Der Countdown läuft

In acht Monaten wird Polen EU-Mitglied

Am 1. Mai 2004 werden Polen, Zypern, Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, die Slowakei und Slowenien Mitglieder der Europäischen Union. Unter diesen Beitrittskandidaten der ersten Runde ist Polen mit Abstand das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land. Mit seinen über 36 Millionen Einwohnern steht Polen auch in den EU-Gremien eine verhältnismäßig starke Vertretung zu.

Die Osterweiterung der Europäischen Union wurde vor allem forciert, um europäischen Unternehmen den Zugang zu den dortigen Absatzmärkten und billigen Arbeitskräften zu erleichtern, aber auch, um das politische und wirtschaftliche Gewicht Europas in der Welt zu erhöhen. Polen ist der viertgrößte Außenhandelspartner der EU.

In der polnischen Bevölkerung trifft der Beitritt zur EU auf gemischte Gefühle. Viele polnische Arbeiter haben Verwandte in EU-Ländern oder fahren häufig dorthin. Die Grenze zur EU erscheint vielen angesichts ihrer östlichen Nachbarn als Grenze zumindest geringeren Elends. Gerade jüngere Polen haben gewisse Illusionen in Bezug auf einen EU-Beitritt ihres Landes. Bei dem Beitrittsreferendum vom 7. und 8. Juni diesen Jahres stimmten bei immerhin 59% Wahlbeteiligung 77% mit "Ja".

Gleichzeitig wächst allerdings die Zustimmung für die rechtspopulistische Bauernpartei Samoobrona (Selbstverteidigung) und die national-klerikale Liga der polnischen Familien (LPR), die beide einen EU-Beitritt strikt ablehnen und die verbreitete Stimmung gegen die soziale Demontage und die Verarmung breiter Schichten in nationalistische Kanäle lenken. Die poststalinistische Regierungspartei SLD (Bündnis der Demokratischen Linken), die einen konsequenten Europakurs durchgesetzt hat, steht in aktuellen Umfragen dagegen einer Ablehnung von 70% gegenüber.

Die Lage der einfachen Bevölkerung hat sich seit der Wende von 1989 enorm verschlechtert. Dazu trugen in den letzten Jahren insbesondere die Maßnahmen bei, welche die Europäische Union der polnischen Regierung als Bedingung für einen Beitritt diktiert hat. Im März 1998 wurde eine weitreichende Beitrittspartnerschaft beschlossen, bei der Polen bestimmte "Prioritäten" vorgeschrieben wurden. Neben vielen anderen Punkten sollte die Privatisierung abgeschlossen, die Strukturreform von Fischerei und Landwirtschaft vorangetrieben und der Kapitalverkehr liberalisiert werden.

Polens veraltete Industrie und Landwirtschaft ist gegenüber EU-Konzernen nicht konkurrenzfähig. Die anhaltenden Privatisierungen und Rationalisierungen führen zu horrender Arbeitslosigkeit und sozialem Elend. Allein im Kohlebergbau gingen seit der Wiedereinführung des Kapitalismus 250.000 Arbeitsplätze verloren. Die offizielle Arbeitslosenrate hat die 18% längst überschritten. Die Arbeitslosenhilfe ist sehr gering und wird in den wenigsten Fällen überhaupt ausgezahlt. Auch dies ist eine direkte Folge der Privatisierung von Pflege- und Sozialversicherung.

Besonders elend ist die Situation auf dem Land. Während der Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung des Landes gerade einmal 3,3% ausmacht, sind immer noch fast 20% der Beschäftigten in diesem Sektor tätig. Ein Hektar Land wird in Polen von durchschnittlich 26 Personen bewirtschaftet. Damit sind die polnischen Bauern auf dem Weltmarkt niemals konkurrenzfähig. Gleichzeitig drängen günstige und obendrein subventionierte Produkte aus Westeuropa auf den polnischen Markt.

Obwohl in den letzten Jahren im Rahmen der Strukturreformen viele moderne Großbetriebe entstanden sind, besitzen 55% der Betriebe immer noch weniger als 5 Hektar Land. Solche Höfe nutzen 21% der landwirtschaftlichen Fläche. Hingegen teilen die oberen 19% der Betriebe 56% des Bodens unter sich auf. Studien gehen davon aus, dass über die Hälfte (56%) der polnischen Höfe nicht mehr entwicklungsfähig sind, angesichts der EU-Konkurrenz also kurz vor ihrem Ende stehen. Viele Höfe produzieren schon heute nur noch für den Eigenbedarf und stellen für ihre Besitzer die letzte Schranke vor dem blanken Elend dar. Die Strukturreformen treiben Millionen Menschen in den sicheren Ruin.

Die Preise für allgemeine Bedarfsgüter haben sich in den letzten Jahren an die EU-Preise angenähert; die Löhne sind aber auf ihrem niedrigen Niveau geblieben. Eine aktuelle Studie der Wirtschaftsschule und der Universität von Warschau hat erhoben, dass 40% der polnischen Haushalte über ein Einkommen verfügen, das nicht ausreicht, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Jeder vierte Pole lebt unterhalb der offiziellen Armutsgrenze.

Die wechselnden Regierungen in Polen hatten immer große Schwierigkeiten, die unsozialen Maßnahmen gegen die Bevölkerung durchzusetzen. Die Koalition aus der rechten Bündnispartei AWS (Wahlaktion Solidarität) und der liberalen Freiheitsunion (UW), die 1997 die poststalinistische Regierung ablöste, zerbrach schon im Sommer 2000 an Widersprüchen in den eigenen Reihen. Konservative Teile der AWS, die sich vor allem auf bäuerliche Schichten stützten, weigerten sich aus Angst, ihren letzten Einfluss zu verlieren, die Reformen für den EU-Beitritt mitzutragen. Die Auseinandersetzungen konnten auch innerhalb der darauf folgenden AWS-Minderheitsregierung nicht beigelegt werden.

