Frankreich: Streiks und Demonstrationen gegen die Angriffe auf die Renten

Am 3. Juni streikten und demonstrierten in ganz Frankreich über eine Million Arbeiter. Sie protestierten gegen die Rentenreform, die, wenn es nach dem Willen der Regierung von Präsident Jacques Chirac und seinem Premier Jean-Pierre Raffarin geht, eine Verlängerung des Arbeitslebens und Einkommenskürzungen von 30 Prozent und mehr für die Rentner beinhaltet.

Besonders in Marseilles, wo über 71 Prozent der Grundschullehrer am Ausstand teilnahmen, befolgten viele den Streikaufruf. Die Beteiligung im Bildungsbereich lag national bei etwas über 40 Prozent, das sind knapp 59 Prozent der Teilnehmer vom 13. Mai.

In allen Bereichen des öffentlichen Dienstes wurde gestreikt, und laut der CGT (Confédération Générale du Travail) gab es auch in der privaten Wirtschaft eine gute Beteiligung. Initiatoren des Aufrufs zum 24-Stunden-Streik waren die CGT (Frankreichs größte Gewerkschaft, traditionell mit der Kommunistischen Partei verbunden), UNSA (Gewerkschaft der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, mit guten Beziehungen zur Sozialistischen Partei), Force Ouvrière (ebenfalls mit der Sozialistischen Partei verbunden), FSU (die wichtigste Lehrergewerkschaft) und die Gruppe der zehn Sud-Gewerkschaften.

Zahlreiche Ortsverbände der CFDT (die dem rechten Flügel der Sozialistischen Partei nahesteht), deren Führer François Chérèque auf Seiten der Regierung steht, nahmen ebenfalls am Streik teil. Am 4. Juni weigerten sich Tausende Arbeiter, an die Arbeit zurückzukehren, und große Teile des französischen Transport- und Bildungssystems sind nach wie vor lahmgelegt.

Dies ist nun in diesem Jahr schon die vierte Massenmobilisierung der Gewerkschaften gegen die gravierenden Rentenkürzungen, die dem Parlament am 10. Juni vorgelegt werden, sowie der zehnte eintägige Streik, den die Lehrergewerkschaften ausgerufen haben. Die Gewerkschaften haben sich dabei stets bemüht, den Widerstand der Arbeiter gegen den geplanten Sozialabbau durch Chirac und Raffarin unter Kontrolle zu halten und ihm die Spitze zu brechen, indem sie die Mobilisierung auf eintägige Proteste und aussichtlose Ziel beschränkten, Druck auf die Regierung auszuüben.

Viele Tausende Beschäftigte im Bildungsbereich befinden sich jetzt schon seit über drei Wochen im unbefristeten Streik. Sie kämpfen gegen die Kürzungen im Personalbereich, die Zunahme ungesicherter Arbeitsverhältnisse und die Stellenverschiebungen, die mit der geplanten "Dezentralisierung" oder "Regionalisierung" verbunden sind: So sollen 110.000 Stellen für schulische Hilfskräfte vom staatlichen Bildungssektor an die Kommunen übergehen. Die Lehrergewerkschaften haben schon einen weiteren eintägigen Streik für den 10. Juni angekündigt und ziehen in Betracht, das Baccalauréat, die französischen Abiturprüfungen, zu unterbrechen, die für 500.000 Kandidaten am 12. Juni mit einer Philosophiearbeit beginnen sollen.

Die Demonstration vom 3. Juni machte deutlich, wie weit es den Gewerkschaftsführern schon gelungen ist, unter ihren Mitgliedern Frustration zu säen. Trotz der immer noch gewaltigen Massenmobilisierung stand sie in keinem Verhältnis zu jener vom 13. Mai - als vier Millionen die Arbeit niederlegten und zwei Millionen demonstrierten. Es war nicht jene allgemeine Streikwelle, von der sich viele erhofft hatten, sie werde der Beginn eines Generalstreiks gegen die Regierung sein.

