In Frankreich sind die Renten bedroht

Zum Jahresbeginn unternahm der französische Regierungschef Jean-Pierre Raffarin einen neuen Versuch, das Rentensystem zu reformieren. Während die Gewerkschaften sich diesem Plan der Regierung anpassten, stieß er bei den Arbeitern auf massiven Widerstand.

Am 1. Februar demonstrierten über eine halbe Million Menschen in mehr als hundert Städten für die Verteidigung ihrer Rentenrechte. Dieser Demonstration waren am 3. Oktober 2002 Proteste der Beschäftigten der staatlichen Strom- und Gaswerke EDF-GDF vorausgegangen, die mit einem zu achtzig Prozent befolgten Streik und Massenprotesten ihre Ablehnung der Pläne für die Rentenreform und Privatisierung ihrer Branche zum Ausdruck brachten.

Danach, am 9. Januar, lehnten die 140.000 EDF-GDF-Arbeiter mit einer 53,4-prozentigen Mehrheit einen Punktekatalog ab, dem das Management und die meisten Gewerkschaften zugestimmt hatten und der von der Raffarin-Regierung unterstützt wurde. Die Vorschläge, die die Arbeiter zurückwiesen, enthielten eine fünfzigprozentige Erhöhung ihrer Rentenbeiträge von 7,85 auf 12 Prozent des Gehalts, was einer faktischen Lohnkürzung von über vier Prozent gleichkommt. Weitere Veränderungen der Rentenfinanzierung zielten darauf ab, die Privatisierung zu erleichtern.

Am folgenden Tag, dem 10. Januar, erklärten Premierminister Jean-Pierre Raffarin und sein Wirtschafts- und Finanzminister, Francis Mer, ihre Absicht, über das Votum der Strom- und Gasbeschäftigten hinwegzugehen und ihnen die Rentenreform aufzuzwingen.

Angriff in drei Phasen

Die Regierung beabsichtigt, das Rentenwesen in drei Phasen anzugreifen:

Als Erstes sollen die EDF-GDF-Arbeiter gezwungen werden, die Reform ihres Rentenplans zu schlucken, damit ihre Branche privatisiert werden kann.

Zweitens werden die Renten der öffentlichen Angestellten, die bisher noch 37,5 Jahre Beiträge bezahlen müssen, um die volle Rente zu erhalten, dem Privatsektor angeglichen, der seit 1993 diesen Vorzug verloren hat und in dem heute mindestens 40 Jahre Beitragszahlung erforderlich sind.

Drittens werden die seit der Reform von 1993 erlittenen Rentenkürzungen noch dadurch verschärft, dass die Beitragszeit auf 42 Jahre ausgeweitet wird.

Der Angriff auf die EDF-GDF-Beschäftigten spielt eine wichtige Rolle dabei, das gesamte Rentensystem zu untergraben. Wenn es der Regierung und dem MEDEF, dem wichtigsten Arbeitgeberverband, gelingt, das besondere Rentensystem bei EDF-GDF und die 37,5 Beitragsjahre im öffentlichen Dienst zu knacken, wird das die Schleusen für eine historische Verschlechterung des Lebensstandards der gesamten Arbeiterklasse öffnen.

Für den MEDEF, den früheren Premierminister Edouard Balladur und viele Mitglieder der UMP (Union pour un Mouvement Populaire, rechte Regierungspartei) gehen Raffarins Pläne nicht weit genug. Sie fordern 47 Beitragsjahre und kritisieren die Regierungsvorschläge als zu wenig ehrgeizig. In ihren Augen sind die Vorschläge für die EDF-GDF viel zu generös.

Die Verlängerung der Beitragsperiode führt zwangsläufig zu einer Senkung der Renten. Viele Senioren schaffen es aus den unterschiedlichsten Gründen - wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, familiäre Verpflichtungen oder Erschöpfung - schon heute nicht, ihre Pflichtjahre zu vollenden. Das durchschnittliche Rentenalter in Frankreich liegt bei 58,5 Jahren. Die vom MEDEF propagierte Lösung einer freien Rentenwahl soll die Tatsache verschleiern, dass viele Menschen gar keine Wahl haben, weil sie ihre Arbeit aufgeben müssen, lange bevor sie genug für eine volle Rente einbezahlt haben.

