzt und den linken Flügel Gauche Socialiste vertritt, befürwortete als Vizepräsident des Regionalrats der Pariser Region Ile-de-France die Einführung solcher Schnell- und Laiengerichte.
Was die Gewerkschaften angeht, so hatte der Justizminister Dominique Perben sie bereits in die Vorbereitung des Gesetzes mit einbezogen. Er erklärte in seiner Rede: "Ich möchte präzisieren, dass ich aufgrund der Dringlichkeit der Aktion - im Gegensatz zu dem, was man hier und da liest und hört - den Text vorher gründlich abgestimmt habe: Ich habe persönlich mehr als sechzig Delegationen empfangen, darunter 29 Gewerkschaften. Aus diesen Anhörungen sind mehrere Vorschläge in den von mir vorgelegten Gesetzesentwurf eingeflossen."
Was bedeutet dieses Justizgesetz?
Durch das neue Gesetz wird eine veränderte Auffassung der Rechtssprechung eingeführt, die - wie vorher schon die Aufrüstung der Polizei - der staatlichen Repression wesentlich stärkeres Gewicht einräumt. Maßnahmen, die durch die Jospin-Regierung bereits vorbereitet und vereinzelt eingeführt worden waren, werden jetzt verallgemeinert und zum Prinzip erhoben.
Der Staat wird berechtigt, das Alltagsleben von Arbeitern und Jugendlichen bis ins kleinste Detail zu kontrollieren. Das Denunziantentum wird ermutigt, das Sicherheitsbedürfnis z.B. älterer Menschen wird missbraucht, um ein systematisches Spitzelwesen einzuführen. Außerdem werden Arbeiterfamilien und Arme doppelt bestraft, wenn sie mit der Justiz in Konflikt kommen.
Gleichzeitig wird die Lage der Arbeiterjugend durch ein weiteres Gesetz erheblich verschärft: Das Gesetz über die "Contrat-Jeunes", das im Juli von François Fillon, dem Minister für Arbeit und Soziales, vorgestellt wurde, sieht vor, dass 250.000 unqualifizierte Jugendliche für zwei bis drei Jahre als billige Hilfskräfte in die kleinen und mittleren Betriebe geschickt werden, wo sie nicht etwa eine Ausbildung erhalten sollen, sondern als rechtlose Hilfsarbeiter ausgebeutet werden, während die Unternehmer von allen staatlichen Abgaben befreit werden.
In dieser Situation repräsentiert das neue Justizgesetz gleichzeitig die Furcht der Bourgeoisie vor neuen Unruhen, wie sie zum Beispiel im Mai-Juni 1968 oder im Dezember 1995 entstanden. Schließlich haben dieselben Politiker, die der Jugend mit "Null Toleranz" begegnen, gerade ihre eignen Diäten erhöht und fordern eine Amnestie für ihre eigenen zahlreichen Korruptionsaffären.
Dass ihre Furcht berechtigt ist, konnte man im letzten April sehen, als Zehntausende Jugendlicher in den Stunden und Tagen nach dem ersten Präsidentschaftswahlgang spontan auf die Straße gingen, um den Faschisten Le Pen aufzuhalten.
