Hitzetote in Frankreich: Pflegepersonal hat seit Jahren gewarnt

Die Krise, welche die Hitzewelle in Frankreich im August auslöste, war alles andere als ein Zufall. Jahrelang hatte das Pflegepersonal vor den möglichen Folgen einer Politik gewarnt, die zu Personalabbau, mangelhafter Ausbildung, fehlender Ausrüstung, Krankenhausschließungen und zur Verteuerung von allem führt, was die einfache Bevölkerung zum Erhalt ihrer Gesundheit braucht.

Die Krise brach wenige Wochen vor der geplanten Gesundheits-"Reform" aus, mit der die rechte Regierung von Jacques Chirac und Jean-Pierre Raffarin das Gesundheitssystem, wie es in Frankreich seit Ende des zweiten Weltkriegs bestand, in seinen Grundfesten erschüttern wollen. Es erstaunt daher nicht, dass die Krise bei Pflegekräften und Ärzten, deren Warnungen und Befürchtungen sich tragisch bestätigt hatten, heftige Empörung auslöste.

Die Untätigkeit der Regierung hat unmittelbar und ursächlich zu der hohen Zahl an Hitzetoten beigetragen. Die Regierung ignorierte die Aufforderung, Notmaßnahmen zu ergreifen, als die Todeszahlen in den ersten beiden Augustwochen dramatisch in die Höhe schnellten, und die Minister blieben in den Ferien. Von Chirac, dem Präsidenten, hörte man drei Wochen lang, in denen die Hitze ihre Opfer forderte, nicht ein Wort. Als die Regierung schließlich aus dem Urlaub zurückkehrte und sich durch die wachsende öffentliche Empörung zum politischen Handeln genötigt sah, gab sie erst einmal der Bevölkerung die Schuld, um von ihrer eigenen Verantwortung für die Katastrophe abzulenken.

Auch zwei Wochen nach der größten Augusthitze weigerte sich die Regierung immer noch, öffentlich Zahlen zu nennen, und behauptete, es seien keine halbwegs zutreffenden Schätzungen zu bekommen. Darauf folgte ein Polemik, die über eine Woche dauerte, wie viele Tote nun wirklich der Hitze zum Opfer gefallen seien. Viele Ärzte, Gesundheitsdienste und Bestattungsunternehmen kritisierten den Umgang der Regierung mit der Statistik und beschuldigten sie, die Auswirkungen der Krise herunterzuspielen.

Als Raffarin am 23. August die Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Paris eröffnete, wurde er massiv ausgebuht und ausgepfiffen. Endlich, am Freitag den 29. August - als sich die Leichen schon in provisorischen Kühlzelten stapelten - gab die Regierung zu, dass in Frankreich allein in der ersten Augusthälfte über 11.000 Menschen wegen der Hitzewelle gestorben waren.

Während der beiden letzten Augustwochen hatten Chirac und Raffarin die Linie ausgegeben - die gegen jeden vernünftigen Augenschein von den meisten Medien nachgeplappert wurde - dass "jedermann verantwortlich" sei. Die "Lehre aus der Hitzewelle" bestehe darin, dass es den Franzosen grundlegend an Solidaritätsgefühl mangele. Um diese Behauptung zu untermauern, wurde von Regierungsbeamten und Medien ein großer Rummel um Leichen gemacht, die nicht von Angehörigen abgeholt wurden und in namenlosen Armengräbern bestattet werden mussten. Zynisch wurde damit begründet, wie wichtig es sei, dass jedermann "sich solidarisch mit den Alten" erweise.

In Wirklichkeit steht die Altenpflege in Frankreich nicht erst seit gestern unter Kritik. Seit vielen Jahren kämpft das Pflegepersonal gegen die Angriffe auf das öffentliche Gesundheitswesen. Von 1988 - als das Krankenhauspersonal einen der größten Streiks der Nachkriegsgeschichte organisierte - bis 2003 kam es immer wieder zu Streiks und Demonstrationen gegen Haushaltskürzungen, Krankenhausschließungen, Streichungen bei Pflegediensten und ärztlichen Hilfsmitteln und gegen die Weigerung sowohl "linker" wie rechter Regierungen, in das Gesundheitswesen zu investieren, sowie gegen Pläne, die Pflegedienste zu privatisieren.

