Frankreich:

Was Streikende und Demonstrationsteilnehmer über die Rentenkürzungen sagen

Am Dienstag, 10. Juni streikten und demonstrierten erneut Millionen Beschäftigte des französischen öffentlichen Diensts gegen das Rentenprojekt der Regierung, das ihre Rentenansprüche drastisch beschneiden wird. Zahlreiche Arbeiterdelegationen aus der Privatwirtschaft schlossen sich ihnen an.

Postarbeiter, Eisenbahner, Angestellte staatlicher Banken, Beschäftigte der Telekommunikationsgesellschaften, Krankenschwestern, Lehrer, Arbeiter der Versorgungsbetriebe und Beamte beteiligten sich an dem landesweiten Streik, der den öffentlichen Nahverkehr, den Postverkehr und andere Dienstleistungen zum Erliegen brachte.

Der Maßnahmenkatalog, der zur Zeit in der Nationalversammlung diskutiert wird, sieht vor, dass Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in Zukunft vierzig Jahre - statt bisher 37,5 Jahre - und ab 2009 sogar 42 Jahre lang arbeiten müssen, um ihre volle Rente zu erhalten.

Obwohl die Schätzungen auseinandergehen, demonstrierten sowohl in Paris als auch in Marseille jeweils um die 200.000 Menschen. Bis zu 50.000 waren es in Toulouse, Clermont-Ferrand, Grenoble, Montpellier und Rouen, und in Amiens waren 8.000 auf der Straße. Reporter der World Socialist Web Site sprachen mit Teilnehmern der Demonstrationen in Paris und Amiens.

Die meisten sagten, sie hätten kein großes Vertrauen in die Gewerkschaften und keine übertriebenen Hoffnungen, was das Ergebnis des Streiks sein würde. Es könne wohl schwierig werden, die Regierung zum Rückzug zu zwingen. Viele sprachen offen die Notwendigkeit eines Generalstreiks aus.

Nadja Saiye, eine Grundschullehrerin, sagte: "Ich bin Lehrerin und bin vollkommen für diesen Streik. Ich glaube, der öffentliche Dienst ist sehr wichtig. Auch bin ich der Meinung, dass es Wege geben muss, um zu erreichen, dass oberen Schichten mehr beitragen als die unteren. In den letzten zehn Jahren sind die Löhne viel weniger gestiegen als die Unternehmergewinne, deshalb halte ich den Streik für vollkommen gerechtfertigt und unterstütze ihn. Ich hoffe, dass die Bewegung sich auf die ganze Welt ausdehnt, denn für die Dritte Welt besteht, weil es diese Pyramidenstruktur gibt, die gleiche Gefahr: die Großen fressen die Kleinen."

Nadja äußerte Skepsis, ob die Regierung den Menschen, die auf die Straße gingen, überhaupt Gehör schenken würde und sagte: "Trotzdem müssen wir weitermachen, denn sonst herrscht hier purer Kapitalismus und alle sozialen Rechte werden zerstört. Das läuft auf Sklaverei im Weltmaßstab heraus. Mich entmutigt es nicht, wenn wir in diesem Fall verlieren, sondern ich werde weitermachen."

Auf die Frage, warum kein Aufruf zum unbefristeten Streik ergangen sei, antwortete sie: "Weil die Gewerkschaften nicht ehrlich sind. Ich bin der Meinung, dass meine Gewerkschaft nicht tut, was sie tun müsste, nämlich diesen Streik zu einem unbefristeten und Generalstreik auszuweiten. Ich glaube, die Gewerkschaften bremsen die Leute. Unser Ziel ist es, den Menschen, die nicht im öffentlichen Dienst stehen, verständlich zu machen, worum es geht. Ich persönlich glaube, solange wir weitermachen, wird die Bewegung sich ausweiten und anwachsen. Die Menschen beginnen nachzudenken. Man muss Widerstand leisten, das ist das einzige, was uns bleibt.

Die Intellektuellen und Soziologen, die in Le Monde Diplomatique schreiben, haben intelligente Lösungen. Ich bin nicht sicher, ob man auf sie hören wird. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass die Gewerkschaften uns angemessen verteidigen. Marc Blondel (Generalsekretär der Gewerkschaft FO), zum Beispiel, forderte keinen unbefristeten Generalstreik, das ist doch nicht normal. Ich bin schon seit dem 25. April im Streik. Denen da oben sind wir doch egal."

Über den Unterschied zwischen der heutigen Demonstration und den Massenstreiks von 1995 äußerte Nadja: "Es ist immer das Gleiche: wir im öffentlichen Dienst können es uns erlauben zu streiken. Das Problem für den privaten Sektor besteht darin, dass sie ungeschützt sind. Ich hoffe, dass unsere Bewegung auch in der Privatwirtschaft ermöglicht, die Beitragszeit wieder auf 37,5 Jahre, wie es bei uns ist, zurückzuschrauben."

Vor einem Jahr, in den französischen Präsidentschaftswahlen von 2002 war es in der zweiten Runde zum Kampf zwischen zwei rechten Kandidaten gekommen: Jacques Chirac und dem Faschisten Jean-Marie Le Pen. Alle linken Parteien und die Gewerkschaften unterstützten Chirac und weigerten sich, eine Kampagne für einen Wahlboykott zu führen. Auf die Frage, was sie darüber denke, antwortete Nadja:

"Ich glaube, man hätte nicht für Chirac stimmen dürfen, man hätte einen leeren Zettel abgeben, die Wahl hätte ungültig werden müssen. Hier sieht man die Fallgruben der Demokratie. Sie ist nicht transparent genug: Ich denke, diese Regierung glaubt heute, sie könne tun, was immer sie wolle, doch tatsächlich stimmte nur eine Minderheit für sie. Jedermann wollte bloß die Republik retten, das ist alles. Das ganze System ist auf die gleichen Parolen der OECD abgestimmt, die Linke wie die Rechte. Lässt man sie machen, wird es bald keinen Unterschied mehr zwischen Links oder Rechts geben. Der IWF und die Weltbank und die OECD werden den Ton angeben."