Die CGT betätigte sich bei den Beschäftigten der öffentlichen Nahverkehrsbetriebe von Paris (RATP) aktiv als Streikbrecher, als die Arbeiter am 13. Mai versuchten, den Streik unbefristet fortzusetzen. Marc Blondel, der Vorsitzende von Force Ouvrière, wandte sich wiederholt gegen einen Generalstreik, weil dies den Streik ins Politische wenden würde, und rief dazu auf, sämtliche gewerkschaftlichen Proteste einzustellen, als die Rentenvorschläge am 28. Mai dem Ministerrat unterbreitet wurden. Er sagte, er sei gegen die Rentenreform der Regierung, aber nicht gegen die Raffarin-Regierung selbst.

Die Pariser Demonstration begann am Gare du Nord, wo Demonstranten die Straße durch einen Sitzstreik blockierten, ehe sie losmarschierten. Ein Team von WSWS -Unterstützern verteilte 5.000 Handzettel mit der Erklärung "Eine politische Strategie zur Abwehr der Angriffe auf die Renten in Frankreich", die mit Interesse gelesen wurden.

Diese Demonstration mit etwa 210.000 Teilnehmern bestand hauptsächlich aus Lehrern, aber es waren auch Delegationen von Renault und EDF-Beschäftigten (Electricité de France, staatliche Stromgesellschaft) vertreten. Das größte Gewerkschaftskontingent gehörte der Lehrergewerkschaft FSU an, aber auch die Gewerkschaft Force Ouvrière, die hauptsächlich öffentliche Bedienstete vertritt, war zu sehen. Auch einige Gruppen von Gymnasiasten und Studenten nahmen teil.

Am Ende der Demonstration gab es Kontingente, die hinter den Transparenten der linken radikalen Gruppen Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und Lutte Ouvrière (LO) und auch der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) marschierten.

Die Stimmung der Demonstration war sehr ernsthaft, und die Lehrer, von denen viele schon seit der Massendemonstration vom 13. Mai oder länger im Streik stehen, zeigten sich grimmig entschlossen. Ein Sportlehrer sagte: "Wir werden weitermachen müssen, aber dies ist eine sehr rechte Regierung, die in Richtung Faschismus geht. Ich hab nicht allzu viel Hoffnung." Mehrere Lehrer sagten, sie seien zwar müde, aber nicht zum Aufgeben bereit.

In Amiens demonstrierten etwa 8.000, von ihnen über die Hälfte Lehrer. Für diese nördliche Industriestadt von 110.000 Einwohnern war dies eine große Demonstration, wenn auch viel kleiner als die vom 13. Mai, die 20.000 Teilnehmer auf die Straße brachte.

Die klare Forderung der Streikenden und Demonstrierenden lautete: Vollständige Zurücknahme der Rentenreform und der Personalkürzungen und Dezentralisierungspläne im Bildungsbereich. Aber Bernard Thibault, CGT-Führer, hatte in den 20 Uhr-Nachrichten eine versöhnliche Botschaft für die Regierung bereit: Er forderte nicht die Zurücknahe der Rentenreform, sondern wollte darüber verhandeln. Durch diesen Verrat der Gewerkschaftsführung ermutigt, erklärte Raffarin: "Weder Zurücknahme, noch Aufschub, noch Änderung."

Gérard Aschiéri, der FSU-Generalsekretär, erklärte am selben Abend gegenüber Agence France Presse, die vier Bildungsgewerkschaften - die CGT, FO, UNSA und seine eigene - seien "bereit, bis zu den Ferien und darüber hinaus standzuhalten", und er leugnete jede Abschwächung des Kampfes. Mit Hinweis auf die zeitliche Verschiebung der Dezentralisierung und der Universitätsreform versicherte er: "Wir haben einen Fuß in der Tür, jetzt müssen wir sie aufstoßen."

Um drei Uhr Nachmittags fand eine Massenversammlung von Eisenbahnern im Hof der SERNAM hinter dem Bahnhof von Amiens statt, die mit nur zwei Gegenstimmen dafür stimmten, den Streik wieder aufzunehmen. Die Gewerkschaftssprecher berichteten, 47 Prozent des Personals nähmen am Streik teil.