Klinikpersonal und Ärzte haben unaufhörlich vor den Auswirkungen des allgemeinen Verfalls des Gesundheitswesens gewarnt und die Gefahren aufgezeigt, die er für die Bevölkerung beinhaltet. Allein in den letzten vier Jahren gab es zahlreiche Protestaktionen gegen diese Angriffe von fast allen im Gesundheitswesen Tätigen - Krankenschwestern, leitenden Ärzten, Hausärzten, Fachärzten und ganzen Klinikbelegschaften. Sie wurden von den verschiedenen Regierungen stereotyp beschuldigt, aus egoistischen Motiven oder Standesinteresse zu handeln und die Sorgfaltspflicht für die Patienten zu verletzten. In jedem der letzten vier Jahren kam es zu großen Demonstrationen und Streiks, in denen das Krankenhauspersonal entweder alleine oder als Teil des öffentlichen Dienstes kämpfte.

Auch dieses Jahr beteiligte sich das Personal vieler Krankenhäuser im Mai und Juni an der massiven Streikbewegung gegen die Angriffe auf die Renten und gegen die Pläne der Regierung, einen neuen "Krankenhausplan" durchzusetzen, der auf die Privatisierung der Krankenhäuser abzielt.

Am 18. Juni riefen die 16 für Altersheime zuständigen Berufsorganisationen Frankreichs zu einer eintägigen Protestaktion gegen die Seniorenpolitik der Regierung auf. In einem gemeinsamen Kommuniqué erklärten sie ihre Aktion: "Wir (die Einwohner, Familien und Heimleitungen) sind nicht bereit, eine soziale Absicherung zweiter Klasse zu akzeptieren, und wir wollen nicht länger warten: Unsere Generation hat die Sozialversicherung (französische Krankenversicherung) nicht nur für die Jungen, Reichen und Kranken geschaffen, sondern auch für die Alten, die Armen und Behinderten.... denn wir wollen eine Solidarität in der Gesellschaft, die ihre Senioren in den Altenheimen nicht vergisst..."

Raffarin bereitet weitere Angriffe vor

Die Raffarin-Regierung benutzt nun die Krise, um noch üblere Angriffe auf das öffentliche Gesundheitswesen einzuleiten. Am 26. August lud Raffarin eine Reihe Vertreter der Gesundheits- und Altenpflegedienste zu Gesprächen in den Matignon (die Residenz des Premierministers) ein, um die Krise zu diskutieren, ohne jedoch irgendwelche zusätzlichen Gelder zu bewilligen oder auch nur zu erwähnen. Vor dem Treffen hatten die Leiter der Pflegeheime einen "Marshall-Plan" für die Senioren gefordert, der sieben Milliarden Euro zusätzlich bereitstellen sollte. Stattdessen kündigte Raffarin am Ende der Gespräche an, er beabsichtige, einen öffentlichen Feiertag zu streichen, um Geld für die Altenvorsorge aufzubringen!

Obwohl diese Ankündigung massive öffentliche Empörung hervorrief, konzentrierte sich die "Debatte" in den Medien ganz auf die Frage, welcher öffentliche Feiertag geopfert werden solle. Sollte es der 8. Mai (der Feiertag zum Sieg über Nazi-Deutschland), der 11. November (Erinnerung an das Kriegsende von 1918) oder der Pfingstmontag sein? Letzteres wurde sofort von der katholischen Kirche begrüßt, die versicherte, dass es keine "theologischen" Einwände dagegen gäbe, den Pfingstmontag zu opfern. Der Vorsitzende des Unternehmerverbands Medef, Ernest-Antoine Seillières, meldete sich von der alljährlichen Medef-Sommerkonferenz in der Nähe von Paris, um der Regierung zu gratulieren. Er erklärte, dies sei "hervorragend", denn um die Probleme zu lösen, müssten "die Menschen in Frankreich mehr arbeiten".

Abgeordnete der rechten UMP gingen noch weiter und erklärten, Frankreich habe sowieso die höchste Zahl an öffentlichen Feiertagen von ganz Europa (was nicht stimmt), und der frühere Premierminister Edouard Balladur forderte sogar, zwei Feiertage zu streichen. Raffarin argumentierte, ein solcher Schritt sei auch in Deutschland schon gemacht worden und sei ganz normal. In Wirklichkeit war in Deutschland der Versuch, zugunsten der Pflegeversicherung einen öffentlichen Feiertag zu streichen, 1995 vehement, wenn auch erfolglos, von den Beschäftigten bekämpft worden. Heute fordern Unternehmer die Streichung weiterer Feiertage, auch unabhängig von der Frage der Altenvorsorge - einfach weil die Menschen für das gleiche Geld mehr arbeiten sollen.