WSWS -Reporter sprachen auch mit Jean-Pierre Ducos, einem Sachbearbeiter im Steuerwesen, der ebenfalls an der Pariser Demonstration teilnahm. Er kommentierte die Politik von Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin:

"Die Regierung hat wegen Le Pen 82 Prozent erhalten. Wenn Raffarin sagt, die Straße würde nicht regieren, okay, dann sollte er nicht vergessen, dass er regiert, weil die Straße ihn an die Macht gebracht hat. Etwas mehr Bescheidenheit wäre für ihn in dieser Beziehung angebracht, die Angelegenheit sollte schon richtig dargestellt werden. Vielleicht regiert die Straße nicht, aber letzten Endes wählt das Volk. Die Leute haben was zu sagen.

Die Leute sagen, Reformen wären notwendig. Das Problem besteht aber darin, dass die Reformen der Regierung nicht notwendigerweise die richtigen sind. Man sollte auf die Leute hören und die Dinge wieder in Ordnung bringen. Das Problem liegt darin, dass immer die da oben, die Politiker entscheiden. Sie haben den Kontakt zur Bevölkerung verloren. Sie wissen nicht einmal, was ein Baguette kostet. Schau dir mal Juppé an: [Alain Juppé, früherer gaullistischer Premierminister] Er reichte seine Rente ein: Und erhielt sie mit 55 Jahren! Da passt doch was nicht zusammen."

In Amiens sprach ein WSWS -Reporter mit drei jungen Englischlehrerinnen am Gymnasium - Véronique, Juliette und Frédérique - die schon seit einem Monat streiken. Sie kamen gerade aus einer Lehrervollversammlung.

Auf die Frage, warum sie sich im Streik befänden, antworteten sie, sie wollten das Bildungswesen verteidigen, gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen kämpfen und die Verlagerung des Schulhilfspersonals aus dem nationalen Bildungsbereich verhindern. Frédérique fügte hinzu, sie sei dagegen, dass die Allgemeinbildung immer mehr hinter dem Fachwissen zurückstehen müsse, und dass die Schuldirektoren mehr und mehr die Rolle von Managern übernehmen müssten.

Véronique wies vor allem auf die wachsende Arbeitsbelastung hin. "Wir haben noch nichts erreicht", sagte sie. "Wir haben ein Gefühl von Solidarität und diskutieren viel."

Frédérique ergänzte: "Mir sind wirklich die Augen über die Medien aufgegangen. Die manipulieren die Nachrichten, sie verdrehen, sie verschweigen Informationen. Zum Beispiel konzentrieren sie sich auf die Nicht-Streikenden und die ‚guten Streikenden', also die, die so vorgehen, dass möglichst wenig Störungen entstehen, und sicherstellen, dass die Abiturprüfungen stattfinden können. Sie sagen ständig, der Streik würde einschlafen."

Über die Gewerkschaften sagte Véronique: "Am Anfang haben sie die Leute zum Protest ermutigt, aber jetzt bremsen sie die Sache. Sie sind zu zögerlich, wenn es darum geht, unsere Forderungen durchzusetzen und die Aktion zu organisieren."

Juliette fügte hinzu: "Sie haben die Mobilisierung der Basis überlassen, um keinen schlechten Eindruck auf die Öffentlichkeit zu machen."

Auf die Frage, ob es möglich sei, diesen Kampf mit der Chirac-Raffarin Regierung an der Macht zu gewinnen, sagte Juliette: "Ich glaube nicht daran. Vielleicht haben sie uns von Anfang an alle getäuscht, ich bin sehr misstrauisch."

Über die Regierung sagte Frédérique: "Zuerst war ich recht zufrieden, neue Gesichter in der Regierung zu sehen. Raffarin schien mir recht aufgeschlossen zu sein. Nur ein Jahr später stellt sich die Frage seines Rücktritts."

Véronique warf ein: "Ich war nie glücklich mit ihm, weil ich wusste, als Rechter würde er uns nichts Gutes bringen. Ich glaube, wir könnten die Regierung zum Rücktritt zwingen."

"Ich denke, auch in den linken Parteien gibt es eine Menge Leute, die mit dieser Regierung übereinstimmen", sagte Juliette. Und Frédérique fügte hinzu: "Für uns spricht niemand."

Juliette fuhr fort: "Mich stört es, dass Frankreich bloß ein kleines Land ist, und dabei sind die Probleme, mit denen wir's zu tun haben, doch global. Wenn die Regierung zurücktritt, dann kommt das Problem eben zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf. Als so kleines Land sind wir nicht in der Lage dieses Problem allein zu lösen."

Véronique ergänzte: "Die Bewegung muss sich mindestens auf ganz Europa ausweiten. Anderswo ist es ja noch schlimmer als hier."

Siehe auch:
Frankreich: Millionen beteiligen sich an eintägigem Streik gegen Rentenkürzungen
(17. Juni 2003)
Eine politische Strategie zur Abwehr der Angriffe auf die Renten in Frankreich
( 27. Mai 2003)
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