In den Wahlen vom September 2001 verfehlten sowohl AWS als auch UW den Wiedereinzug ins Parlament. Großer Gewinner war die SLD, deren gemeinsame Wahlliste mit der ebenfalls poststalinistischen, wesentlich kleineren Arbeitsunion (UP) auf 41% der Stimmen kam. SLD und UP bildeten eine Koalition mit der gemäßigten Bauernpartei PSL unter Laszek Miller. Die SLD ist die einzige der großen Parteien, die schon lange konsequent für einen EU-Beitritt Polens eintritt.

Die politischen Kreise in Polen, auf die sich die EU bei der Osterweiterung stützen konnte, bestehen zum großen Teil aus kriminellen Elementen der alten stalinistischen Bürokratie. Als Ende der 80er Jahre das politische System in Polen zusammenbrach, machte die Führung der stalinistischen Staatspartei PZPR eine bemerkenswerte Wandlung durch. Aus den alten Bürokraten wurden neoliberale Wendehälse, die beim anstehenden Umbruch nicht leer ausgehen wollten. Sie schleusten sich gegenseitig in die Vorstände der privatisierten Unternehmen, Banken und an die Spitze der wichtigsten Medien und Behörden. So entstanden die sogenannten "roten Direktoren", die heute einen beachtlichen Teil der polnischen Firmen besitzen.

Als die SdRP (später SLD) als Nachfolgerin der PZPR 1993 widergewählt wurde, führte sie ihren neoliberalen Kurs fort, der ja ganz im Interesse ihrer Klientel lag. Gleichzeitig machte sie Gesetze rückgängig, die in der Zwischenzeit von der Solidarnosc-Regierung verabschiedet worden waren und KGB-Kontakte von Politikern aufdecken sollten. Außerdem restaurierte die alte Elite ihre Stellung in den Medienanstalten und Behörden.

Der amtierende Präsident Aleksander Kwasniewski ist die Funktionärsleiter von der stalinistischen Jugendorganisation bis in die obersten Ränge der Partei hinaufgeklettert. 1990 wurde er Vorsitzender der SdRP. Regierungschef Leszek Miller war Sekretär des ZKs der PZPR und galt als stalinistischer Hardliner. Heute sammelt er Stimmen für den Beitritt zur Europäischen Union.

Besonders deutlich wurde der Charakter der amtierenden Regierung angesichts der zahllosen Korruptionsaffären, die allein im letzten Jahr aufflogen. Im Juli 2002 wurde Miller verdächtigt, den Schauspieler Lew Rywin zu Bestechungsversuchen im Umfang von $ 17,5 Millionen angehalten zu haben. Bewiesen wurde das nicht, aber im Verlauf der Untersuchungen und Verhöre wurde immer deutlicher, dass sich die SLD zu erheblichen Teilen aus Leuten zusammensetzt, die sie als Trittbrett für ihre eigene Karriere in der Wirtschaft nutzen wollen. Millers anschließende Kabinettsumbildung konnte das Image seiner Regierung kaum noch aufbessern.

Eine weitere Enthüllung betraf das Gesundheitsministerium. Gesundheitsminister Mariusz Lapinski, sein Stellvertreter Waldemar Deszcynski und der Chef des Gesundheitsfonds Aleksander Naumann hatten bestimmte Pharmakonzerne gegen entsprechende Vergütungen bevorzugt. Lapinski wurde daraufhin entlassen und aus der SLD ausgeschlossen.

Die Verbindungen der Regierungspartei mit kriminellen Elementen wurde in Starachowice noch einmal deutlich sichtbar, als herauskam, dass der SLD-Parlamentsabgeordnete Andrzej Jagiello die von der SLD gebildete Lokalregierung seines Wahlkreises vor einer Aktion der zentralen Polizeibehörde Polens gewarnt hatte. Mitglieder dieser Regierung unterhielten Beziehungen zum organisierten Verbrechen.

Anfang März diesen Jahres ist die Regierungskoalition aus PSL und SLD zerbrochen. Die PSL hatte den Spagat zwischen ihrer bäuerlichen Basis und den immer neuen Angriffen auf die Schwächsten der Gesellschaft nicht mehr ausgehalten. In Umfragen fiel sie immer weiter hinter Samoobrona zurück. Seither führt die SLD eine Minderheitsregierung, die kaum noch Unterstützung innerhalb der Bevölkerung genießt. Die Korruptionsaffären haben den großen Riss zwischen den kriminellen Kreisen an der Spitze der polnischen Gesellschaft und der breiten Masse der Bevölkerung nur noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht.

Der Beitritt zur EU bedeutet für die polnische Bevölkerung keine soziale Sicherheit und keine Demokratie. Er wird von einer korrupten Schicht durchgeführt, die sich in den letzten Jahren auf Kosten der Mehrheit unermesslich bereichert hat. Durch Strukturreformen und Privatisierung werden weitere Millionen Menschen ins Elend gestürzt. Auf der anderen Seite werden die herrschenden Kreise Westeuropas die soziale Lage der polnischen Arbeiter als Hebel benutzen, den Lebensstandard der eigenen Bevölkerung zu drücken. Die Vereinigung der europäischen Staaten ist eine wichtige Grundlage für den Wohlstand der Polen und aller Europäer, aber sie kann nicht von den herrschenden Eliten und der Europäischen Union, sondern nur gegen sie, von einer breiten Bewegung der Bevölkerung erreicht werden.

Loading