Die Ankündigung der Regierung, einen Feiertag zu streichen, wurde von den Unternehmern als klares Signal verstanden, dass ihre Forderungen nach mehr Arbeit für weniger Geld endlich Gehör findet und alle bürokratischen Barrieren, die einer Erhöhung der Arbeitszeit im Wege stehen, bald weggeräumt werden. Schon auf den von Ärzten erhobenen Vorwurf der Nachlässigkeit hatten einige Minister reagiert, in dem sie die von der Vorgängerregierung eingeführte 35-Stundenwoche für das Desaster verantwortlich machten. Gegen alle Tatsachen behaupteten sie, diese Maßnahme habe die Krise ausgelöst, weil sie zur Reduzierung des Krankenhauspersonals geführt habe.

Die parlamentarische Opposition (Sozialistische Partei, Kommunistische Partei, Grüne) sowie die meisten Gewerkschaften protestierten lauthals gegen Raffarins Pläne oder reagierten mit ironischen Kommentaren, wie ein Ortsverband der Gewerkschaft Force Ouvrière, der vorschlug, Weihnachten nur alle vier Jahre zu feiern, vorausgesetzt, der Medef stelle fest, dass Christus am 29. Februar geboren sei. Auf diese Weise sollte die öffentliche Empörung gegen die Regierung aufgefangen werden. Einige oppositionelle Abgeordnete forderten, wie in solchen Fällen üblich, eine parlamentarische Untersuchungskommission über die Handhabung der Hitzekrise, der die UMP-Abgeordneten nach einigem Zögern Ende August zustimmten.

Die Gewerkschaften sind nicht grundsätzlich gegen Maßnahmen, wie sie die Regierung vorschlägt, und haben sich immer wieder bereit gezeigt, über Angriffe auf Renten und Gesundheitsversorgung zu diskutieren. Die jetzt vorgeschlagene Maßnahme hat die Regierung sogar schon vor der Hitzewelle mit mindestens einer Gewerkschaft diskutiert: mit Force Ouvrière. Laut Agence France Presse hatte der FO-Sekretär Marc Blondel erklärt, der Premierminister habe ihm gegenüber "die Idee erwähnt, ‚einen Tag umsonst zu arbeiten und den Ertrag den Behinderten zu geben’, eine Idee, die ihm von (Gesundheitsminister Jean-François) Mattei vorgeschlagen worden war".

Für die Raffarin-Chirac-Regierung ist die Krise keineswegs überstanden. Am 2. September gab Raffarin bekannt, er werde die Gesundheits-"Reform" auf Oktober 2004 verschieben. Der Premierminster war sichtlich erstaunt über das Ausmaß der Empörung, die ihm im August ins Gesicht geschlagen war, und die Prügel, die sein Gesundheitsminister hatte einstecken müssen.

Ein Teil dieser geplanten "Reform" besteht in dem Projekt, Krankenhäuser und Altersheime nach "amerikanischem Modell" für privates Kapital zu öffnen. Zu dem Zweck sollen Veränderungen in Struktur und Management der Krankenhäuser vorgenommen werden, um sie gemäß marktwirtschaftlichen Kriterien zu führen. Ein blühender privater Gesundheitsmarkt hat sich bereits entwickelt und dehnt sich so schnell aus, dass einige private Anbieter jetzt an der Pariser Börse gehandelt werden.

In einem Interview mit dem Figaro erklärte Christophe Fernandez, der Leiter der Französischen Vereinigung für Rentnerschutz (Afpap): "Ich möchte Sie daran erinnern, dass Orpea und Medidep (zwei private Pflegedienstanbieter) an der Börse gehandelt werden und auf einem Markt operieren, der schnell expandiert, dem des ‚grauen Goldes’. Der Umsatz von Medidep ist im ersten Quartal 2003 um 41 Prozent gestiegen."

Siehe auch:
Frankreich: Über 10.000 Tote in Rekordhitzewelle
(23. August 2003)
Hitzetote in ganz Europa
( 5. September 2003)
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