Nach dieser Abstimmung sprach die WSWS mit Philippe, einem leitenden Angestellten in der Forschungsabteilung der nationalen Eisenbahngesellschaft SNCF. Er sagte: "Ich werde bald selbst in Rente gehen. Ich habe drei Kinder, und alle drei sind Lehrer geworden. Für sie streike ich. Ich glaube, um diesen Kampf zu gewinnen, brauchen wir einen Generalstreik. Das könnte so weit gehen, dass man noch die Regierung stürzen muss."

Auf die Frage, womit diese Regierung denn ersetzt werden soll, antwortete er: "Das ist eine sehr schwierige Frage. Gut, es könnte nur ein Regierung der Linken sein. Aber die Linke müsste reformiert werden."

Eine Gruppe von Instandhaltungsarbeitern, die gerade für die Fortsetzung des Streiks gestimmt hatten, sprachen mit dem WSWS -Reporter. Thierry sagte, er streike gegen das Programm der Regierung, weil es darin bestehe, "länger zu arbeiten und weniger zu verdienen". Willy sagte: "Die Regierung versucht, uns alle zu spalten."

Thierry fügte hinzu: "1995 haben die Eisenbahner den Kampf angeführt. Wenn wir jetzt nicht mobilisieren, werden sie uns angreifen und wir werden isoliert dastehen. Wir haben Briefe von der Direktion und der SNCF erhalten, die uns sagte, dass sich an unseren Renten im Moment nichts ändern würden. Sie wollen uns nur isolieren, damit sie uns leichter packen können. Wir haben es Juppé [Alain Juppé, dem damaligen Premierminister] schwer gemacht, deshalb fangen sie diesmal nicht bei uns an. Ungefähr 49 Prozent der Bevölkerung waren gegen Maastricht. Die Politik von Brüssel besteht darin, die Menschen auf das unterste Niveau herabzudrücken. Wir sind der Meinung, alle Renten müssten auf unser Niveau angehoben werden."

Willy sagte: "Europa versucht, mit den Vereinigten Staaten gleichzuziehen und deren soziale Bedingungen zu imitieren und hier einzuführen. Sie sind gegen den Irak in den Krieg gezogen, um ihre Präsenz in der Welt zu behaupten. Europa versucht sie nachzumachen, während es gleichzeitig in Konflikt mit ihnen gerät."

Thierry fügte hinzu: "Schau auf die Enron-Katastrophe. In Amerika bist du nur was, wenn du Geld hast. Hier haben wir doch noch eine gewisse soziale Absicherung. Wir müssen dafür kämpfen, das zu behalten, was wir bisher hier noch haben."

Willy betonte: "Das nächste, was sie sich vornehmen, und das kommt im September, ist die Krankenvorsorge und der Gesundheitsdienst. Es wird viel darüber geredet, dass die Leute das nationale Gesundheitssystem missbrauchen würden, und die Hauptstoßkraft geht jetzt in die Richtung, dass man sparen müsse. Für zahlreiche Medikamente wurde schon die Rückerstattung gekürzt."

Thierry sagte: "Wir müssen noch unnachgiebiger sein als 1995. Sie haben ihre Lehren gezogen. Raffarin ist ein besserer Mittelsmann als Juppé. Und Chirac fühlt sich stärker als 95, mit seinen 82 Prozent der Stimmen in der zweiten Wahlrunde."

Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen von 2002 hatte nur die Wahl zwischen zwei rechten Kandidaten gelassen: Chirac und dem faschistischen Jean-Marie Le Pen. Alle linken Parteien und Gewerkschaften riefen sofort zur Wahl von Chirac auf und wiesen den Boykottaufruf der WSWS zurück.

"Wir haben erlebt, was die Privatisierung bei den Eisenbahnen in England angerichtet hat," fügte Thierry hinzu. "Das System hier ist nicht perfekt. In Frankreich kannst du nie sicher sein, ob ein Zug pünktlich ankommt, aber dort weiß man nicht einmal, ob der Zug überhaupt ankommt."

Siehe auch:
Eine politische Strategie zur Abwehr der Angriffe auf die Renten in Frankreich
(27. Mai 2003)
Frankreich: Eine Million Arbeiter gegen Rentenkürzungen auf der Straße
( 27. Mai 2003)
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