Berliner Studierende wehren sich gegen Angriffe des Senats

"Siemens und Schering haben meine volle Unterstützung. Die Industrie stützt sich aber im Wesentlichen auf natur- und ingenieurwissenschaftliche Absolventen. Niemand plant im Ernst, in diesen Bereichen zu sparen. Ein steigender Anteil der Abiturienten drängt aber in die Fächer, die weniger relevant sind für den Wirtschaftsstandort und die nicht zu den produktiven gehören."

Mit diesen Worten und gespickt mit einer Menge falscher Zahlen und Lügen reagierte der Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) im Tagesspiegel vom 12. Mai auf die anhaltenden Proteste gegen seine Kürzungsvorhaben im Bildungsbereich. In den letzten Wochen hatten sich an den Berliner Universitäten Tausende Studierende versammelt, um ihre Stimme vor allem gegen mögliche Studiengebühren zu erheben. Am vergangenen Mittwoch demonstrierten dann rund 3.000 Studierende "Für eine offene Uni" und forderten "keine Kürzungen nirgends".

Im Februar diesen Jahres hatte Sarrazin erstmals davon gesprochen, im Zuge der Neuverhandlungen der Hochschulverträge 2006 an den Berliner Universitäten jährlich insgesamt 200 bis 600 Millionen Euro einsparen zu wollen. Dieses Vorhaben stellt selbst die rigorosen Einsparungen der 90er Jahre in den Schatten, denen 30.000 Studienplätze und fast die Hälfte aller Professuren zum Opfer fielen.

Setzen sich Sarrazins Pläne durch, wären die Universitäten nicht mehr arbeitsfähig. "Bei 200 Millionen Euro Einsparungen gehen bei uns die Lichter aus", erklärte FU-Präsident Peter Gaethgens. Anstatt aber zusammen mit den Studierenden offensiv gegen die Sparpläne vorzugehen, wälzen die Präsidien aller drei Berliner Universitäten den Druck von oben auf die Studierenden ab. Technische Universität (TU) und Freie Universität (FU) haben flächendeckende Zulassungsbeschränkungen für alle Fachbereiche verkündet. Die Humboldt-Universität (HU) will sich gegebenenfalls sogar weigern, überhaupt Erstsemester aufzunehmen.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz machten die drei Universitätspräsidenten Gaethgens (FU), Jürgen Mylnek (HU) und Kurt Kutzler (TU) außerdem deutlich, dass sie sich den Sparmaßnahmen durchaus nicht verschließen. Es müsse lediglich die Arbeitsfähigkeit der Hochschulen gewährleistet bleiben. In Anbetracht der knappen öffentlichen Kassen müsse auch "über andere Finanzierungsarten nachgedacht" werden. Gemeint war damit die Erhebung von Studiengebühren.

Diese Möglichkeit hatte PDS-Wissenschaftssenator Thomas Flierl schon Anfang des Jahres erwogen. Ende April wurde wiederum Sarrazin konkreter. Ab 2005 sollen seines Erachtens alle Studierenden für ihr Studium bezahlen, sogenannte Langzeitstudenten sogar schon vom kommenden Jahr an. Sarrazin verspricht sich davon jährliche Einnahmen von 180 Millionen Euro. Umgerechnet auf die Studierendenzahl entfielen dann auf jeden Studenten und jede Studentin rund 1300 Euro pro Jahr. Das Geld möchte der Finanzsenator zur Sanierung des Haushaltes einsetzen.

Weder aus der Regierungskoalition noch aus den Universitätspräsidien gab es ernstzunehmende Kritik an diesen Plänen. Zur Debatte steht nur, ob und ein wie großer Teil der Einnahmen den Universitäten selbst zugute kommen soll. Zwar verbietet das derzeitige Hochschulrahmengesetz die Erhebung einer Gebühr für das Erststudium, doch erklärte der SPD-Fraktionsvorsitzende Michael Müller schon, dass die Hürden, die das Gesetz für flächendeckende Studiengebühren gesetzt hat, "zu nehmen sind".

Die Richtung ist klar: Auf der einen Seite will der Berliner Senat auf dem Rücken der Studierenden die Haushaltslöcher stopfen, die er zuvor durch Milliardengeschenke an die Banken aufgerissen hat. Auf der anderen Seite soll der Boden für neue bildungspolitische Konzeptionen bereitet werden. Verfolgten die Bildungsreformen der 70er Jahre noch das Ziel, möglichst breiten Schichten den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen, sollen Jugendliche heute vor allem schnell berufsfähig sein. Ein gehobenes Studium soll nur noch einer kleinen Elite mit möglichst finanzstarkem Elternhaus möglich sein. Der privaten Eliteuni "European School of Management and Technology", an der ein Abschluss um die 50.000 Euro kosten soll, sagte der Berliner Senat beispielsweise Zuschüsse zwischen 24 und 50 Millionen Euro zu.