Laut Berechnungen, die sich auf die Statistik des Arbeitsministeriums stützen, würde eine Erhöhung der Beitragszeit auf 45 Jahre bis 2035 die Renten um 35 bis 50 Prozent senken. Für die Technokraten an der Spitze des MEDEF ist der Profit der höchste aller Werte. Sie betrachten die menschliche Errungenschaft eines längeren Lebens nicht als Triumph von Forschung und Wissen, als Qualitätsverbesserung des menschlichen Lebens - sondern als Last und als Nachteil.

Der MEDEF möchte die Unternehmer von der Verantwortung für die Renten befreien. Zur Zeit beschwert er sich, dass der Beitragssatz für Renten bei 25 Prozent des Gesamtlohnes liegt, wovon zehn Prozent vom Arbeitgeber bezahlt werden müssen. Sie wollen erreichen, dass die Rentenfinanzierung weniger durch Umverteilung, d.h. durch Beiträge der Arbeiter und Unternehmer, bestritten und stärker von Investmentfonds übernommen wird. Angestellte sollen genötigt werden, in Pensionsfonds zu investieren, wenn möglich in Konzernaktien, wie es bei Enron in den USA der Fall war.

Ständige Angriffe seit 1982

In Frankreich zahlt jeder Beschäftigte einen prozentualen Anteil seines Lohnes, ergänzt um einen Unternehmerbeitrag, in einen Fond ein, der die Ruhegehälter an die Rentner auszahlt. Im Durchschnitt betragen die Renten 78 Prozent des letzten Lohnes. Es gibt Mechanismen, um die Ressourcen entsprechend der Fluktuation der Arbeitslosenrate auszugleichen.

1982, als die Sozialistische Partei mit François Mitterrand gerade die Präsidentschaft übernommen hatte, wurde eine Reform verabschiedet, die das Rentenalter im Privatsektor von 65 auf 60 Jahren reduzierte und die Beitragszeit für den vollen Rentenanspruch auf 37,5 Jahre kürzte. Mit den dadurch erhöhten Beiträgen konnten sich die Unternehmer niemals abfinden. Der MEDEF drohte immer wieder mit einer Boykottierung des Sonderfonds, der die Finanzierung der zusätzlichen fünf Jahre leistet.

Als die Linke 1993 die Wähler mit Sparmaßnahmen schwer enttäuscht hatte, musste sie eine vernichtende Wahlniederlage hinnehmen und die Rechte kehrte an die Macht zurück. Der rechte Ministerpräsident Edouard Balladur und Simone Veil setzten im Privatsektor eine Gegenreform des régime général, der Grundrente durch, die Folgendes beinhaltete:

Erstens wurde die Beitragszeit graduell wieder von 37,5 auf 40 Jahre angehoben, so dass man 160 statt 150 Vierteljahresbeiträge eingezahlt haben muss, um die volle Rente zu erhalten.

Zweitens wurde die Rentenkalkulation nicht mehr auf der Grundlage der zehn besten Jahre, sondern nach und nach aufgrund der 25 besten Jahre berechnet, was die Renten zwangsläufig reduzierte.

Und drittens wurden die Renten jetzt gemäß dem Preissteigerungsindex angehoben, und nicht mehr entsprechend der Lohnsteigerung. Dies vertiefte den Graben zwischen den noch aktiven Arbeitern und den Rentnern, wie auch zwischen den Senioren aus dem Privatsektor und denen aus dem öffentlichen Dienst, deren Ruhegeld immer noch an die Löhne gekoppelt war. In Anbindung an den Preisindex kann die Kaufkraft der Renten bestenfalls stagnieren, während die Löhne leicht anstiegen.

Seit jener Zeit steigerte sich die Ungleichheit zwischen den Rentnern des privaten und des öffentlichen Sektors immer mehr. Dies war insbesondere eine Folge von Alain Juppés Reform der Zusatzrenten von 1996 (der Preis, den die Arbeiterklasse dafür bezahlen musste, dass die Gewerkschaften und die linken Parteien ihn während der Massenstreiks von 1995 nicht aus dem Amt drängen wollten).

In der Textil- und Bekleidungsindustrie beträgt die Durchschnittsrente 741 Euro im Monat.

Die Gegenreformen von 1993 und 1996 stießen bei den Gewerkschaften und den linken Parteien kaum auf Widerspruch. Als jedoch die Juppé-Regierung im Rahmen ihres Angriffs auf das gesamte Sozialwesen versuchte, die Rentenbeitragszeit im öffentlichen Dienst an die des Privatsektors anzupassen, wurde er durch die größte Streikbewegung seit Mai/Juni 1968 gezwungen, zurückzustecken.