Dieser Kurs der rot-roten Regierung ist Bestandteil einer deutschlandweiten und internationalen Entwicklung. 1999 verfassten die europäischen Bildungsminister auf einer Konferenz in Bologna die "Bologna-Erklärung". Darin verpflichteten sie sich zur "Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Hochschulsystems". Als Ziel wurde unter anderem die "Einführung eines europaweiten Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse" genannt.

In diesem Sinne hat auch die Bundesregierung beschlossen, flächendeckend sogenannte Bachelors- und Masterstudiengänge einzuführen. Den Abschluss Bachelor sollen Studierende schon nach vier Semestern erreichen können. Die meisten sollen nach diesem bis dahin vor allem praktisch orientierten Studium direkt ins Berufsleben wechseln. Nur ein kleinerer Teil soll die Möglichkeit haben, das Studium mit akademischem Schwerpunkt fortzusetzen und den Master zu erreichen. 1600 Studiengänge sind schon heute auf dieses System umgestellt, bis 2010 sollen alle anderen folgen.

Mit dieser Umstellung ist einer finanziellen und leistungsabhängigen Selektion Tür und Tor geöffnet. So könnte das durch das Hochschulrahmengesetz angeblich kostenfrei garantierte Erststudium nur für den Bachelor gelten. Studierende müssten dann für ein vollwertiges Studium erhebliche finanzielle Mittel aufbringen. Auch könnten in den Masterstudiengang nur die Jahrgangsbesten aufgenommen werden.

Auf diese Weise werden Studium und Bildung im Allgemeinen den Interessen der Wirtschaft untergeordnet. Ziel des Ganzen ist es, die europäische Bildung in den internationalen Wettbewerb zu integrieren. 1994 wurde im Rahmen der Welthandelsorganisation das "General Agreement on Trade und Services" (GATS) geschlossen, das die Vertragspartner, zu denen die EU-Staaten gehören, verpflichtet, ihren Dienstleistungssektor für den freien Handel und den internationalen Wettbewerb zu öffnen.

Bei ihrem Beitritt hatte sich die EU Ausnahmeregelungen im Bereich Bildung erwirkt, um ihre Schulen und Hochschulen nach eigenem Ermessen subventionieren zu können. Diese Ausnahmen sind allerdings auf zehn Jahr beschränkt, laufen also schon 2005 aus. Ohne solche Regelungen wären die europäischen Länder gezwungen, entweder private Bildungseinrichtungen ebenso stark zu subventionieren, wie den öffentlichen Sektor, oder die Subventionen vollständig abzuziehen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten.

Berlin spielte in dieser Entwicklung schon immer eine Vorreiterrolle. Die große Koalition führte in Berlin als erstem Bundesland verkappte Studiengebühren, sogenannte Rückmeldegebühren, von 100DM bzw. 51 Euro je Semester ein. Das war vor fünf Jahren. Nach den Neuwahlen im letzen Jahr wird Berlin von einer rot-roten Koalition aus SPD und PDS regiert. Geändert hat sich damit vor allem die Vehemenz, mit der soziale Rechte abgeschafft werden.

Einen deutlichen Ausdruck fand das beispielsweise in der Entscheidung der Berliner Regierung, aus den öffentlichen Arbeitgeberverbänden auszutreten und damit den Flächentarifvertrag für die öffentlich Beschäftigten zu unterlaufen.

Jetzt hat der rot-rote Senat die Universitäten im Visier. Weder SPD noch PDS zeigen hier irgendwelche Skrupel. Einer breiten Bildung für die Massen wird ein wirtschaftsorientierter Bildungsbetrieb für Kinder besserverdienender Eltern entgegengestellt. Mit der Einführung von Studiengebühren werden es sich Familien aus der sozialen Unterschicht, die durch die Bundes- sowie Landespolitik ohnehin unter immer stärkeren Druck geraten, schlicht und einfach nicht mehr leisten können, ihre Kinder auf Universitäten zu schicken. Die Einsparungen in diesem Bereich reihen sich damit nahtlos in all die anderen Sparmaßnahmen der Berliner Regierung ein.

Mit SPD und PDS haben sich alle offiziellen Parteien als unfähig erwiesen, der breiten Mehrheit der Bevölkerung ein soziales und demokratisches Programm zu bieten - und sei es noch so beschränkt. Wer heute für eine freie und kostenlose Massenbildung eintritt, muss dies von einem unabhängigen Standpunkt tun. An seiner Seite steht keine der offiziellen Parteien, sondern die arbeitende Bevölkerung weltweit. Um ihre Interessen durchzusetzen, muss sie sich unabhängig von den alten Organisationen und auf internationaler Grundlage zusammenschließen.

Siehe auch:
Die Bilanz von vier Jahren rot-grüner Bildungspolitik
(17. August 2002)
Rot-Grün in Bund und Ländern leitet Ende der freien und allgemeinen Bildung ein
( 8. Juni 2002)
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