Die Regierung der Mehrheitslinken, die ihn ein Jahr später ersetzte, bereitete Raffarins heutiger Offensive den Weg. 1997 beauftragte Jospin J.-M. Charpin mit der Ausarbeitung eines Berichts, der die Verlängerung der Beitragszeit empfahl.

Der Angriff auf das französische Rentensystem ist Teil einer weltweiten Tendenz, die Arbeitskosten zu reduzieren, von denen die Renten ein wichtiger Teil sind. In Großbritannien ist das Rentenalter gerade auf 65 Jahre angehoben worden, und ein weiterer Anstieg auf 70 Jahre ist geplant.

Im März 2002 unterzeichneten Jospin und Chirac das Abkommen des EU-Gipfeltreffens in Barcelona, das zum Ziel hat, das effektive Rentenalter - nicht das offizielle - um fünf Jahre anzuheben. Heute liegt es bei 60 Jahren. Dies ist einer der Gründe, warum Jospin und die Parteien der pluralen Linken bei den Präsidentschaftswahlen im darauffolgenden Monat abgewählt wurden.

Der MEDEF ist höchst angetan davon, dass Finnland und die USA bereits beschlossen haben, das offizielle Rentenalter um zwei auf 67 Jahre, Neuseeland um drei Jahre und Japan, Korea, Spanien und Italien um fünf Jahre anzuheben.

Zudem hat die vorsorgliche Warnung der europäischen Finanzminister vom 21. Januar den Spielraum der französischen Regierung eingeengt. Frankreich geht das Risiko ein, 2003 die Haushaltsdefizitgrenze von drei Prozent des BSP, das Maastricht-Kriterium für wirtschaftliche Stabilität, zu überschreiten. Dies zwingt die Regierung, Kredite über vier bis fünf Milliarden Euro einzufrieren. Da die Bereiche Ordnung, Sicherheit und Verteidigung, deren Haushalt stark erhöht wurde, voraussichtlich von den Sparplänen ausgenommen sind, wird es den öffentlichen Dienst besonders hart treffen.

Die Rolle der Gewerkschaften

Die Gewerkschaften haben sich bemüht, die massive Opposition gegen die Regierungspläne durch symbolische Streiks und Proteste unter Kontrolle zu halten. Ihr Bemühen, der Regierung unter die Arme zu greifen und eine Akzeptanz ihrer Reformpläne herzustellen, ist offensichtlich.

Ohne die Resultate der Abstimmung bei EDF-GDF abzuwarten, trafen die sieben großen Gewerkschaftsorganisationen (CFDT, CFTD, CGT, CGC, FO, FSU und UNSA) am 6. Januar eine Übereinkunft. Eine gemeinsame Rentenplattform, die zu der Demonstration vom 1. Februar aufrief, erwähnte nur die vierzig Beitragsjahre und opferte infolgedessen stillschweigend das Prinzip der 37,5 Beitragsjahre, das heute noch im öffentlichen Dienst Gültigkeit hat und im Privatsektor bis 1993 galt.

Während der Massenstreiks von 1995 gegen den Juppé-Plan wurde Nicole Notat, damals Führerin der CFDT, von ihren eigenen Mitgliedern ausgebuht, weil sie sich für Juppés Reformen aussprach. Bernard Thibault führte damals die CGT-Gewerkschaft der Eisenbahner, die an der Spitze der Streikbewegung standen. Noch während des Streiks beschloss ein CGT-Kongress, das Ziel "einer neuen Gesellschaft, die sich auf die Sozialisierung der Produktionsmittel stützt", offiziell aufzugeben. Damit wurde zwar nur eine seit langem bestehende Haltung zur offiziellen gemacht, dennoch demonstrierte der Beschluss, dass die stalinistischen CGT-Bürokratie jeden Anschein von Opposition zum kapitalistischen System aufgab.

Thibault ersetzte später Viannet an der Spitze der CGT. Die CGT wurde zu dem, was Le Monde gerne als "Gewerkschaften der Mitverantwortung statt der Opposition" bezeichnet. Ihre Rolle besteht heute darin, der Arbeiterklasse im Namen des französischen Kapitalismus im globalen Handelskrieg Opfer abzuverlangen.

Siehe auch:
Haushalts- und Strafrechtsreform in Frankreich: Die Reaktion auf dem Vormarsch
(9. Oktober 2002)
Rentensenkungen im Öffentlichen Dienst
( 17. Januar 2002)
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